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1. „Verschiedenheit“ als Modewort

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„Verschiedenheit“ ist zu einem häufig gebrauchten Schlagwort geworden. Dieses Schicksal teilt der Begriff mit anderen Wendungen, die den positiven Wert von Vielfalt zum Ausdruck bringen. Dabei treten solche Begriffe, die eine bloße Tatsache beschreiben, zugunsten solcher Begriffe in den Hintergrund, die den gleichen Inhalt zum Ausdruck bringen, aber eine positive Bedeutungsfärbung haben. So verdrängt der positiv konnotierte Begriff „Pluralismus“ den eher neutralen Begriff „Vielfalt“. Auf der anderen Seite werden historische Narrative, die ursprünglich eine eher neutrale Bedeutung haben, zunehmend durch negativ konnotierte Begriffe in den Hintergrund gedrängt. Ein Beispiel hierfür ist das Zurücktreten des eher neutralen Begriffs „Kolonisierung“ zugunsten des eindeutig negativ konnotierten Begriffs „Kolonialismus“. Umgekehrt fehlt es im heutigen Sprachgebrauch nicht an Adjektiven, die etwas Einheitliches – das Gegenteil also von Vielfalt und Verschiedenheit – gering schätzen. Ein Beispiel hierfür ist der überwiegend negativ konnotierte Begriff „monolithisch“.

„Verschiedenheit“ ist vermutlich kaum mehr als das vorläufig letzte einer Vielzahl von Schlagworten, die einen kontinuierlichen Strom bilden. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der US-amerikanische Philosoph William James (1842–1910) den Begriff „Pluralismus“ im Sinne eines allgemeinen Prinzips aufgefasst.2 In jüngerer Zeit haben andere – darunter der deutsche Philosoph Odo Marquard (1928–2015) – den Begriff „Polytheismus“ als Symbol für gesellschaftliche Verhältnisse beansprucht, in der das Individuum frei wählen kann, was ihm oder ihr „heilig“ ist.3 Marquard folgt damit dem deutschen Soziologen Max Weber (1864–1920), insofern dieser Werte metaphorisch als „Götter“ bezeichnet hatte.4

Begriffe wie „Pluralität“ oder „Pluralismus“ wurden frühestens im 18. Jahrhundert geprägt. Bei Immanuel Kant (1724–1804) beispielsweise ist „Pluralismus“ der Gegenbegriff zu „Egoismus“ und meint das Bewusstsein, ein Weltbürger zu sein.5 Das gegenwärtige Verständnis von „Pluralität“ oder „Pluralismus“ reicht kaum mehr als einige Jahrzehnte zurück.

Gleichwohl kann die Vorstellung, die diese Begriffe zum Ausdruck bringen, mindestens bis zur Amerikanischen Revolution zurückverfolgt werden. So liest man beispielsweise bei James Madison (1750/1–1836), einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika: „Wenn Menschen ihre Vernunft nüchtern und frei auf eine Vielfalt unterschiedlicher Fragen anwenden, dann gelangen sie diesbezüglich unvermeidlich zu einer Vielfalt unterschiedlicher Ansichten. Wenn sie aber durch eine gemeinsame Leidenschaft beherrscht sind, dann werden ihre Meinungen – wenn sie denn überhaupt so bezeichnet werden sollten – dieselben sein“.6 Dies klingt erstaunlich; denn näherliegend erscheint ja das genaue Gegenteil: wenn sich Menschen nüchtern über irgendetwas verständigen und wenn sie ihre Leidenschaften zügeln, dann sollten sie doch in der Lage sein, die gleichen Schlussfolgerungen zu ziehen. Madison hingegen betrachtet Leidenschaften als etwas, das eine tumbe Masse einem gemeinsamen Ziel entgegentreibt. Die Vernunft hingegen eröffnet ein breites Spektrum möglicher und gleichwertiger Optionen.

Das früheste Zeugnis für eine derart positive Einschätzung von Verschiedenheit ist womöglich jene Beschreibung, die Platon von der demokratischen Polis liefert. Diese vergleicht Platon mit einem Laden, in dem es alles zu kaufen gibt (Παντοπώλιον) – einer Art „Supermarkt“ also.7 Platon war weit davon entfernt, der Demokratie den Status der bestmöglichen Herrschaftsform einzuräumen. Ganz im Gegenteil: in der Alten Welt war „Demokratie“ zwar kein Schimpfwort im strengen Wortsinn; allerdings schaute man auf sie gleichsam von oben herab. Wie auch Aristoteles betrachtete Platon die Demokratie als die schlechteste unter den guten und als die beste unter den schlechten Herrschaftsformen.8 Weit verbreitet war die Vorstellung, dass nicht die Demokratie, sondern die Aristokratie die beste Herrschaftsform sei – was begrifflich übrigens eine Tautologie ist, insofern das Wort „Aristokratie“ mit „Herrschaft der Besten“ übersetzt werden kann.

Der erste Schriftsteller, der den Begriff „Demokratie“ positiv konnotiert gebrauchte, war vermutlich der Historiker Polybios im 2. Jahrhundert v. Chr.9 Bei Polybios meint δημοκρατία eine Herrschaftsform, die traditionelle Werte achtet und sich dadurch von den wankelmütigen Launen der Masse (ὀχλοκρατία) absetzt.

Wie auch immer: unsere heutigen Gemeinwesen ähneln zunehmend jenen gesellschaftlichen Verhältnissen, die Platon ironisch als einen bunt zusammengewürfelten Flickenteppich von Interessen und Charakteren beschrieben hat. Aber dieser Zustand wird heutzutage als positive Eigenschaft gewertet. Verschiedenheit kann nicht vermieden werden, und vielleicht sollte sie es auch gar nicht. Denn Verschiedenheit wird als Reichtum betrachtet – oder doch zumindest als ein Weg, der dazu führt. Die Achtung vor der Verschiedenheit erstreckt sich heute sogar auf nichtmenschliche Bereiche. So gilt etwa „Biodiversität“ als etwas, das um jeden Preis bewahrt werden muss. Jedes Verschwinden einer Art wird als Katastrophe empfunden, ja sogar als Verbrechen, wenn dafür tatsächlich oder auch nur wahrscheinlich menschliche Technik verantwortlich ist.

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