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b) Kontrollvorbehalte

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Art. 38 Abs. 1 GG als prozessuales Vehikel

Die verfassungsrechtlich angelegten, als Vorranggrenze wirkenden Integrationsvorbehalte werfen die Frage nach ihrer gerichtlichen Durchsetzbarkeit auf. Das BVerfG geht hier zumindest im Hinblick auf Gesetzesrecht auf Grundlage des Rechtsgedankens des Art. 100 Abs. 1 GG von seiner Monopolkompetenz aus.[172] Insofern liegt zunächst eine Geltendmachung im Wege der abstrakten Normenkontrolle, mittelbar im Wege des Organstreitverfahrens oder – durch die Geltendmachung der Menschenwürdegarantie oder grundrechtlicher Freiheiten – der Individualverfassungsbeschwerde auf der Hand. Daneben können die Integrationsvorbehalte auch durch Einzelne über den materiell interpretierten Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG als Scharniernorm und „grundrechtsgleiches Recht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft des Volkes“[173] im Wege der Verfassungsbeschwerde gerichtlich effektuiert werden.[174] Dieser bereits im Maastricht-Urteil[175] angelegte Ansatz über Art. 38 Abs. 1 GG ist zu begrüßen; er eröffnet einen zur Verteidigung staatlicher Souveränität und Verfassungsidentität (insbesondere Demokratie) unverzichtbaren Kontrollzugriff und im Übrigen die, gerade in bestimmten politischen Diskussionen (sog. „Blitzgesetze“, Große Koalition etc.), im Interesse von pluralem Diskurs, retardierender Reflektion und Transparenz akzeptanzfördernde und systemstabilisierende Möglichkeit eines „Verfassungsbeschwerde-Plebiszits“ mit direkt-demokratischer Surrogatfunktion.[176]

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Folge für deutsche Staatsorgane

Kommt das BVerfG zu dem Ergebnis einer Unvereinbarkeit mit deutschem Verfassungsrecht, so hätte dies – je nach Fallkonstellation – zur Folge, dass deutsche Stellen weder am Zustandekommen noch an der Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung eines entsprechenden Unionsakts mitwirken dürfen[177], auf die Herstellung der Vereinbarkeit unionalen Handelns mit den Integrationsvoraussetzungen des Grundgesetzes aktiv hinwirken müssen[178] bzw. dass das Zustimmungsgesetz zu einem Unionsrechtsakt insoweit für verfassungswidrig und in der Folge jener Unionsrechtsakt in Deutschland – zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Integrationspflichten ggf. mit gewissen Übergangsfristen[179] – für unanwendbar zu erklären wäre[180].

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Kontrollarten

Konkret lassen sich in der bisherigen Rechtsprechung drei Kontrollarten des BVerfG unterscheiden, eine Grundrechts-, eine Identitäts- und eine Ultra-vires-Kontrolle, auf die in der gebotenen Kürze eingegangen werden soll.

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Grundrechtskontrolle: Die Solange-Rechtsprechung

Nachdem sich das BVerfG zunächst in Ermangelung eines europäischen Grundrechtsregimes die Kontrolle im Bereich unmittelbar anwendbarer unionaler und unional vollständig determinierter Hoheitsakte am Maßstab deutscher Grundrechte vorbehalten hatte,[181] gilt seit der Solange-II-Entscheidung im Jahr 1986[182] der Grundsatz eines judicial self-restraint. Danach übt das BVerfG in diesem Bereich eine Grundrechtskontrolle anhand der deutschen Grundrechte nicht aus, solange nicht der Nachweis gelingt, dass der „jeweils als unabdingbar geboten[e] Grundrechtsschutz“[183] durch die EU nicht gewährleistet wird. Dabei nimmt das BVerfG keine Einzelfallkontrolle vor, sondern fordert, dass sich der europäische Grundrechtsschutz – im Hinblick auf das konkrete Grundrecht[184] und im Vergleich zum grundgesetzlichen Grundrechtsschutz – als generell defizitär erweist.[185] Damit wird eine praktische Konkordanz zwischen der Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG und der Integrationsoffenheit des Art. 23 Abs. 1 GG erreicht.[186] Spätestens seit Inkrafttreten der GRCh ist freilich die Aktivierung dieser „Reservefunktion“[187] nur noch in höchst seltenen, bislang nur in Teilen des Schrifttums erörterten, aber nicht praktisch relevant gewordenen Ausnahmefällen (z. B. im Fall einer – umstrittenen[188] – Ablehnung eines EU-Grundrechts „allgemeine Handlungsfreiheit“ vergleichbar Art. 2 Abs. 1 GG) denkbar. Teilweise gehen die Unionsgrundrechte sogar über den grundgesetzlichen Grundrechtsschutz hinaus.[189]

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Recht auf Vergessen I und II

Der Vorbehalt bleibt auch dann unverändert bestehen, wenn das BVerfG im Hinblick auf unionsrechtlich vollständig determiniertes Handeln deutscher Organe nunmehr selbst eine Kontrolle anhand der Unionsgrundrechte vornimmt („Recht auf Vergessen II“)[190] und sich im Rahmen der Überprüfung einer Anwendung gestaltungsoffenen Unionsrechts jedenfalls eine subsidiäre Prüfung anhand der Unionsgrundrechte vorbehält („Recht auf Vergessen I“).[191] Diese Erweiterung des Prüfungsmaßstabs ist im Hinblick auf die Instanzgerichte und andere Verfassungsgerichte[192] keine umstürzende Neuerung. Sie wird aber tendenziell weg von einer Separierung hin zu einer materiellen Annäherung (Konvergenz) deutschen und europäischen Grundrechtsschutzes führen[193] und hebt die Integration des Unionsrechts in die deutsche Rechtsordnung im Sinne der Kooperations- bzw. Verbundidee auf ein nächstes Level. Das ist begrüßenswert,[194] weil es nicht nur die Rolle des BVerfG als relevanten „Player“ im europäischen Verfassungsgerichtsverbund[195] sichern und stärken[196] hilft, sondern ein solches „Grundrechts-Mobile“[197] vor dem Hintergrund der zunehmenden Verflechtungsprozesse im Grundrechtsverbund auch funktionsadäquater und zeitgemäßer ist. Wichtig ist freilich die konsequente Einhaltung der Vorlagepflicht des BVerfG (Art. 267 Abs. 3 AEUV).[198]

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Identitätskontrolle

Anlässlich des Vorbehalts des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG überprüft das BVerfG unionsrechtlich determinierte nationale Vollzugsakte,[199] die Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber sowie unmittelbar Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und Stellen der EU[200] auf ihre Vereinbarkeit mit den von der grundgesetzlichen Ewigkeitsgarantie umfassten Bereichen. Nach Auffassung des BVerfG ist jede Kompetenzübertragung und -ausübung letztlich durch diese Integrationsschranke konditioniert.[201] Ausprägungen der qua Art. 79 Abs. 3 GG unübertragbaren Verfassungsidentität sind dabei neben der Menschenwürde[202], auch im Sinne des Menschenwürdekerns anderer Grundrechte,[203] etwa die im Demokratieprinzip angelegte Bewahrung der Eigenstaatlichkeit, inklusive der Bewahrung eigener Aufgaben und Befugnisse von substantiellem politischen Gewicht,[204] sowie die Budgethoheit[205]. Bei der vorzunehmenden Einzelfallkontrolle erlegt sich das BVerfG Zurückhaltung auf, indem es sich – „soweit erforderlich“[206] – zur Vorlage an den EuGH verpflichtet.[207]

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Kritik und Antikritik

Etwas missverständlich bzw. zu weitgehend ist allerdings der Verweis, verfassungs- (Art. 79 Abs. 3 GG) und unionsrechtliche (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität gingen „Hand in Hand“[208]. Die Normen stehen zwar in einem funktionalen Korrelat- bzw. Supplementärverhältnis, sind in ihrem Inhalt aber nicht deckungsgleich.[209] Dies führt zu der Kritik, dass die EU durch die Identitätskontrolle letztlich sachwidrig an Art. 79 Abs. 3 GG gebunden werde.[210] Dabei darf aber nicht übersehen werden: Nicht die genuine Rechtswidrigkeit und Ungültigkeit des identitätseingreifenden Unionshandelns wird behauptet, sondern die fehlende Legitimation für Geltung und Vorrang in der deutschen Rechtsordnung.

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Ultra-vires-Kontrolle

Neben die Grenze des Übertragbaren tritt die Grenze des Übertragenen: Demokratische Legitimation als unabdingbare Voraussetzung von Geltung, unmittelbarer Anwendbarkeit und Vorrang besteht nur, soweit Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, einschließlich der Entscheidungen des EuGH, aufgrund und innerhalb der der EU übertragenen Hoheitsrechte erfolgen. Insoweit ist einerseits zu kontrollieren, ob das Zustimmungsgesetz selbst die formellen Anforderungen an eine Hoheitsrechtsübertragung wahrt.[211] Andererseits werden – vermittelt durch das deutsche Zustimmungsgesetz – das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, das Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (Art. 5 Abs. 1–4 EUV) zur inkorporierten verfassungsrechtlichen Grenze europäischer Kompetenzausübung.[212] Das BVerfG misst sich dabei selbst die Kompetenz zur Überprüfung der Einhaltung dieser Maßstäbe zu und effektuiert diese durch eine – zuletzt ebenfalls auf Art. 79 Abs. 3 GG zurückgeführte[213] – Ultra-vires-Kontrolle.[214]

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Europarechtsfreundliche Einschränkungen

Eine detaillierte nationale Letztkontrolle der Einhaltung primärrechtlicher Kompetenzen birgt freilich die Gefahr, die durch die Zustimmung zu den Verträgen anerkannte Auslegungshoheit des EuGH und damit die europäische Rechtseinheit zu unterminieren.[215] Dies mag ein Beweggrund für das BVerfG sein, sich auch insoweit Zurückhaltung aufzuerlegen. Das Gericht betont das Gebot der europarechtsfreundlichen Ausübung dieser Kontrolle[216], verpflichtet sich zu einer Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV und will insbesondere nur bei einem „hinreichend qualifizierten“ Verstoß eine Überschreitung der Unionskompetenzen annehmen.[217] Das setze voraus, dass die Kompetenzwidrigkeit des Unionshandelns offensichtlich ist und zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge führt.[218] Damit öffnet das Gericht letztlich Raum für eine Abwägung.[219] Das BVerfG räumt dem EuGH dabei sogar einen Anspruch auf „Fehlertoleranz“[220] ein. Dies ist nicht unproblematisch. Zum einen gibt es in Wertungsfragen keine absolute Richtigkeit (über die zudem das BVerfG befinden würde).[221] Zum anderen sind (noch) zulässige Kompetenzüberschreitungen logisch ausgeschlossen.[222] Vorzugswürdig ist daher eine Überprüfung, ob die von der Union vorgenommene Auslegung, etwa einer Kompetenzbestimmung, methodisch noch vertretbar ist.[223] Dies hat das BVerfG in seinem aufsehenerregenden PSPP-Urteil zuletzt erstmals verneint.[224] Die Europäische Kommission hat daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland mit der Begründung eingeleitet, dass das BVerfG einem Urteil des EuGH seine Rechtswirkung abgesprochen und damit gegen den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts verstoßen habe.

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