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d. Wo und wie beginnt das jüdische Mittelalter?
ОглавлениеWas heißt Mittelalter?Zwar hatte schon die Renaissancezeit das medium aevum, das ‚mittlere Zeitalter‘, als Epoche zwischen der griechisch-römischen Antike und der eigenen Epoche der ‚Wiedergeburt‘ (Renaissance) charakterisiert und damit bereits eine über die christlich-heilsgeschichtliche Betrachtung hinausgehende profangeschichtliche Deutung von Welt und Geschichte eingeläutet, aber erst seit dem 18. Jahrhundert wurde die Geschichte in vollem Umfang nicht mehr als ‚Heilsgeschichte‘, d.h. als göttlich gelenkter menschlicher Handlungsraum verstanden. Man entwickelte vielmehr einen säkularen Zugang zur Geschichte, was auch erstmals eine umfassende Historiographie ermöglichte. In Aufnahme der Idee der Renaissancezeit, wonach die Antike das goldene Zeitalter, die aetas aurea, gewesen war, bekam ‚die Zeit danach‘ jenen Stempel aufgedrückt, der auch heute noch und völlig zu Unrecht, in den Köpfen der Leute spukt, nämlich das Mittelalter als das ‚düstere Zeitalter‘, das saeculum obscurum. Es wird im Folgenden auch darauf ankommen zu zeigen, dass gerade das jüdische Mittelalter nicht nur lebendig und vielschichtig war, sondern wie kaum je in späterer Zeit in der Lage, Spannungen und große Unterschiede religiöser und kultureller Art auszuhalten und durchzuhalten. Das jüdische Mittelalter ist gerade kein saeculum obscurum: so viel ‚Licht‘ und neue Ideen, wie in dieser Zeit entwickelt wurden und auch soziologisch das Judentum für alle weiteren Jahrhunderte geprägt haben, wünschte man sich heute einmal mehr wieder.
Das jüdische MittelalterCecil Roth hat das jüdische Mittelalter mit dem Jahr 711, der Eroberung Spaniens durch die Umayyaden, beginnen lassen (Roth 1946). Auch nach Gerhard Langer stellt die islamische Eroberung den terminus a quo dar (Langer 2016, 243). Diese chronologische Einteilung wird vor allem dann sinnvoll, wenn man chronologische mit geographischen Faktoren relationiert. Hier bietet sich |26|als Anknüpfungspunkt der erste sacco di Roma, die erste Plünderung Roms durch die Westgoten 410, an, mit der nachfolgend und vollends dann seit dem 8. Jahrhundert eine Verschiebung des politischen, kulturellen und religiösen Schwerpunktes vom Mittelmeerraum (einschließlich des Nahen Ostens und Nordafrikas) nach Süd- und Westeuropa erfolgte. Die intellektuellen Leistungen, die sich in den jüdischen Literaturen des Mittelalters niederschlugen, entwickelten sich dabei in zwei geographischen Räumen und Kulturkontexten, die erst von der Mitte des 11. Jahrhunderts an langsam zusammenwuchsen: im muslimischen Nordafrika und Spanien (Sefarad*) und im christlichen West- und Mitteleuropa (Aschkenaz*; Tzarfat*). Auf eine kurze Formel gebracht könnte man sagen: Die Bibel ist ein Produkt des Ostens, ihre umfassende Kommentierung und eine anfängliche Verwissenschaftlichung des Diskurses darüber verschiebt sich seit dem 10./11. Jahrhundert zunehmend nach Westen. Eine ganz analoge Entwicklung lässt sich übrigens auch für das Talmudstudium beobachten: „Als die Sonne der östlichen Akademien unterging, ging die Sonne der westlichen Lehrhäuser auf“ (Reichman 2007, 38). Ein wichtiges Bindeglied zwischen dem antiken und spätantiken Judentum in Palästina und Babylonien und den neu aufkommenden Zentren in Nordafrika und Spanien stellt dabei die gaonäische* Bibelauslegung aus den Lehrakademien in Babylonien, vor allem in Sura, dar. Hier finden wir nicht nur erstmals greifbare literarische Spuren der Auseinandersetzung des rabbinischen Judentums mit den Karäern*, sondern auch eine intensive Rezeption der zeitgenössischen islamischen Theologie und Exegese. Damit einhergehend und wiederum unter dem Einfluss der Auseinandersetzung mit dem erstarkenden Islam treten jetzt erstmals einzelne jüdische Gelehrte als Denker und Autorenpersönlichkeit auf.