Читать книгу Jüdische Bibelauslegung - Hanna Liss - Страница 10
1. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Auslegungstradition
ОглавлениеIn der Folge der exegetischen Diskurse in der rabbinischen* Lehrliteratur des Midrasch* (vgl. Langer 2016) ist die Bibelkommentierung ein Signum der entstehenden süd- und westeuropäischen Kultur- und Wissenschaftstradition, und dies in erstaunlichem, |2|wenn auch leicht zeitversetzten Gleichklang zwischen dem Bibelstudium im christlich-lateinischen wie im jüdisch-aschkenasischen* und sefardischen* Westen Europas. Verschiedene Ebenen der Auseinandersetzung mit dem Text der Bibel gilt es dabei zu erschließen und im Prozess der Entstehung eines Kommentars zu verorten: Die Textstandardisierung stellt eine Ebene dar und die grammatisch-linguistische Beschäftigung mit der hebräischen Sprache (vor allem: der biblischen Sprache) eine weitere. Letztere ist vergleichbar mit der Rolle der wesentlich insular geprägten Grammatik für die Formierung der lateinischen Geisteswelt, darf aber gleichzeitig noch nicht mit einer textchronologisch fortlaufenden Kommentierung des biblischen Textes verwechselt werden. Daher bildet erst der ausgebildete diskursive Kommentar seit dem Hochmittelalter in diesem Buch den Schwerpunkt. Er spiegelt die vielgestaltigen Prozesse der Auseinandersetzung mit dem heiligen Text nach innen wie nach außen über viele Jahrhunderte hinweg wider. Die Schwerpunkte für die Bearbeitung der Quellen zur jüdischen Bibelauslegung liegen für den Zeitraum vom 10. bis zum 14. Jahrhundert vor allem in Spanien, der Provence und Nordfrankreich, für die Renaissancezeit in Italien sowie für das 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Osteuropa und in Deutschland. In der Mitte des 20. Jahrhunderts finden wir die akademische jüdische Bibelauslegung vor allem in Israel und den USA, und erst in den letzten Jahren kehrt die jüdische Bibelauslegung an einige neu gegründete jüdische Institutionen nach Deutschland zurück.
Die Juden in allen geographischen Räumen schrieben ihre Bibelkommentare nicht im luftleeren Raum des theologischen Disputs, sondern nahmen in unterschiedlichem Maße Bezug auf die sie umgebenden Kulturen und Literaturen und vor allem: Sie legten die Bibel für sich als eine sich in je unterschiedlichen Kontexten befindliche Gruppe aus. Die Beschäftigung mit jüdischen Kommentaren zur Bibel bedeutet daher gleichzeitig, die intellektuelle Kreativität in unterschiedlichen Epochen und sozialen Räumen darzustellen. Jüdische Denker und Exegeten sollen also weniger als ausschließlich Reagierende auf die durch die nicht-jüdische Gesellschaft gestaltete Geschichte (Kreuzzüge; Almohadenverfolgungen; russische Pogrome; Nazideutschland) wahrgenommen werden, sondern als Autoren, die den Aufbau eigener kultureller und literarischer Räume – allen Widerständen zum Trotz – aktiv mitgestaltet haben.
Jüdische Bibelauslegung im MittelalterDas jüdische Mittelalter wird beherrscht von Persönlichkeiten wie den frühen Masoreten, den Geonim Babyloniens wie R. Sa‘adja Gaon und Schemu’el ben Chofni, für Nordfrankreich R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi), R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam), für Spanien und die Provence R. Avraham ibn Ezra, den Mitgliedern der Familie |3|Qimchi und R. Mosche ben Nachman (Ramban; Nachmanides). Alle diese Exegeten betrieben das Studium und die Auslegung der Bibel nicht nur als eine eigene Disziplin, die eine entsprechende Literaturgattung nach sich zog; vielmehr widmeten sie sich der Bibel auch vor einem bei den einzelnen je unterschiedlichen, aber stets explizit formulierten hermeneutischen Hintergrund und mit einem je verschieden zu bestimmenden exegetischen Anspruch (z.B. die Herausforderung durch die Karäer*, die sog. Peschat-Exegese*; die Auseinandersetzung mit der lateinischen Bibelauslegung usw.).
Die Juden in der RenaissanceDie Zeit der jüdischen Renaissance in Italien zeichnet sich dadurch aus, dass der jüdische Bibelausleger in seinem zivilen Beruf (beispielsweise als Arzt oder Financier) in die nicht-jüdische Öffentlichkeit tritt und diese Öffentlichkeit wiederum Eingang in seine Bibelkommentare findet. In der Konsequenz entstehen, ausgehend vom biblischen Text, archäologische (Azarja dei Rossi), poetologische (Messer Leon), staatspolitische (Abravanel) oder militärhistorische (Portaleone) Abhandlungen, die oftmals gar nicht mehr einem Bibelkommentar sensu stricto entsprechen. Diese Werke sind aber dennoch in Auswahl vorzustellen, um einen Eindruck davon zu vermitteln, welchen Veränderungen die Bibel und der Umgang mit ihr in diesen Zeiten ausgesetzt war.
Jüdische Bibelauslegung in Neuzeit und ModerneIm 15. und 16. Jahrhundert finden wir eine Reihe von Hebraisten und Textforschern, die sich vor allem der Masoraforschung und der Erstellung des biblischen Textes widmen. Bei dem italienischen Gelehrten Jedidja Salomon Raphael Nortzi (1560–1626; Hauptwerk Minchat Schai; gedruckt in Mantua erst 1742) wird vor allem die orientalische Masora, die auf dem Weg über Spanien nach Italien gelangte und durch den gedruckten textus receptus* vermittelt wurde, zum Instrument für kritische Textforschung: Unter dem Einfluss des wahrscheinlich ebenfalls aus Italien stammenden Gelehrten Menachem b. Jehuda de Lonzano (1555–1624; Penkower 2014), bestand Nortzis Interesse darin, die Bibel textkritisch aufzuarbeiten. Hier hat sicher auch die Auseinandersetzung mit der christlichen Hebraistik Pate gestanden.
Im 18. Jahrhundert hatten sich die wenigen jüdischen Gelehrten, die sich mit der Bibel und nicht in erster Linie mit dem Talmud* beschäftigten, vor allem mit der beginnenden protestantischen Bibelwissenschaft auseinanderzusetzen, die sich vornehmlich der sog. ,höheren Kritik‘ verschrieben hatte (vgl. Liss 2004). Die Textkritik, die ,niedere Kritik‘, diente ausschließlich der Erarbeitung des ,besten‘ Textes, d.h. der Annäherung an einen ,Urtext‘. Demgegenüber und in deutlicher Konkurrenz zur christlichen Exegese suchte Naphtali Herz Wessely (1725–1805) wiederum unter Einbeziehung der Masora, d.h. vor allem der Vokalisierung, der Akzentsetzung und |4|weiterer Metatexte, den Bibeltext philologisch gründlich zu kommentieren. Hebräische Philologie und Auslegungstradition werden hier zusammengebunden und die Masora um ihrer exegetischen Qualität willen konsultiert.
Das 19. Jahrhundert markiert dann in Teilen endgültig die Umbruchzeit von der traditionellen jüdischen Bibelauslegung zur historisch-literaturkritischen Erforschung der Bibel bzw. die damit einhergehende Auseinandersetzung um diese sehr unterschiedlichen Auslegungsparameter. Die diese Zeit prägenden Auseinandersetzungen um das Verständnis der Hebräischen Bibel können hermeneutisch nicht hoch genug veranschlagt werden und prägen die jüdische Bibelauslegung bis heute.