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Wahr ist, was uns verbindet Das Konzept „Achsenzeit“, ein Ansatz kultureller Toleranz.
ОглавлениеDer traditionelle Eurozentrismus, der bis heute in manchen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Formen des Umgangs mit außereuropäischen Kulturen wirksam ist, ist mit kultureller Intoleranz verbunden, die sich aus einem europäischen Überlegenheitsgefühl speist und nur sieht, was den anderen fehlt anstatt was uns mit ihnen verbindet. Den entschiedensten Protest gegen diese europäische Überheblichkeit hat im 18. Jahrhundert der Indologe und Iranist Anquetil-Duperron vorgetragen. Er wies nach, dass sich die geistige Revolution, die sich im 6. und 5. vorchristlichen Jahrhundert im Westen ereignete und die geistigen Fundamente Europas legte, gleichzeitig und in ganz entsprechender Richtung in Persien, Indien und China ereignet hat. In seinen Augen handelte es sich hier um eine Revolution der gesamten Menschheitsgeschichte.1
Die wichtigste Folgerung, die Anquetil aus seiner Beobachtung dieser Gleichzeitigkeit zog, war seine These von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Kulturen, die er in seinem zweiten Buch Législation Orientale (Orientalische Gesetzgebung) entwickelte.2 Hier vertrat Anquetil einen kosmopolitischen Egalitarismus3 und erwies sich als eingeschworener Gegner von Eurozentrismus, Sklavenhandel und Kolonialismus4. Für ihn gab es keine Hierarchie unter den Kulturen und nicht die geringste Rechtfertigung für den europäischen Anspruch, andere Völker und Stämme als unzivilisiert und als Objekt von Eroberung, Kolonialisierung und Ausbeutung zu betrachten. Er forderte eine Entflechtung von Handel, Politik und Forschung und die Einrichtung einer „reisenden Akademie“, d. h. von wissenschaftlichen Auslandsinstituten, wie sie dann im 19. Jahrhundert von den größeren Nationen tatsächlich gegründet wurden, auch wenn diese Forschungen dann nicht unbedingt auf Augenhöhe mit den erforschten Kulturen und ganz unabhängig von kolonialistischen Interessen stattfanden.
Für ihn war Europa nur der westliche Teilnehmer an einem großräumigen Ereignis, dessen andere Vertreter – Zarathustra und Konfuzius – in ihrem eigenen kulturellen Kontext betrachtet und keineswegs nach europäischen Maßstäben beurteilt wurden, um ihnen dann aufgrund dieser Maßstäbe Gleichrangigkeit mit Europa, d. h. abendländischer Philosophie zu bescheinigen. Anquetils Begriff von Gleichrangigkeit war weiter und offener als spätere Vertreter seiner Theorie, offen für die Anerkennung von Überlegenheit in Punkten, in denen Europa zurückblieb oder falsche Wege ging.
180 Jahre später, nachdem Anquetils Beobachtung einer globalen geistigen Wende um 500 v. Chr., an der Europa nur teilhatte anstatt sie hervorgebracht zu haben, durch viele kritische und bestätigende Stellungnahmen hindurchgegangen ist, die Anquetils Dreigestirn „Pherekydes, Zarathustra, Konfuzius“ um viele andere Namen wie Laotse, Buddha, Jesaja und andere Propheten, Parmenides, Pythagoras und Platon erweitert haben, brachte Karl Jaspers in seinem Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Anquetils These auf den glücklichen Begriff der „Achsenzeit“. Er fokussierte nun ganz entschieden auf das Verbindende anstatt auf die Differenzen. Sein Leitspruch war: „Wahr ist, was uns verbindet“.5 Für Jaspers war Wahrheit die Grundlage menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Sein Buch Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, in dem dieser Satz steht, war aus der Erfahrung der NS-Zeit entstanden, in der in Deutschland die Lüge herrschte und die ganze Welt mit Zwietracht, Krieg, Mord und Zerstörung überzog. Hitler hatte alle auf Wahrheit und Vertrauen beruhenden Brücken zwischen den Ländern Europas und der Welt zerstört.
Jaspers gehörte zu denen, die auf den Trümmern des alten Europas die Vision eines neuen Europas entwickelten. Dazu gehörte für ihn an erster Stelle – ganz im Sinne von Anquetil, den er nicht kannte – die Überwindung europäischer Überheblichkeit gegenüber anderen Ländern und Kulturen. Er wollte die exklusive und destruktive Vormachtstellung Europas in der Welt beenden und hat Europa in eine globale Vision von Menschheit eingebunden, die als Gesamtheit um 500 v. Chr. „einen Sprung gemacht hat“.6 Das ist der Kern seiner Idee der ‚Achsenzeit‘, einer neuen Geschichtsdeutung, die Europa auf Augenhöhe mit anderen Hochkulturen bringen sollte.
Auch er zählte noch einmal die Geistesgrößen auf, die um 500 v. Chr. (er erweiterte dieses Zeitfenster um plus/minus 300 Jahre) in vielen Kulturen auftraten und deren Worte und Gedanken die Nachwelt bis heute prägen. In Griechenland waren es Dichter und Denker wie Homer und Platon, in Israel die Propheten, in Persien Zarathustra, in Indien Buddha und in China Laotse und Konfuzius. Mit ihren Texten haben sie ein ‚Geisterreich‘ gegründet, in welchem sie, um es mit Hannah Arendt zu sagen, „noch einmal als sprechende – aus dem Totenreich her sprechende – Personen auftreten, die, weil sie dem Zeitlichen entronnen sind, zu immerwährenden Raumgenossen im Geistigen werden“ konnten.7
Europa lebte, intensiver vielleicht als andere Kontinente, in diesem vielstimmigen Geisterreich. Erstens gründete es auf zwei grundverschiedenen kulturellen Pfeilern: zum einen auf dem „klassischen“ Altertum, der griechisch-römischen Kultur, die in Philosophie, Literatur und Architektur lebendig war, und zweitens auf der Bibel, die das Abendland als „christliches“ determinierte. Überdies blickten diese beiden Altertümer, das klassische und das biblische, noch einmal auf ein um zwei- bis dreitausend Jahre älteres Altertum zurück, von dem sie sich einerseits polemisch absetzten wie Israel und andererseits wie Griechenland und Rom fasziniert inspirieren ließen.
Dieses europäische Fundament wollte Jaspers gleichsam globalisieren, indem er darauf verwies, dass sich zeitgleich mit den griechischen Philosophen und Dichtern und den israelitischen Propheten ganz entsprechende geistige Durchbrüche auch in China (mit Konfuzius und Laotse), Indien (mit Buddha) und Persien (mit Zarathustra) ereigneten. Das ist die „Achsenzeit“, in der Europa nicht der geringste Vorrang gegenüber den anderen großen Kulturkreisen der Welt zukam und die in Jaspers‘ Augen ein Geistergespräch auch über kontinentale Grenzen hinweg und eine Verständigung zwischen allen gegenwärtigen Bewohnern der Erde ermöglichte. Die Gleichzeitigkeit dieser Durchbrüche zu einem neuen Weltbild deutete Jaspers als den Ursprung der Geschichte, die keine lineare Fortschrittsgeschichte, sondern eine synchrone Globalgeschichte darstellt, in der alles mit allem zusammenhängt und alle mit allen in einer gemeinsamen geistigen Welt leben.8
Im Zeichen von Evolutionismus und Modernisierungstheorie, die das 19. und weitgehend noch das 20. Jahrhundert beherrschten, trat dieser normative Aspekt, den Anquetil betont in den Vordergrund gestellt hatte, in den Hintergrund, bis Jaspers ihn nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stark machte und einen Exodus aus der eurozentrischen und heilsgeschichtlichen Perspektive forderte. Sein Appell hätte von Anquetil stammen können:
„Seitdem China und Indien für den Abendländer nicht mehr fremde Gebiete sind, die allenfalls ein Interesse haben neben Polynesien, Australien und Afrika, sondern seitdem hier ursprüngliche Entfaltungen des Menschseins mit einzigartigen geistigen Schöpfungen erkannt und geliebt wurden, ist das europäische Selbstbewußtsein in einem Wandel. Vorbei ist der europäische Hochmut, ist die Selbstsicherheit, aus der einst die Geschichte des Abendlandes die Weltgeschichte hieß, fremde Kulturen in Museen für Völkerkunde gebracht, als Gegenstand der Ausbeutung und der Neugier angesehen wurden, einst, als sogar Hegel sagen konnte: ‚Die Welt ist umschifft und für die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist entweder nicht der Mühe wert oder aber noch bestimmt, beherrscht zu werden.‘ Europa wird sich heute seines Eigentümlichen bewußt im Kontrast und verliert damit seine Absolutheit. Die technisch-militärische Überlegenheit wird weltgeschichtlich zu einer Episode. Auf die Jahrtausende gesehen wird uns das hohe Menschsein von China bis zum Abendland gleichwertig.“ 9
Der kulturtranszendente, potentiell globale Durchbruch der Achsenzeit um 500 v. Chr. war in Jaspers‘ Sinne eine regulative Idee, ein Appell zu „grenzenloser Kommunikation“, für einen neuen Humanismus, der nicht auf der klassischen Antike, sondern einer umfassenden Gemeinsamkeit aller Kulturen und Religionen beruhte, die – vielleicht nicht als Ursprung, aber jedenfalls – als Ziel der Geschichte in den Blick kommt. Dieser intellektuelle Kosmopolitismus ist mehr denn je das Gebot der Stunde in einer Zeit, in der nationale, religiöse und ideologische Partikularismen wieder an Macht und Einfluss gewinnen. Der offene Horizont, den Jaspers forderte für das Gedächtnis und das Selbstbild einer globalisierten Menschheit hat sich mit der Erklärung und Umsetzung der Menschenrechte, der Konzeption eines „Welterbes“, den weltweit operierenden NGOs wie „Ärzte ohne Grenzen“ und „Amnesty International“ zu realisieren begonnen. Auf diesem Weg gilt es weiterzugehen.
1 S. dazu Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, C. H. Beck, München 2018, Kap. 1.
2 Législation orientale. Vgl. hierzu Lucette Valensi, Les jeux d’échec de Anquetil-Duperron.
3 Siep Stuurman, Cosmopolitan Egalitarianism.
4 Wie Jean Luc Kieffer gezeigt hat, entwickelt sich Anquetil erst allmählich vom Befürworter eines „dialogischen“, im Benehmen mit den indigenen Partnern vorgehenden Kolonialismus zum radikalen Anti-Kolonialisten, s. Anquetil-Duperron, 77 – 104.
5 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München: Piper 1949. Zitat S. 30.
6 Vom Ursprung, S. 23.
7 S. 5 f. der Internet-Publikation des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, https://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/.../1958_jaspers.pdf.
8 S. Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, C. H. Beck, München 2018.
9 Vom europäischen Geist.