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Grenzen des Respekts – von kultureller Differenz zu Rahmenbedingungen kultureller Koexistenz

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Der Multikulturalismus hat den Euro- und Ethnozentrismus überwunden, aber er hat zugleich auch zu einer Relativierung von Werten geführt. Führt die Politik der Anerkennung in die Sackgasse des Relativismus? Bedeutet Anerkennung des Anderen und Fremden die Aufgabe eigener Grundsätze, Werte, Traditionen? Angesichts der Gefahr der Auflösung eigener Traditionen und Werte kann das Verhältnis zur eigenen Kultur die Gestalt eines fundamentalistischen Bekenntnisses annehmen. Drohender Werteverlust kehrt sich dann um in Wertsteigerung, aus ‚kulturellen‘ Werten werden ‚religiöse‘ Werte, aus Kulturen werden Religionen. Während im Westen das religiöse Bekenntnis in der Folge von Aufklärung und Säkularisierung als Anker der Identität zurückgegangen ist, hat sich dieses Bekenntnis immer stärker auf die ‚westlichen Werte‘ verlagert. Die Religion des Westens ist nicht mehr das Christentum, sondern das Bekenntnis zu universalistischen Werten. Unter diesem Vorzeichen droht ein ‚Kampf der Kulturen‘ bzw. ein Konflikt zwischen der westlichen Kultur und dem Rest der Welt.

Aus dieser Sackgasse führt ein Weg heraus, wenn wir zwischen Kultur und Zivilisation unterscheiden (und dabei diese Begriffe von früheren Bedeutungszuschreibungen lösen). Kultur soll hier für das stehen, was Menschen voneinander unterscheidet. Diese Differenzen haben einen Anspruch darauf, affirmiert, anerkannt und geachtet zu werden, denn sie sind Grundlage für kulturelle Identitäten. Wie Tiere in Biotopen, so leben Menschen in kulturellen Symbolsystemen; sie zu negieren oder zu zerstören hieße, sozialen Zusammenhang, Orientierung und Sinn zu zerstören. Wie die Sprachen sind kulturelle Symbolsysteme kollektive menschliche Schöpfungen; das jeweilige kulturelle Gedächtnis ist in langfristig gewachsenen Strukturen angereichert mit kumulierten Erfahrungen und individuellem Erfindungsgeist. Durch Interaktion mit immer neuen Generationen verändern und erneuern sich kulturelle Traditionen. Kultureller Respekt bezieht sich auf die Anerkennung von Kulturen als grundsätzlich gleichberechtigte Formationen – Jurij Lotman sprach von Semiosphären –, die nicht durch politische oder ökonomische Unterdrückungssysteme wie Kolonialismus oder Globalisierung infrage gestellt werden dürfen.

Der Begriff Zivilisation kann demgegenüber für jene Werte und Praktiken stehen, auf die sich Menschen über ihre kulturellen Bindungen hinaus einigen können. Es handelt sich dabei um universalistische Grundwerte wie körperliche Integrität und Entwicklungsmöglichkeiten der Person unabhängig von Status und Geschlecht, die in der Prämisse der Würde des Menschen verankert sind. Die Entdeckung dieser Prämisse ist kein westliches Monopol; sie kann christlich oder aufklärerisch, aber auch auf der Basis anderer kultureller Semantiken begründet werden. Sie ist deshalb von diesen historischen Ursprüngen zu lösen und als ein Anspruch zu formulieren, den sich unterschiedliche Kulturen und Gesellschaften aneignen und an dem sie sich messen lassen müssen. Dieser Wert gewinnt aber an universaler Bedeutung erst in der Form der Aushandlung und mühsamen Durchsetzung. Diese universalistischen Werte sind kein Eigentum westlicher Kultur, sondern bilden die Rahmenbedingung für die Koexistenz von Kulturen überhaupt. Sie sind das, was Kulturen überschreitet und zugleich verortet, und damit das, was ihr Zusammenleben in einer Welt ermöglicht.

Toleranz - schaffen wir das?

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