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|8|1.1. Die Hebräische Bibel zwischen Text und Auslegung a. Die Bibel als Text und Schriftencorpus

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Die Handschriftenfunde aus QumranDer biblische Text wurde im babylonisch-persisch-palästinischen Kulturraum verfasst und über Jahrhunderte hinweg als reiner Konsonantentext überliefert. Seit dem 1. Jahrhundert v.u.Z. wurde der Text sukzessive standardisiert (z.B. Plene- und Defektivschreibung* sowie die besondere Schreibung einzelner Wörter oder Buchstaben). Weltbekannt sind heute die Textfunde von Qumran. Unter ihnen befinden sich die ältesten Bibelhandschriften, die uns erhalten sind (z.B. eine vollständig erhaltene Jesaja-Rolle mit der Signatur 1QIsa: goo.gl/vvx3Gi). In Qumran befanden sich mehr als 200 Bibelhandschriften (Stökl Ben Ezra 2016; VanderKam 2010; 2012; VanderKam/Flint 2002), die zwischen 200 v.u.Z. und 70 u.Z. entstanden sind (Tov 2012; ein gutes Schaubild bietet Fischer/Würthwein 2009, 88). Emanuel Tov teilt die Qumran-Bibelhandschriften folgendermaßen ein: 1. Manuskripte mit typischer Qumran-Orthographie 2. Manuskripte aus proto-masoretischer Tradition 3. Manuskripte aus prä-samaritanischer* Tradition 4. Manuskripte als Vorlage der griechischen Septuaginta* (LXX) (Wewers 2005) 5. Sonstige nicht einzuordnende (Lange 2015; 2009; Ulrich 2010). Alle biblischen Texte sind hier unvokalisiert. Auch die in diesen Rollen erhaltenen Abschnittskennungen entsprechen noch nicht unbedingt der heutigen Einteilung in Wochenabschnitte (paraschijjot). Die heutige Forschung zum samaritanischen Pentateuch insistiert darauf, dass dieser Text der samaritanischen Tora auf den prä-samaritanischen Text zurückgeht, wie ihn die Qumran-Handschriften bieten (entspricht der in Tov 2012 genannten Gruppe Nr. 3), und nur eine kleinere Anzahl Abweichungen vom späteren masoretischen Text als spezifisch samaritanische Ideologie zu werten sei (Tal/Florentin 2010, 11–42; Fischer/Würthwein 2009, 96–111; Schorch 2004, 14–75).

Der Kanon der Hebräischen BibelDas (deuterokanonische) Buch Ben Sira wurde 190–175 v.u.Z. auf Hebräisch verfasst und durch seinen Enkel nach 132 ins Griechische übersetzt. Durch die Genizafunde* sowie den Fund der Fragmente von Metzada (Masada) durch Yigael Yadin ließ sich ein Großteil des hebräischen Konsonantentextes rekonstruieren (Fischer/Würthwein 2009, 55). Ben Sira spricht in seinem Prolog (I,8) schon vom „Gesetz, den Propheten und den anderen Schriften“, kennt also bereits eine Einteilung in verschiedene Büchergruppen. Wie viele Bücher (d.h. der Textumfang en gros, nicht der genaue Wortlaut) Tora und Propheten hatte, erfahren wir erst aus den Schriften des 1. Jahrhunderts u.Z. Der jüdische Historiker und wichtigste Repräsentant der jüdisch-hellenistischen Literatur, |9|Flavius Josephus (ca. 37/38–nach 100 u.Z.), kennt vermutlich bereits die Dreiteilung des biblischen Kanons (vgl. aber die Diskussion bei Mason/Kraft 1996, 232–235), rechnet jedoch lediglich die Psalmen, das Hohelied, Proverbia und Qohelet zu den Schriften (ketuvim). Die Anzahl der heiligen Bücher wird bei ihm mit 22 angegeben, was vermutlich auf die Zusammenschau von Richter/Rut einerseits und Jeremia/Klagelieder (Ekha) andererseits zurückgeht (vgl. Josephus, Contra Apionem I, §§ 37–41). Die sog. Septuaginta (LXX) enthält nicht nur die Bücher der hebräischen Bibel, sondern weitere griechische Schriften, darunter die Bücher 1. Esra, Judit, Tobit, 1.–4. Makkabäer; Ben Sira (Sirach) und die Psalmen Salomos (zum Ganzen übersichtlich Fischer/Würthwein 2009, 115–118).

Konsolidierung des hebräischen BibeltextesDie Konsolidierungsprozesse des biblischen Textes bilden ab, wie ernst die rabbinische* Elite die Hebräische Bibel als Text nahm, d.h. zunächst einmal als Zeichenmenge erfasste. Am Anfang standen Zahlen: Nach dem Babylonischen Talmud* (bQid 30a) enthält die Tora (Tora-Rolle) 5888 Verse und 304805 Buchstaben. Die ersten Masora-Gelehrten aus Tiberias zählten 5845 Verse, 79856 Wörter und 466945 Buchstaben. Dieser Unterschied lässt sich dadurch erklären, dass es zu rabbinischer Zeit in Babylonien und Eretz Israel verschiedene Traditionen zum Beginn und Ende kleinerer Sinneinheiten gegeben hat (Liss 2019a, 9; Würthwein 1973). Die Anzahl der Wörter und Buchstaben, der Zahlwert eines Wortes oder Buchstabens kann dabei ebenso ernsthaft in die Auslegung eingehen wie ein inhaltliches Motiv. Komplementär dazu kultivierten die rabbinischen Schriftausleger ein sehr formales Schriftverständnis, das Arnold Goldberg als die rabbinische Unterscheidung zwischen Schrift als Mitteilung und dem in der Schrift Mitgeteilten vorgestellt hat: Die Gültigkeit und damit je neue Aktualisierung der Schrift kann nur durch das erstgenannte Verständnis (Schrift als Mitteilung) erreicht werden. Das in der Schrift Mitgeteilte gehört der Vergangenheit an und kann von daher nie eine absolute Gültigkeit beanspruchen (Goldberg 1987).

Bibelübersetzungen und TargumimDas Hebräische war für die Rabbinen leschon ha-qodesch „heilige Sprache“. Sie ist die Sprache der göttlichen Offenbarung. Nach der rabbinischen Tradition wurden auch ha-ketav we-ha-mikhtav, d.h. die Form der Buchstaben und die in die Tafeln eingegrabene Schrift (Gottes) schon vor der Welt am Abend des Schabbat, des sechsten Tages, erschaffen (zum Ganzen Liss 2019c). Auch die Buchstabenform war mithin integraler Bestandteil der Offenbarung.

Jüdisch-griechische Übersetzungen der BibelVor dem Hintergrund dieses Verständnisses von ‚Heiliger Schrift‘ muss auch das jüdische Übersetzungsverständnis erklärt werden. Das rabbinische Verständnis (als Hermeneutik der Tannaiten* seit dem 1. Jahrhundert u.Z. und später der rabbinischen Amoräer*) |10|in Babylonien und Eretz Israel unterscheidet sich dabei grundlegend vom jüdisch-hellenistischen. Bei den jüdisch-hellenistischen Autoren wird das Thema Übersetzung mit Blick auf die adäquate Wiedergabe diskutiert, denn es stand außer Frage, dass eine Übersetzung als gleichwertiger Ersatz des Urtextes galt (Veltri 1994, 20).

Die SeptuagintaDie Septuaginta sowie einige Texte von Qumran betonen den Inhalt der Offenbarung. Dieser, und nicht primär die äußere Form, sei auch in der Übersetzung zu bewahren. Die Vorstellung der Unübersetzbarkeit gibt es hier nicht (Veltri 1994, 145). Nach Philo von Alexandrien transportierten die Übersetzer der Septuaginta „Name und Sache“ des Hebräischen, was sie zu hierophántai mache, also solchen, die heilige Geheimnisse enthüllen (Veltri 2002b, 42). Die Septuaginta galt als schriftliche Bibel, die auch im Gottesdienst verwendet wurde (Veltri 2002b, 55). Eine wortwörtliche Übersetzung (verbum e verbo) galt dabei als unpassend, weil die Bibel literarische Texte umfasst. Für die bessere Literatur sollte primär am Sinn orientiert übersetzt werden (sensus de sensu).

Die Übersetzung des AquilaDass das rabbinische Judentum sich dennoch im Laufe der Zeit von der Septuaginta abgewandt und sogar eine eigene griechische Übersetzung mit der Übersetzung Aquilas angenommen hat (jMeg 1,11; vgl. zum Ganzen Veltri 2002b, 78), liegt an der Funktion dieser Übersetzung und ihrem Verhältnis zum hebräischen Text: Während die Septuaginta die Hebräische Bibel ersetzte, setzte die Übersetzung des Aquila (1./2. Jahrhundert; fragmentarisch überliefert in der Hexapla des Origenes, vgl. Field 1875, und in Fragmenten, vgl. de Lange 2015) sie nicht nur zwingend voraus, sondern definierte sich selbst als dem hebräischen Bibeltext subordiniert und diesem zuarbeitend. Diese Übersetzung ist eine Übersetzung verbum e verbo und soll damit eine Erklärung des hebräischen Textes mehr als eine Übertragung ihres Inhaltes ins Griechische sein, was sich auch daran zeigt, dass das Griechische dem Hebräischen durchgehend angepasst wurde.

Dass die griechische Bibel von Juden von der Antike bis ins Mittelalter und darüber hinaus rezipiert wurde, zeigt insbesondere Nicholas de Lange (de Lange 2015; 2010; 1996; Leipziger 2018).

Der aramäische TargumDie Übersetzung des Aquila ist daher ein Targum, entsprechend dem aramäischen Targum*, der eben keine schriftliche Bibel in anderer Sprache ist, sondern zunächst mündlich, dann aber auch schriftlich, die Lese- und Rezitier-Performanz des kanonisch genau geregelten hebräischen Textes auslegend begleitet. Darin ist der Targum Teil der mündlichen Tora (bTem 14b; SifDev 161; zum Ganzen Smelik 1999).

Synagogale Lesung und TargumDie Rabbinen unterschieden sehr deutlich zwischen dem Rezitieren der Tora – also der rituell bis ins Detail festgelegten Wiedergabe |11|der Wörter – und der Darlegung ihrer Bedeutung. Dies zeigt sich auch an den Vorgaben zur rituellen Performanz: Vorleser und Übersetzer (meturggeman) dürfen personell nicht identisch sein: Der Vorleser konzentriert sich auf die Tora-Rolle, der Übersetzer muss aus dem Gedächtnis rezitieren (Stemberger 2009, bes. 97–104). Auf dieser Linie liegt es daher auch, dass die späteren gaonäischen* Quellen wie Massekhet Sofrim und Massekhet Sefer Tora (Sof I,7 oder SefT I,6), die sich mit Schreiberregularien befassen, eine Übersetzung grundsätzlich ablehnen (Levine 1996).

Leseordnung im GottesdienstMit Beginn der rabbinischen Zeit lässt sich ein synagogaler Gottesdienst mit Schriftlesung (Tora; Propheten), Schriftauslegung und Gebet nachweisen (Leipziger 2018; Stemberger 2009, bes. 97–104; Schiffman 1999; Maier 1997; Mann 1966). Ist auch das Alter einer festen Leseordnung nicht eindeutig zu bestimmen, so ist eine solche spätestens seit der talmudischen Zeit nachweisbar (vgl. bMeg 29b), ist jedoch auch schon für die Zeit von Mischna* und Tosefta* anzunehmen, wie man an der Nennung der Abschnitte für die sog. ‚vier besonderen paraschijjot‘ (vor Pesach: Scheqalim; Sachor; Para [Aduma]; ha-Chodesch) erkennen kann (tMeg III,1–4.10; mMeg III,4–6).

Die ToralesungAus talmudischer Zeit sind unterschiedliche Einteilungsprinzipien für die Toralesung, die Rezitation der fünf Bücher Moses, bekannt. Der palästinischen Unterteilung in eine Leseordnung, bei der die Abschnitte (sedarim) auf einen dreijährigen Lesezyklus verteilt wurden, stand die babylonische mit Wochenabschnitten (paraschijjot) gegenüber, die auf einen einjährigen Lesezyklus zugeschnitten war und sich in nachtalmudischer Zeit auch sukzessive durchgesetzt hat. Die Mischna legt bereits fest, dass am Montag, am Donnerstag sowie am Schabbat Nachmittag Toralesung stattfinden müsse, und gibt dabei noch eine Reihe zusätzlicher Regularien an (mMeg IV,1–4).

Das Punktations- und AkzentsystemDas Punktations- und Akzentsystem, für das die sog. Masoreten und ihre Vorgänger verantwortlich zeichnen, wurde sukzessive erst ab dem 5. Jahrhundert u.Z. entwickelt. Dabei waren jeweils unterschiedliche Autoritäten an der schriftlichen Überlieferung des biblischen Textes beteiligt: Die Soferim suchten den Konsonantentext zu stabilisieren, die Naqdanim versahen den Konsonantentext mit den Punktationen für Vokalzeichen sowie den Akzentzeichen (te‘amim). Die Masoreten schließlich stellten die eigentliche Masora an den Rändern des Textes zusammen. Sie notierten dabei Lese- und Schreibabweichungen ebenso wie die Häufigkeit bestimmter Wörter, eine abweichende Aussprache oder andere textliche Besonderheiten. Die Masora ermöglichte einerseits eine unbedingte Fixierung des Textbestandes, andererseits jedoch auch die Notie|12|rung grammatikalischer Abweichungen oder textlicher Korruptelen. Darüber hinaus, dies zeigen neuere Studien zur Masora, waren die Masoreten auch darum bemüht, Interpretationen, die sie aus dem Midrasch* kannten und für wichtig genug erachteten, über intertextuelle Bezüge und Anspielungen im Bibeltext selbst zu verankern und auch dies in den masoretischen Anmerkungen festzuhalten (Martín-Contreras/Miralles-Maciá 2014; Martín-Contreras 2005).

Die Anfänge der masoretischen TraditionsbildungenAus (west-)europäischer Sicht waren die Zentren der masoretischen ‚Schulen‘ (wohl eher einfach: jeschivot*) im Osten: Da gab es zum einen Tiberias in Eretz Israel, zum anderen die Hochburgen der jüdischen Talmud-Akademien (Jeschivot) in Babylonien: Sura und Pumbeditha. Neben der Erstellung der masoretischen Bibeln verfassten die masoretischen Gelehrten auch erstmals grammatische Sammlungen und masoretische Listen, die auch einzelnen Autoren zugeordnet werden können. Die Bibel zu lesen und zu verstehen, bedeutete für sie in erster Linie, einen philologischen und grammatischen Zugang zum biblischen Text zu wählen. Allerdings zeigt ihre Arbeit, dass sie die rabbinische Tradition gleichfalls sehr ernst genommen haben. Der in bSot 20a formulierte Appell zur Texttreue – „Mein Sohn, sei vorsichtig, denn deine Arbeit ist Arbeit des Himmels: Wenn du auch nur einen Buchstaben auslässt oder einen hinzufügst, würde die ganze Welt zerstört werden“ – wird durch die Fixierung von Ausspracheregeln oder Textstatistiken durch die Masoreten beispielhaft eingelöst. Die ‚Mitte der Tora‘, ein Ausdruck, der heute vor allem im christlichen Auslegungskontext immer wieder zu hören ist und dabei auf zentrale inhaltlich-theologische Themen abzuheben sucht, bestimmten die Masoreten auf der Basis der rabbinischen Zählung gerade nicht inhaltlich, sondern nummerisch. Sie liegt nach dem Codex Leningradensis (fol. 62v) in dem Wort gachon (‚Bauch‘) in Lev 11,42, dessen dritter Buchstabe Waw zur Hervorhebung dieser zentralen Position sogar noch vergrößert geschrieben wird, und diese Schreibung, die sich bereits in dem spätrabbinischen Traktat Massekhet Sofrim (IX,2) findet, hat sich bis in heutige kritische und nicht-kritische Bibelausgaben und Tora-Rollen durchgehalten.

Die wichtigsten Masoreten-FamilienMit den Gelehrtenfamilien Ben Ascher und Ben Naftali treten erstmals einzelne, wenn auch historisch nur schwer greifbare, Individuen der jüdischen Geistesgeschichte auf den Plan. Sie sind die wichtigsten Repräsentanten der tiberiensischen Masora, und wir verdanken ihnen die wichtigsten noch heute erhaltenen orientalischen Bibelhandschriften (Dotan 1990; 1977). Von Ascher dem Älteren (2. Hälfte 8. Jahrhundert), Mosche ben Ascher (2. Hälfte 9. Jahrhundert), Aharon ben Ascher (1. Hälfte 10. Jahrhundert), |13|Schelomo ben Buj‘a’a und Mosche ben David ben Naftali (1. Hälfte 10. Jahrhundert) wissen wir kaum mehr als ihre Namen, wie sie in den Kolophonen* der Handschriften begegnen. Mosche ben Ascher schrieb 895/96 den Codex Cairensis, Aharon ben Ascher war für die Vokalisierung, Akzentuierung und Masora des Aleppo-Codex verantwortlich, dessen Konsonantentext wiederum von Schelomo ben Buj‘a’a geschrieben wurde (Dotan 2007). Ob sie Karäer* waren, wissen wir nicht (Diskussion bei Zer 2009; Dotan 1977). In jedem Fall bildeten die Karäer zu diesem Zeitpunkt (8.–10. Jahrhundert) ohnehin noch keine religionsgesetzlich eigenständige Gruppierung. Dass sich einzelne Gelehrte mit ihren grammatischen und philologischen Schriften aus einer bis dahin eher kollektiv greifbaren Masse herauszuheben suchten, lag weniger an der Gegenüberstellung von ‚karäisch‘* und ‚rabbanitisch‘* als vielmehr daran, dass sich an der Schwelle zum jüdischen Mittelalter eine formale Veränderung oder besser Verschiebung von der Traditionsliteratur hin zur Autorenliteratur vollzog, die enorme hermeneutische Konsequenzen mit sich brachte (zum Begriff ‚Autorenliteratur‘ im Folgenden Kap. 2.1.c.).

Hebräische Bibel-Manuskripte des HochmittelaltersHeute kennen wir ca. 2700 datierte hebräische Bibel-Handschriften vor 1540; von diesen wurden 41 in der Zeit vor dem 13. Jahrhundert geschrieben, nämlich sechs im 10. Jahrhundert, acht im 11. Jahrhundert und 27 im 12. Jahrhundert (Tov 2012, 25f.; nach Beit Arié 1978 waren es im 12. Jahrhundert 22 MSS). Man kann davon ausgehen, dass eine ganze Reihe weiterer Handschriften verloren ging und/oder mutwillig zerstört wurde. Deutlich wird aber, dass die Hochphase der spanischen, provencalischen und nordfranzösischen Bibelauslegung mit einer intensiven Produktion von Bibelhandschriften einherging.

Die wichtigsten orientalischen BibelhandschriftenIn der heutigen Bibelwissenschaft und Exegese finden fast ausschließlich orientalische Bibelcodices Beachtung, die aus der tiberiensischen ben-ascherianischen Schule stammen. Die wichtigsten sind der Codex London, British Library Or. 4445 (925 u.Z., 186 Folia* Pentateuch, unvollständig), der Aleppo-Codex (930 u.Z., 295 Folia Vollbibel, unvollständig), der Codex St. Petersburg, Russian National Library, Firkovich Evr. I B 19a (Codex Leningradensis, ca. 1008 u.Z.), der Codex S (Jerusalem MS 24o5702; Pentateuch, ca. 10. Jahrhundert), der Codex S1 (früher: Sassoon 1053; Vollbibel, 10. Jahrhundert), und der Kairoer Prophetencodex (Codex Cairensis; ca. 895 u.Z.; zum Ganzen Ofer 2019).


|14|Abb. 1: St. Petersburg, Russian National Library, Firkovich Evr. I B 19a, fol. 118v.

Mise-En-TexteAnders als die Qumran-Manuskripte, die kein einheitliches Schema und insgesamt sehr viel weniger Textstrukturierungen aufweisen (Askin 2019; Pajunen 2019; Schücking-Jungblut 2019), zeigen diese und alle nachfolgenden mittelalterlichen Bibel-Codices eine mise-en-texte, bei der der Text vielfach in (Sinn-)Abschnitte eingeteilt wird, die entweder als ‚geschlossen‘ (setuma) oder ‚offen‘ (petucha) ausgezeichnet wurden (Oesch 1979). Erst spätere Handschriften weisen auch Kapitelangaben auf, z.B. das MS Rom Vat. ebr. 468 (La Rochelle; 1215), das die Kapitelzählung in hebräischen Buchstaben bietet. In welchem Verhältnis diese Einteilung zur zeitlich früheren Kapiteleinteilung des Erzbischofs von Canterbury, Stephan Langton (ca. 1155–1228), steht, muss noch geklärt werden.

Die MasoraDie sog. Masora umfasst alle Informationen (Grapheme, Notizen, mise-en-page, Referenzen, Akzent- und Vokalisationszeichen) zum hebräischen Konsonantentext, die in erster Linie den (Muster-)Codex, aber auch den Sefer Tora*, die Tora-Rolle, betreffen und darin eine der Tradition entsprechende Weitergabe des masoretischen Textes gewährleisten. In den orientalischen Bibelhandschrif|15|ten finden wir masoretische Noten in den vertikalen Marginalien (masora parva), sowie als masora magna die Erläuterungen, Merkverse und Stellenverweise (simanim) am oberen und unteren Rand einer Seite. Zumeist werden als masora finalis die separaten masoretischen Noten und Listen zwischen den Büchern oder am Ende des Manuskripts zusammengestellt.

Die westeuropäischen BibelhandschriftenDie westeuropäischen (aschkenasischen*) Bibelhandschriften des 11. bis 13. Jahrhunderts zeigen vielfach schon darin ein anderes Layout, als diese Handschriften häufig den Targum* interlinear integrieren. Auch die Masora nahm oftmals eine andere Form an, als dies in den orientalischen und sefardischen* Codices üblich war (Liss 2018a; S. Offenberg 2016; Attia 2015a; 2015b; Liss 2012; Tahan 2007). Seit dem 12. Jahrhundert tauchen in Frankreich und Deutschland Teil- und Vollbibeln auf, in denen die Listenmasora in ornamentalen Formen auf der Seite platziert und in Form von Fabelwesen, zoomorphen und anthropomorphen Darstellungen als masora figurata gestaltet wurde. Allerdings war diese masora figurata bereits mit den ersten Inkunabeln* und den nachfolgenden Frühdrucken vergessen. Der Druck prägte eine Text- und Layout-Tradition der Masora aus, in der die aschkenasische Tradition sukzessive zugunsten der sefardischen* verdrängt wurde. In vielen Frühdrucken fehlen Masora magna/figurata und ihr Wegfall geht gleichzeitig mit einem Wechsel von Produzenten und Rezipienten (nun auch christliche Drucker und Hebraisten) sowie mit verändertem Text und Layout einher. Erst die Frühdrucke ab 1517 re-integrieren die Masora, allerdings nicht-figurativ und ohne weitere Sinnzuschreibungen. Der Verzicht auf figurative Masora lag zum einen daran, dass sie sich in ihrer künstlerischen Beschaffenheit nicht für handschriftliche oder im Druck erstellte Kopiervorgänge eignete, zum anderen wetterten die Hebraisten – auch die jüdischen – gegen diese aus ihrer Sicht unphilologische und unleserliche Darstellung (vgl. unten Kap. 7.3.f.). Die künstlerischen Darstellungen der Masora – damit aber gleichzeitig ihr eigenes philologisches Profil wie auch ihr exegetisches Potential – gerieten damit endgültig ins Abseits von Textüberlieferung und Bibelauslegung, und erst neuere Forschungen nehmen sich ihrer wieder an.

Masoretische Traktate des MittelaltersPraktisch zeitgleich mit den Bibelhandschriften entstehen auch die masoretischen Listenzusammenstellungen und Kommentierungen. Neben den aus den Masoretenschulen stammenden Werken wie Diqduqe ha-Te῾amim, Okhla we-Okhla und Sefer ha-Chillufim (‚Buch der Varianten‘; Dotan 1967) begannen auch die Gelehrten des 12. und 13. Jahrhunderts sich intensiv mit den masoretischen Traditionen zu beschäftigen (Ognibeni 1995; Men. Cohen 1986; Díaz Esteban 1975). Wie wir heute wissen, stammt die Rezen|19|sion der Hallenser Handschrift von Sefer Okhla we-Okhla aus der Feder des Tosafisten* Menachem aus Joigny (Penkower 1993b). Bereits R. Gerschom Me’or ha-Gola und sein Bruder Makhir ebenso wie Rabbenu Tam, der Bruder des berühmten Tosafisten und Bibelauslegers R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam), beschäftigten sich mit der Masora. Und neben dem schon erwähnten Et Sofer ‚Feder des Kopisten‘ von Radaq verfasste auch der Spanier Meïr ben Todros ha-Levi Abulafia (ca. 1170–1244) sein masoretisches Werk Sefer Masoret Sejag la-Tora ‚Das Buch der (masoretischen) Überlieferung als Zaun um die Tora‘ (E. Breuer 1996a, 33–76).


|16|Abb. 2: London, British Library, Or. 2091, fol. 203r.


|17|Abb. 3: London, British Library, Add. 21160, fol. 142r.


|18|Abb. 4: Paris, Bibliothèque Nationale de France, hébr. 5, fol. 119r.

Textgeschichte und BibelauslegungNeuere Forschungen an den westeuropäischen Bibel- und Kommentarhandschriften von ihren frühesten bislang bekannten Textzeugen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts zeigen dabei, dass die wissenschaftlichen Fragestellungen zur mittelalterlichen Bibel-Rezeption (z.B. Masoraforschung, jüdische Kommentarliteratur) im christlichen Kulturkreis wie insgesamt zur abendländischen Bibeltexttradition und Wissenskultur weniger an den bekannten ben-ascherianischen Handschriften, sondern nur an den westeuropäischen gelöst werden können (Liss/Petzold 2017). Dies zeigt gleichzeitig, dass die sog. ‚Rezeptionsgeschichte‘ des biblischen Textes im Hochmittelalter, ähnlich wie auch bei der Geschichte des Koran, noch unmittelbar zur ‚Text-Geschichte‘ dazu gehört (vgl. auch Neuwirth 2014).

Jüdische Bibelauslegung

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