Читать книгу Hardcore - H. C. Schwarz - Страница 4
Vorwort
ОглавлениеEs gibt keine Rechtfertigung
dafür, einem anderen Menschen wissentlich Schmerzen zuzufügen. Aber es gibt einen Grund.
Ich missbrauche, weil ich missbraucht worden bin.
So wie jeder meiner blindwütigen Impulse, hinter dessen Kulisse ich nicht zu schauen wage, Ausdruck meiner tiefverwurzelten Verletzung ist, ist sexueller Missbrauch zu meiner Sucht geworden.
Rückblickend kommt es mir so vor, als wäre ich mein Leben lang blind einem Handlungsmuster gefolgt, dessen ich mir nicht bewusst war. Ich hing wie eine Marionette an den Fäden des Mannes, der mich als Kind vergewaltigt hatte und stellte diese traumatische Erfahrung immer wieder nach, indem ich mir Partnerinnen suchte, die auch Opfer einer Missbrauchserfahrung geworden waren. Auf diese Art fanden unsere verdrängten Traumata ihr passendes Gegenüber und bekamen ihren Platz in unserer Sexualität, genau wie die immer wiederkehrenden Grenzüberschreitungen und die daraus resultierenden Gefühle von Scham und Schuld. Ein Teufelskreis, der unsere Gier nach der Droge stillte, die aus der Verbindung von Lust und Schmerz entstand und dem wir nicht entrinnen konnten, solange wir nicht bereit waren die erschreckend bodenlose Leere des Entzugs auszuhalten.
Inzwischen habe ich verstanden, dass wir, meine häufig wechselnden Sexualpartnerinnen und ich, uns so verhielten, um den verdrängten Schmerz unseres Missbrauchs zu rekonstruieren und am Leben zu erhalten. So vermochten wir die Erinnerungen an unser tief sitzendes Leid in den verborgenen Schichten unseres Gedächtnisses aufzufrischen, ohne uns ihnen wahrhaftig stellen zu müssen. Jeder auf seine Art vergingen wir uns an uns selbst und aneinander, meine Partnerinnen durch das beschämende, scheinbar unauslöschlich in ihre Seelen eingebrannte Stigma ihres Opferstatus und ich in der Rolle des lieblosen Täters, der sie benutzte, um seine Gier an ihnen zu stillen und dafür in Form seiner Schuldgefühle den Preis dafür bezahlte.
Alltäglich fanden wir, Opfer und Täter, uns in unserer selbstgewählten Schuldfalle wieder. Wir fühlten uns wohl in ihr, denn sie war im Laufe der Jahre zu einer sogenannten schlechten, aber dennoch unverzichtbaren Angewohnheit geworden. Die Gefühle von Scham und Schuld waren elementare Bestandteile der Droge, von der wir abhängig waren.
Solange wir uns unserem Missbrauchstrauma nicht stellten, zwang es uns ein fremdbestimmtes Verhaltensmuster auf. Meine Beziehungen zu Frauen wurden gesteuert durch einen brennenden Schmerz, den ich über Jahrzehnte nicht wahrhaben wollte und dennoch immer aufs Neue wachrief. Eine tiefe, eiternde Wunde, deren Existenz ich leugnete, bis sie mich schlussendlich beinahe das Leben gekostet hätte.
Vor dem Hintergrund des in der Kindheit oder Jugend erlebten sexuellen Missbrauchs, hat der Schmerz von Mann und Frau denselben Ursprung. Im Grunde genommen könnten wir uns als eine Art Schicksalsgemeinschaft betrachten, deren Mitglieder sich im Idealfall solidarisch verhalten und gegenseitig den Rücken stärken. Doch obwohl unser Leid gleich groß, gleich übermächtig und unfassbar ist, fühlen wir uns wie Ausgestoßene und glauben fest daran, zu lebenslanger Isolation verdammt zu sein. Anstatt unseren Schmerz zu teilen und im Mitgefühl unserer Mitmenschen Trost zu finden, ziehen wir uns immer tiefer in unsere Schneckenhäuser zurück.
Die Rolle der Missbrauchten scheint sich unauslöschlich in unser Bewusstsein eingebrannt zu haben. In den kurzen Momenten, in denen wir den Mut finden, den Schleier über unserem Trauma ein wenig zu lüften, empfinden wir die vage aufblitzende Erinnerung an die Quelle unseres Leids als einen so überwältigenden und unerträglichen Schmerz, dass es uns unmöglich, geradezu tödlich erscheint, uns ihm zu stellen und uns im vollen Umfang dem zu stellen, was uns widerfahren ist. Deshalb finden wir uns irgendwann damit ab, dass es kein Entkommen gibt und beschließen, uns in unser Schicksal zu fügen und den Kampf um Heilung aufzugeben.
Zum Zeitpunkt unseres Missbrauchs, hatten wir das Gefühl zu sterben. Ich wage sogar zu behaupten, dass wir in gewisser Hinsicht tatsächlich gestorben sind. Unser Schmerz war so unerträglich, dass wir ihn zusammen mit einem Teil unserer Existenz begraben mussten, um dem Rest von uns das Weiterleben zu ermöglichen.
Das entspricht jedenfalls meiner Erfahrung. Ich habe ewig gebraucht, um den Mut aufzubringen, meine volle Aufmerksamkeit auf dieses schwarze Loch zu richten, dass meine Kindheit in zwei Hälften riss: in die Zeit, bevor ich dem sexuellen Missbrauch ausgesetzt war und in die danach. Bis ich bereit dazu war, haben mich mein Selbsthass und mein maßloser Zorn auf die Welt um mich herum immer wieder in gefährliche, grenzwertige Situationen gebracht. Meine rasende Wut hat mich regiert, mein Leben bestimmt und mich manipuliert. Ich war wie ein ferngesteuerter Roboter auf Zerstörung programmiert.
Für mich gab es nur zwei Optionen, fressen oder gefressen werden, nur Schwarz oder Weiß, nichts dazwischen, keine Grautöne. In diesem Weltbild spiegelte sich mein lebensfeindliches Innenleben. Es war die logische Konsequenz aus dem Krieg, der in mir tobte, einem Krieg zwischen Opfer und Täter, zwischen Frau und Mann, zwischen meiner weiblichen und meiner männlichen Seite. Aus meiner durch diesen inneren Konflikt geprägten Sicht auf das Leben, betrachtete ich meine Mitmenschen als feindselige Wesen. Sie mussten entweder gemieden oder in die Knie gezwungen werden. Dieses Verhalten verstärkte sich in exponentiellem Ausmaß, wenn mir ein Mann oder eine Frau zu nah kamen. Jede Art von Nähe erschien mir brandgefährlich, kam einer Bedrohung gleich.
Als umso erstaunlicher empfand ich es, wenn Menschen dennoch meine Nähe suchten und mein verletzendes Verhalten hinnahmen. Aber ebenso wie ich süchtig danach war, zu zerstören, waren andere süchtig danach, zerstört zu werden. Manche Menschen bettelten förmlich darum, zur Zielscheibe meiner eskalierenden Grausamkeit zu werden.
HARDCORE, Tagebuch eines missbrauchten Mannes basiert auf einer Sammlung von Texten, die im Laufe der letzten 10 Jahre entstanden sind. Ich schrieb sie nieder, um den Zustand meines fragmentierten Selbstbildes möglichst detailliert zu dokumentieren, in der Hoffnung so mich selbst und mein Verhalten besser verstehen zu können. Schließlich erwiesen sich meine Tagebucheinträge als Teile eines Puzzles und halfen mir dabei, mich selbst wieder zu einem ganzen Menschen zusammenzufügen. Ein chaotischer Haufen Splitter, die meinen Gedächtnislücken allmählich auf die Sprünge halfen und sich während des Schreibprozesses zu einem sinnvollen Ganzen ergänzten.
Doch zunächst wollte jeder Einzelne dieser Splitter gedreht und gewendet, genauestens unter die Lupe genommen und analysiert werden. Splitter bestehend aus den bruchstückhaften Erinnerungen, die ich nach und nach aus dem pechschwarzen Höllenschlund herausangelte, der inmitten meiner Kindheit klaffte.
Ich war eine zerrissene Persönlichkeit, die, bevor sie überhaupt eine Vorstellung von der eigenen Existenz als sexuelles Wesen entwickeln konnte, mit der zerstörerischsten und dunkelsten Seite der Sexualität konfrontiert wurde, der Vergewaltigung. Ein kleiner Junge, durch dessen Herz und Bewusstsein ein krankhaft verzerrtes Bild von Sexualität, gleich einem vergifteten Pfahl, getrieben wurde.
In der Mitte entzwei gehackt durch die brutalen Axthiebe des sexuellen Missbrauchs, fühlte ich mich wie ein Ast, der vom Baum der menschlichen Gemeinschaft abgeschlagen, von der Welt und der Gesellschaft, sogar von der eigenen Familie abgetrennt worden war. Vor allem jedoch trennte dieser Gewaltakt mich von mir selbst. Dieser klaffende Riss, der sich durch alle Ebenen meines Selbst zog, durch meinen Körper, meine Gefühle, meinen Verstand und meinen Geist, dieser Zustand des Getrenntseins, der wie eine eiternde, offene Wunde in meinem Herzen schwärte, war die tiefgreifendste Folge der Vergewaltigung. Denn dieses Gefühl der Trennung, legte den schwarzen Grundstein der Feindschaft zu mir selbst. Sie brachte mich dazu, mich selbst bis aufs Blut zu peinigen und abgrundtief zu hassen, Tag für Tag mein eigener Quälgeist im Folterkeller meiner inneren Hölle, zugleich Täter und Opfer zu sein. Jeder einzelne dieser Tage war eine weitere schwarze Perle an meiner Halskette aus Stacheldraht, die sich immer tiefer in mein Fleisch grub, je mehr ich an ihr zerrte und sie loswerden wollte.
Meine Erfahrung des sexuellen Missbrauchs und mein nahezu lebenslanger Heilungsprozess schrien nach direktem Ausdruck. Mein Schmerz verlangte danach, sich unverblümt mitzuteilen.
Trotz der Ängste, die mich auf meinem Weg durch die Welt der Schatten begleiteten, spürte ich stets tief in mir drin, dass meine Liebe dieses Leben überleben und an ihm wachsen würde. Dieses Gefühl ungeduldiger Zuversicht versetzte mich in Goldgräberstimmung. Ich grub tief, ruhelos und ausdauernd. Unermüdlich durchstreifte ich die dunklen Schächte meiner Seele, denn meine Sehnsucht nach Heilung war groß und verzweifelt.
Dieser Text handelt von dem Heilungsprozess, den ich im letzten Jahrzehnt meines Lebens durchlief. Er erzählt vom Entdecken meines Bedürfnisses nach einer liebevollen Form der Sexualität und der Aussöhnung mit mir selbst, den Frauen dieser Welt und dem Weiblichen, das in jedem Mann zuhause ist.