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II. Vorverlegung der Rechtsfähigkeit
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1. Deshalb ist es möglich, auch den schon Erzeugten als geschütztes Subjekt anzuerkennen. Das hat das Gesetz nicht allgemein mit dem Satz „nasciturus pro iam nato habetur“ getan, sondern nur im Rahmen einzelner Tatbestände, zB in §§ 844 II 2, 1923 II. In diesen Fällen gilt der Erzeugte unter der Voraussetzung, dass er später lebend geboren wird, als rechtsfähig. Dass der werdende Mensch ebenfalls schutzwürdig und -bedürftig ist, wird auch durch § 218 StGB anerkannt: Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbstständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung, Art. 2 II 1, Art. 1 I GG (BVerfGE 39, 1).
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Ob in diesen Fällen der Erzeugte nur für bestimmte Rechte rechtsfähig ist, es im Übrigen aber bei § 1 bleibt (also Teilrechtsfähigkeit), oder ob der Sachverhalt Anlass ist, die Rechtsfähigkeit schlechthin zu gewähren, mag dahingestellt bleiben. (Für Teilrechtsfähigkeit in diesen und anderen Fällen Fabricius, Relativität der Rechtsfähigkeit 1963, S. 111 ff.) Entscheidend ist das Schutzbedürfnis des nasciturus, nicht die Deduktion aus einem wie auch immer gearteten Begriff der Rechtsfähigkeit (vgl unten Rn 13). Bei der juristischen Person wäre es angesichts der Entstehung der Rechtsfähigkeit durch Staatsakt (s. unten Rn 73) eher denkbar, die Rechtsfähigkeit auf einen bestimmten Wirkungskreis zu begrenzen und Geschäfte ultra vires der juristischen Person nicht zuzurechnen; doch hat der deutsche Gesetzgeber diese Möglichkeit im Privatrecht nicht gewählt.
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Streitig ist, ob unter Erzeugung die Befruchtung (Verschmelzung einer Ei- mit einer Samenzelle) zu verstehen ist (so Erman/Saenger15 § 1 Rn 2) oder aber die Einnistung der befruchteten Eizelle (sog. Nidation 12 Tage nach der Befruchtung). Für das Strafrecht hat § 218 I 2 StGB diese Zweifelsfrage beantwortet. Das hindert indes das Zivilrecht nicht, den Beginn des menschlichen Lebens früher anzusetzen und die Befruchtung als Beginn des Menschseins zu behandeln.
Aus dem Nebeneinander der medizinisch-naturwissenschaftlichen und der juristischen Begriffe folgt die Möglichkeit oder gar die Notwendigkeit, einem Begriff in verschiedenen Zusammenhängen einen unterschiedlichen Inhalt zu geben (Relativität der Begriffsbestimmung). Für § 1 BGB und § 218 StGB können durchaus also unterschiedliche Zeitpunkte maßgeblich sein.
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Der Wortlaut des § 844 II 2 setzt, wie auch §§ 1912, 1923 II, voraus, dass der Geschädigte bereits erzeugt ist. Eine noch weitere Vorverlegung auf die Zeit vor der Erzeugung, um einem später Geborenen aus einem ihm nachteiligen Ereignis Ersatzansprüche zu gewähren, ließe sich nur im Wege einer Analogie zu § 844 II 2 bewerkstelligen. Indes fehlt es hierfür an einer planwidrigen Lücke: Der Gesetzgeber des BGB hat den Antrag, die Vorschrift zugunsten noch nicht erzeugter Unterhaltsberechtigter zu erweitern, ausdrücklich abgelehnt (Protokolle S. 2821 f = Mugdan II 1109). Die Tötung des Großvaters vor der Zeugung seines Enkelkindes muss von diesem als Schicksal hingenommen werden. Es ist nicht Aufgabe der Rechtsordnung, jede Unbill mit Schadensersatzansprüchen auszugleichen.
Im Fall 1 kann daher K von B keinen Unterhalt fordern. Wohl aber kann T für sich Schadensersatz von B für den ihr entgangenen Unterhaltsanspruch gegen G verlangen, wenn weder sie selbst noch ihr Ehemann (§ 1608) ihren Lebensbedarf bestreiten können.
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2. In der Fallabwandlung wurde K als Embryo durch die unsachgemäße Bestrahlung unmittelbar verletzt. Die Anwendung des § 823 I (Rechtswidrigkeit und Verschulden des Arztes liegen vor) ist insofern problematisch, als K bei der Schädigung noch nicht rechtsfähig, also noch kein „anderer“ iSv § 823 I, war und weil eine den Schutz vorverlegende Vorschrift wie § 844 II 2 oder § 1923 II in § 823 fehlt. Jedoch ist die körperliche Unversehrtheit des Embryos nicht weniger schutzwürdig als die des schon Geborenen.
„Die Leibesfrucht ist dazu bestimmt, als Mensch ins Leben zu treten; sie und das später geborene Kind sind identische Wesen, eine naturgegebene Tatsache, der das Haftungsrecht Rechnung tragen muss. Verletzungen der Leibesfrucht werden daher jedenfalls mit der Vollendung der Geburt zu einer Verletzung der Gesundheit des Menschen, für die der Schädiger gemäß § 823 BGB Ersatz leisten muss.“ (BGHZ 58, 48, 51). Vgl auch BGHZ 93, 351: Schockschaden der Mutter.
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Wenn danach § 1 dem Schutz des Kindes im Mutterleib nicht entgegensteht, bleibt die Frage, ob § 823 anwendbar ist, wenn der nasciturus bereits vom Augenblick der Zeugung an krank ist. Kompliziert macht diesen Fall weniger die Vorverlegung der Rechtsfähigkeit als vielmehr der Schadensbegriff.
Beispiel (BGHZ 8, 243):
Ein Arzt hatte die Mutter vor der Empfängnis schuldhaft durch eine Übertragung von Blut eines Lueskranken infiziert. Das Kind wurde daraufhin mit Lues (Syphilis) geboren. Der BGH gab der Schadensersatzklage des Kindes aus §§ 823, 253 II (nF) statt. Dem steht letztlich nicht entgegen, dass es niemals gesund gewesen ist. Denn Art. 2 II 1 GG schützt das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Der nach § 823 zu ersetzende Schaden besteht deshalb in der Differenz zu dem natürlichen Gesundheitszustand, wie er ohne das schädigende Verhalten des Arztes vorgelegen hätte. Das Schrifttum stimmt dem BGH im Ergebnis zu; Medicus/Petersen11 Rn 1049 mwN; Wolf/Neuner11 § 11 Rn 13.
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Schwieriger sind die Fälle, die unter dem Schlagwort „wrongful life“ erörtert werden. Beispiel (BGHZ 86, 240 = Schack/Ackmann7 Nr 63): Ein Frauenarzt hatte schuldhaft nicht erkannt, dass die schwangere Mutter an Röteln erkrankt war. Daraufhin unterblieb ein zulässiger (vgl § 218a IV StGB) Schwangerschaftsabbruch, und das Kind wurde mit schwersten Behinderungen geboren. Der BGH weist die Schadensersatzklage des Kindes ab (aaO 250 ff). Weder gebe es eine Pflicht zur Abtreibung, noch besitze das Kind einen Anspruch auf seine Nichtexistenz: „Der Mensch hat grundsätzlich sein Leben so hinzunehmen, wie es von der Natur gestaltet ist, und hat keinen Anspruch auf seine Verhütung oder Vernichtung durch andere“ (aaO 254). Die Differenz zwischen Leben (als Behinderter) und Nichtleben entzieht sich einer Bewertung in Geld. Solange seine Eltern leben, bietet ein Schadensersatzanspruch gegenüber dem Unterhaltsanspruch des Kindes gegen seine Eltern auch keine entscheidenden Vorteile. Anders nach deren Tod. Insoweit wäre durchaus zu erwägen, den Arzt zumindest zur Zahlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs zu verpflichten, bevor man das Kind der Sozialhilfe überantwortet. Für Ersteres Deutsch, Anm. JZ 1983, 451 f.
Den BGH schreckt auch noch eine andere Vorstellung (BGHZ 86, 240, 255): Würde man Ansprüche wegen „wrongful life“ akzeptieren, müsste man dann nicht auch dem mit einer vererblichen Krankheit geborenen Kind Schadenersatzansprüche gegen seine Eltern gewähren, weil sie die Zeugung nicht unterlassen haben, obwohl sie die Erbkrankheit kannten? (So in der Tat Heldrich JZ 1965, 593, 599; MüKo-Gitter3 § 1 Rn 37 [1993], sogar bei fahrlässigem Verhalten der Eltern!) Gleich wie man die Schadensproblematik entscheidet, muss man hier doch die freie Entscheidung der Eltern respektieren.
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Die Beispiele zeigen im Übrigen, wie wohltuend die formelle Bestimmung der Rechtsfähigkeit ist: Wie missgestaltet und behindert K auch sein mag, er ist rechtsfähig. Seine Rechtsfähigkeit hängt ausschließlich von seinem Menschsein ab, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften oder Leistungsfähigkeit. Dieser Grundsatz, der für das BGB so selbstverständlich ist, dass es ihn nicht ausspricht, bedeutet einen großen Fortschritt gegenüber älteren Rechtsordnungen, die die Rechtsfähigkeit von der Herkunft (Staats-, Familien-, Stammesangehörigkeit) oder bestimmten Eigenschaften (Wehrfähigkeit) des Menschen abhängig machten.
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Lösungsskizze zu Fall 1 (Rn 1):
Der Fall bietet keine Aufbauschwierigkeiten; die obige Darstellung ist im Wesentlichen schon wie eine Klausur aufgebaut. In einer Klausur müsste nur alles „Belehrende“ aus den Ausführungen gestrichen werden. Eine knappe Gliederung sähe etwa wie folgt aus:
I. | Gefragt ist nur nach Ansprüchen des K gegen B. Zunächst sind die Anspruchsgrundlagen zu suchen. 1. Anspruch des K aus § 823 I? Hier ist keines der absoluten Rechte verletzt worden, deshalb kein Anspruch aus § 823. 2. Anspruch aus § 823 iVm § 844 II? a) Schuldhafte Tötung des G durch B, § 823 I. b) Hypothetische Unterhaltspflicht des G gegenüber K, § 844 II 1. c) Jedoch K ist im Zeitpunkt der Tötung des Unterhaltsverpflichteten G nicht rechtsfähig, § 1. Als mögliche Ausnahme ist § 844 II 2 zu untersuchen. Die Vorschrift setzt voraus, dass der Unterhaltsberechtigte zu diesem Zeitpunkt bereits erzeugt ist. Deren analoge Anwendung zugunsten des noch nicht einmal Erzeugten scheidet aus. 3. Für den Anspruch aus § 7 iVm § 10 II 2 StVG gilt das Gleiche wie unter 2. |
II. | Anspruch des K gegen A aus § 823? 1. Ist „ein anderer“ verletzt? Auf die Geburt kann insoweit nicht abgestellt werden, da K schon krank geboren ist. 2. Aber K war erzeugt. Die Möglichkeit der Gleichstellung des Erzeugten mit dem Geborenen zeigen §§ 844 II 2, 1923 II. In § 823 fehlt eine solche Vorschrift, aber eine Analogie ist hier möglich und geboten. 3. Die übrigen Voraussetzungen sind gegeben (im Einzelnen zu prüfen und darzustellen, vor allem die Kausalität und das Verschulden des A). |