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2. Geschichtlich gewordene Vielfalt

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Die mit der Rede vom „christlichen Abendland“ beschworene Vergangenheit freilich stellt in der historischen Rückschau alles andere als eine geschlossene Einheit dar. Zu keiner Zeit war Europa ein sprachlich, kulturell, rechtlich oder auch religiös homogener Raum.11 Die Erinnerungen der europäischen Völker und Nationen markieren eine schier unüberschaubare Vielfalt historischer Erfahrungen, die zuweilen bis in das frühe Mittelalter zurückreichen. Diese Vielfalt ergibt erst dann so etwas wie eine „gesamteuropäische Geschichte“, wenn die einzelnen Narrative aus einem zeitlichen Abstand heraus betrachtet und miteinander synchronisiert werden. Erst dann zeigt sich in und jenseits aller Vielfalt womöglich ein Gemeinsames und Verbindendes. Dessen gehaltvolle Bestimmung aber ist immer schon bestimmt von methodischen und inhaltlichen Vorentscheidungen.

Selbstverständlich gibt es auch gesamteuropäische Erinnerungen. Hierzu zählen die ausgedehnten Migrationsbewegungen in Spätantike und frühem Mittelalter („Völkerwanderungen“), die kriegerischen Auseinandersetzungen auf der Iberischen Halbinsel („reconquista“) und auf dem Balkan, die Kreuzzüge innerhalb und außerhalb Europas, die Pestepidemien des 14. Jahrhunderts, aber auch die Konfessionskriege, die Französische Revolution oder die Industrialisierung – um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Immer jedoch lassen sich Regionen in Europa identifizieren, für die solche Erinnerungen keine oder doch nur eine geringe Rolle spielen. Dies gilt selbst für die Reformation oder die Aufklärung. Deren Auswirkungen auf die Herausbildung einer europäischen Identität werden zwar bis heute vielfach beschworen; in Südeuropa aber fanden weder Reformation noch Aufklärung jenen Wiederhall, der ihnen in der Mitte und im Norden Europas zuteil wurde.

Wenn individuelle oder kollektive Identitäten die Kontinuität von Erinnerungen voraussetzen, dann sind sie immer auch an deren sprachliche oder mediale Vermittlung geknüpft. Schon insofern ist die vor-neuzeitliche Geschichte Europas unausweichlich durch Pluralität gekennzeichnet. Zwar lieferte die lateinische Sprache der Kirche und der Wissenschaften eine tragfähige Grundlage für einen europaweiten Austausch von Wissen und Bildung. Doch erfasste dieser nur eine verschwindend kleine Gruppe von Intellektuellen. Die bis zur Reformation ausschließlich in lateinischer Sprache gefeierte Liturgie wurde von den „Laien“ – den illiterati oder idiotae – vorrangig als ein ästhetisch-religiöses Ereignis, nicht aber als ein gemeinsamer Kommunikationsraum wahrgenommen. Unterschiedliche Mundarten, Dialekte, Sprachen, aber auch unterschiedliche Kulturen und Symbolsysteme waren über Jahrhunderte in Europa keine Ausnahme, sondern die Regel.

Und die Religion? Die Rede von einem „christlichen Abendland“ immerhin scheint eine religiöse Einheit nahzulegen – wenigstens für die europäische Vergangenheit. Verbindet sich doch gerade mit dem Christentum nicht selten die sozialromantische Vorstellung von einer kulturell homogenen Gesellschaft, die, im Glauben geeint, anstehende Herausforderungen gemeinsam zu bestehen imstande und auch willens war.12

Doch entbehrt auch diese Vorstellung jeder historischen Grundlage. Denn nicht erst seit der Reformation zeigt sich das Christentum in Europa vielgestaltig, teils sogar zutiefst gespalten. Weit über die Spätantike hinaus stellte der Arianismus für die Anhänger des nizänischen bzw. „katholischen“ Bekenntnisses eine ernstzunehmende theologische und kirchenpolitische Herausforderung dar. In den antitrinitarischen Bewegungen der frühen Neuzeit – wie etwa den Sozinianern – fand er eine wenngleich späte und überschaubare Resonanz. Dualistische Bewegungen im Mittelalter wie die der Patarener, der Bogumilen oder der Katharer verstanden sich selbst als christlich; gleiches gilt selbstverständlich für die Hussiten. Nicht um Glaubensfragen, wohl aber um religiöse Obödienzen wurde im sog. „Großen Abendländischen Schisma“ gestritten, das die europäische Christenheit im 14. und 15. Jahrhundert entzweite. Vor allem aber die Präsenz von Juden in fast ganz Europa sowie die von Muslimen in Süditalien, auf der Iberischen Halbinsel und auf dem Balken entlarvt die Idee von einem „christlichen Abendland“ als historische Fiktion.

Gleichzeitig wurde Vielfalt in Europa – religiöse Vielfalt zumal – nur selten als Bereicherung wahrgenommen. Meist galt sie als ein zu überwindendes Übel. Auf dessen Überwindung zielten gewaltsame Maßnahmen wie Kriege, Kreuzzüge oder Vertreibungen. Wiederholt wurden die Juden aus ihrer Heimat vertrieben – so etwa 1290 aus England, 1394 aus Frankreich, 1492 aus Spanien und 1496 aus Portugal. Die Zeit der „convivencia“ von Juden, Christen und Muslimen in Spanien bliebt eine seltene Ausnahme, die in der Rückschau nicht selten idealisierend verklärt wird. Die Kreuzzüge, die Papst Innozenz III. im 13. Jahrhundert nicht etwa gegen Muslime, sondern gegen die Albigenser führte, die Hussitenkriege im 15. Jahrhundert oder die Pogrome gegen die Hugenotten in Frankreich (1572 „Bartholomäusnacht“) illustrieren, dass von einem einigen oder geeinten „christlichen Abendland“ keine Rede sein kann. Und dies nicht einmal nach außen hin: im 17. Jahrhundert unterstützte das katholische Frankreich die muslimischen Osmanen in deren Kampf gegen die katholischen Habsburger. Einerseits lassen sich in zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen der frühen Neuzeit politische und religiöse Motive kaum voneinander trennen. Andererseits dominierte bisweilen eine politische Pragmatik ungeachtet aller konfessionellen oder religiösen Differenzen.

Als Europa im Zuge der weltweiten Expansion ein wachsendes Bewusstsein seiner selbst entwickelt, war es in politischer wie in konfessioneller Hinsicht alles andere als eine politische oder religiöse Einheit. Die katholischen Portugiesen und Spanier eiferten mit den protestantischen Niederländern und Engländern um Handelsplätze und Rohstoffquellen in Übersee. Zwar beherrschte in Europa das Christentum weiterhin viele Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens. Doch sahen sich Vertreter aller Konfessionen seit dem 17. Jahrhundert zunehmend dazu genötigt, ihren jeweiligen Wahrheitsanspruch nicht nur voreinander, sondern auch gegenüber rationalistischen und religionskritischen Positionen zu rechtfertigen.

Bisweilen wird in der sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Vielfalt in Europa die Triebfeder jener Dynamik gesehen, welche in der Neuzeit die kulturelle und ökonomische Entwicklung ebenso beflügelt hat wie die Entfaltung der Wissenschaften und der Technologien. Wenn Unterscheidungen Vielfalt ermöglichen, so gilt dies auch für die Unterscheidungen zwischen Gott und Welt, zwischen regnum und sacerdotium, zwischen Herrschaft und Heil. Diese sich spätestens seit der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts profilierenden Unterscheidungen wurzeln in der Mitte des Christentums. „Gerade aus der Tradition des christlichen Abendlandes kommen daher kulturell wirksame Momente, die Pluralität und Konvivenz ermöglichen“, so etwa der evangelische Theologe Michael Nüchtern.13

Tatsächlich scheint die Erfahrung von Unterschieden und Vielfalt, von Differenz und Pluralität in Europa nicht etwa die Angst vor dem Unbekannten, sondern vielmehr die Neugier auf das noch Unerforschte geweckt zu haben.14 Eine ursprünglich in Theologie und Philosophie beheimatete „Dynamik des Möglichen“15 brach sich im europäischen Kolonialismus ebenso Bahn wie in den Entdeckungen der Naturwissenschaften oder in der industriellen Revolution. In der frühneuzeitlichen Emblematik wurde das sich unablässig um eine statische Achse drehende Schicksalsrad durch das Bild des von sturmgeschwellten Segeln vorwärts getriebenen Schiffes ergänzt, teils sogar ersetzt.16 An die Stelle einer unaufhörlichen Wiederkehr des Gleichen tritt bei Kaiser Karl V. (1500–1558) der Leitspruch des „immer weiter“ (plus ultra): jenseits der Säulen des Herkules gilt es, für Europa – oder doch wenigstens für das Reich der Habsburger – eine „neue Welt“ zu erobern.

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