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DIRK ANSORGE

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„In Vielfalt geeint“ (unitas in pluralitate) lautet der Leitspruch der Europäischen Union; die Formulierung wurde im Jahr 2004 auch in den Entwurf für einen europäischen Verfassungsvertrag aufgenommen.1 Demnach will die Europäische Union kein melting pot unterschiedlicher Sprachen, Traditionen, Religionen und Kulturen sein, sondern eine Einheit, die Vielfalt zulässt, ja womöglich sogar fördert.2

Doch hat diese Zielvorstellung in den zurückliegenden Jahren unter dem Druck von Finanzkrisen, wirtschaftlicher Rezession und dem Zustrom von Flüchtlingen aus Dürre- und Kriegsgebieten erheblich an Strahlkraft eingebüßt. Die drängenden Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mobilisieren nicht die Europäische Union als überstaatliche politische Einheit; vielmehr agieren die Mitgliedsstaaten zunehmend in nationalem Interesse. Europaskeptiker erzielen bei Wahlen auf regionaler wie auf nationaler Ebene erhebliche Stimmenanteile. Im Juni 2016 entschied sich eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt aus der europäischen Union. Unaufhaltsam scheinen jene Ideale und Werte zu erodieren, die nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs Persönlichkeiten wie Robert Schuman, Alcide De Gasperi und Konrad Adenauer dazu bewegten, auf einen europäischen Staatenbund hinzuwirken.

Eingedenk der unleugbaren Erfolgsgeschichte der Europäischen Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg fällt es schwer, eine Antwort auf die vielschichtigen Herausforderungen der Gegenwart von einer Hinwendung zu partikulären Nationalismen zu erwarten. Denn Nationalismen erscheinen angesichts der vielfältigen Herausforderungen einer zunehmend globalisierten Welt unweigerlich anachronistisch. An ihrer Stelle gälte es, politische, kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt als Reichtum zu würdigen und nicht als Belastung oder gar als Bedrohung tatsächlicher oder vermeintlicher Identität. Erst dann wäre der Schritt von einer „pluralen“ zu einer „pluralistischen Identität“ Europas vollzogen.

Der Begriff „Pluralismus“ reicht über den Begriff der „Vielfalt“ hinaus. Für den Bereich des Rechts und des Sozialen stellt er fest, dass es in Gesellschaften unterschiedliche Individuen und Gruppen gibt, deren Weltsicht und Interessen aufeinander irreduzibel sind. In einem normativen Verständnis geht „Pluralismus“ davon aus, dass gesellschaftliche Vielfalt ein erstrebenswertes Gut ist, insofern sie Alternativen zur je eigenen Weltsicht anbietet und zur Diskussion stellt. In modernen Demokratien sind solche Alternativen und Diskussionsforen konstitutionell verankert und institutionell gewährleistet.3

Pluralismus führt aber in einer Gesellschaft nur dann nicht zu politischen Konflikten und sozialen Verwerfungen, wenn es eine gemeinsame Grundlage gibt, auf die sich die unterschiedlichen Gruppierungen verständigen können. Worin könnte in der Europäischen Union eine solche gemeinsame Grundlage bestehen? Was macht – bei aller Diversität und Pluralität – die Einheit Europas und seine Identität aus?4

Die in diesem Buch versammelten Beiträge wollen Hinweise geben, wie diese Fragen womöglich zu beantwortet sind. In ihrer thematischen Breite sind sie Ausdruck und Abbild jener Komplexität, welche die Geschichte und die Gegenwart Europas, seiner Völker, Nationen und Staaten, auszeichnet. Zu Wort kommen Historiker, Philologen, Philosophen und Theologen, darunter jüdische, christliche und muslimische Autoren. Sieben Beiträge wurden im Wintersemester 2015/16 im Rahmen einer Ringvorlesung der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main zur Diskussion gestellt.5 Zeitnah haben sich weitere Autoren dazu bereitgefunden, mit ihren Beiträgen die vielschichtige Thematik der Ringvorlesung zu ergänzen, ohne dass damit ein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden wäre.6

Pluralistische Identität

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