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a) Anwendungsvorrang statt Geltungsvorrang
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Unanwendbarkeit ipso iure
Ist eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, so muss dem Vorrang des Unionsrechts zur Durchsetzung verholfen werden. Das Unionsrecht begnügt sich insoweit nicht mit einer Verpflichtung zur Aufhebung unionsrechtswidrigen Rechts. Es wirkt vielmehr insofern selbst auf die nationale Rechtsordnung ein, als entgegenstehendes Recht „ohne weiteres“[275], das heißt ipso iure und ohne Aktivierung nationaler Mechanismen zur Aufhebung, „unangewendet“[276] bleiben muss. Die Reichweite bestimmt sich dabei nach der Kollision: Dies kann zur Konsequenz haben, dass eine mitgliedstaatliche Norm nur in bestimmten Konstellationen zurückzustellen ist[277] oder auch nur Teile einer Norm oder einzelne Tatbestandsmerkmale unangewendet gelassen werden können,[278] soweit damit einerseits dem Unionsrecht zur effektiven Durchsetzung verholfen wird und andererseits die derart verbleibende Restregelung dem (mutmaßlichen) Willen des nationalen Gesetzgebers entspricht.[279]
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Anwendungs- statt Geltungsvorrang
Zur Durchsetzung dieses Vorrangs verlangt das Unionsrecht keinen Geltungsvorrang, der mitgliedstaatliches Recht bricht.[280] Dafür fehlte dem EuGH auch die Kompetenz:[281] Hat der EuGH noch nicht einmal das Mandat, über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Unionsrecht zu befinden,[282] kann er erst recht nicht über ihre Gültigkeit befinden.[283] Auch das deutsche Recht sieht – obwohl dies möglich wäre[284] – keinen Geltungsvorrang des Unionsrechts vor. Dies führt vor dem Hintergrund des (politischen) Interesses an der Wahrung der mitgliedstaatlichen Souveränität[285] und an der Vermeidung einer Anerkennung einer hierarchischen Unterordnung des mitgliedstaatlichen unter das Unionsrecht zur einhelligen Auffassung der Annahme eines Anwendungsvorrangs: Läuft mitgliedstaatliches Recht dem Unionsrecht zuwider, so wird es nicht derogiert, sondern suspendiert. Unterschiedlich beantwortet wird, ob diese Rechtsfolge der Unanwendbarkeit erst im Einzelfall[286] oder abstrakt für die betreffende Rechtsnorm eintritt[287]. Jedenfalls hat sie im konkreten Fall außer Anwendung zu bleiben. In der Sache führt der Anwendungsvorrang regelmäßig zum selben Ergebnis wie ein Geltungsvorrang,[288] „schonender“ ist er regelmäßig nur für die „nationale Empfindlichkeit“[289]. Ein Unterschied liegt aber in der fehlenden Endgültigkeit: Mitgliedstaatliches Recht lebt wieder auf, sofern und soweit die Kollisionslage wegfällt,[290] was allerdings selten praktisch relevant werden dürfte.[291] Wichtiger ist daher, dass der Anwendungsvorrang die Wirksamkeit des mitgliedstaatlichen Rechts erhält. Dieses bleibt vollumfänglich anwendbar, wo der Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht eröffnet ist.[292] Bei einem Geltungsvorrang wäre eine solche „Teilwirksamkeit“ einer Norm für den nicht unionsrechtlich überlagerten Bereich nicht in allen Konstellationen denkbar.