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1.2. Die Anfänge judäo-arabischer Grammatik und Schriftauslegung a. Der Beginn der philologischen und philosophischen Bibelauslegung

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R. Sa‘adja ben Josef al-FayyūmīDie wichtigsten Exponenten für eine beginnende Bibelkommentarliteratur sind gleichzeitig Repräsentanten der letzten Generationen der sog. Geonim* in Sura/Babylonien: R. Sa‘adja ben Josef al-Fayyūmī (882–942, auch bekannt als R. Sa‘adja Gaon) und R. Schemu’el ben Chofni (st. 1034). R. Sa‘adja war ein Ägypter, der seinen Weg über Palästina nach Babylonien fand und dort als Gaon* in Sura von 928 an bis zu seinem Tod amtierte. Ca. 998 |27|und damit einige Generationen nach R. Sa‘adja folgte als einer der letzten Geonim in Sura R. Schemu’el ben Chofni, der R. Sa‘adjas Werk fortsetzte und sich ebenfalls besonders der Bibelauslegung zuwandte.

R. Sa‘adja als SprachwissenschaftlerR. Sa‘adja, der nicht nur als Bibelexeget, sondern gleichermaßen als Philosoph, Sprach- und Rechtsgelehrter die Akademie in Sura wieder zu neuem Glanz gebracht hatte, beschäftigte sich nicht nur intensiv mit der hebräischen Sprache, sondern gleichermaßen mit der Hebräischen Bibel. Sein arabisch-hebräisches Wörterbuch (Egron; verfasst zwischen 905–925 u.Z. und bis 930 u.Z. mehrfach überarbeitet) zeigt eine ausgeprägt philologische Beschäftigung mit der Bibel, insofern ca. 80 % der dort gebotenen Einträge dem biblischen Schrifttum entspringen. In seinem Sefer Tzachut ‚Buch der Erlesenheit [der hebräischen Sprache]‘ diskutiert R. Sa‘adja (u.a.) die Buchstaben des Alphabets, diakritische Zeichen wie Dagesch* und Rafe*, die Vokale und Lautgesetze. Darüber hinaus ist er der wichtigste Vertreter der judäo-arabischen Gelehrsamkeit, von dem R. Avraham ibn Ezra später sagen sollte, er war in jeder Hinsicht der führende Kopf (rosch ha-medabberim be-khol maqom).

Bibelauslegung und Koran-ExegeseViele der Bibelkommentare von R. Sa‘adja sind mittlerweile kritisch ediert. Hier waren auch die Funde aus der Geniza* in Alt-Kairo von unschätzbarem Wert (Vollandt 2009). Übersetzungen (außer ins Hebräische) liegen aber bislang für die wenigsten vor. R. Sa‘adjas Schriften zur Bibel zeigen einen deutlichen Einfluss des islamischen Genre des arabischen Tafsīr* (‚Interpretation‘; vgl. Vollandt 2015; 2014). Der Tafsīr ist textchronologisch nach den einzelnen Suren des Koran aufgebaut. R. Sa‘adja übersetzte neben dem Pentateuch (Zucker 1959) das Buch Jesaja, aus den Schriften die Bücher Ester, Mischle (Proverbia) und Psalmen sowie das Buch Daniel ins Mittelarabische und fertigte für einige der biblischen Bücher einen Kommentar an, unter anderem den Kommentar zum Pentateuch (arab. Kitāb al-Azhar ‚Das Buch des Glanzes‘), den fünf Megillot* und dem Buch Ezra. Später arrangierte er noch eine Bibelübersetzung ins Arabische (‚Tafsīr‘), die in großen Teilen paraphrasierend gestaltet ist und darin zwischen Übersetzung und exegetischer Explikation changiert (Vollandt 2015, bes. 80–84). Diese kommt dem islamischen Tafsīr als exegetischer Explikation des Koran bis in die Terminologie und Phraseologie hinein sehr nahe, und dies auch äußerlich, denn anders als viele judäo-arabische Gelehrte verwendete er nicht das hebräische, sondern das arabische Alphabet. Als wichtigster Repräsentant der islamischen Koran-Exegeten gilt heute der aus der iranischen Provinz Tabaristan stammende Abû Dscha‘far Muhammad ibn Dscharīr ibn Yazīd at-Tabarī (st. 923 in Bagdad), den R. Sa‘adja nachweislich |28|gekannt und in seinen Kommentaren verarbeitet hat. Insbesondere im Kommentar zum Buch Hiob lassen sich viele Gemeinsamkeiten mit den arabischen Auslegungen der Hiob-Passagen im Koran feststellen, wie auch umgekehrt Koran-Exegeten den Midrasch* für ihre Auslegungen heranzogen. R. Avraham ibn Ezra zufolge (kurzer Kommentar zu Gen 2,11 [ed. Weiser 1977]) übersetzte R. Sa‘adja Gaon die biblischen Bücher nicht allein für die jüdischen, sondern auch für seine muslimischen Zeitgenossen, damit niemand sagen könne, die Tora enthalte Wörter, deren Bedeutung man nicht kenne.

Die Rhetorik von Koran und PsalmenR. Sa‘adjas Psalmen-Kommentar stellt ein Parade-Beispiel dafür dar, dass sich die jüdische Bibelauslegung stets in lebendiger Auseinandersetzung mit gegnerischen oder zumindest konkurrierenden Gruppen vollzieht. Gegen die Karäer*, die die Psalmen zwar liturgisch verwendeten, in ihnen aber keinen göttlichen Anspruch zur moralischen Vervollkommnung des Menschen erkannten, insistierte R. Sa‘adja auf einem Verständnis der Psalmen als göttlicher Offenbarung an David, der sie als Prophet empfing, und stellte sie sogar mit dem Pentateuch auf eine Stufe. Der Pentateuch wie die Psalmen seien von Gott gegeben, um den Menschen zu einem gottgemäßen Leben zu führen. Gegen die muslimischen Zeitgenossen wiederum, die die rhetorische Eloquenz göttlicher Rede mit dem Koran auf dem Höhepunkt angekommen sahen, würdigte er in seinem Vorwort zum Psalmen-Kommentar deren rhetorische Kraft und sprachliche Vollkommenheit. Deshalb folgen in der Einleitung des Kommentars unmittelbar auf die philosophischen Grundlegungen die rhetorischen und sprachlichen Themen. Analog zu seinem Buch über die Elemente der Poesie zählt R. Sa‘adja fünf Grundformen menschlicher Rede auf: Ermahnung (Ps 78,1), (rhetorische) Frage (Ps 106,2), Erzählung (Ps 104,5), Imperativ/Gebot/Verbot (Ps 27,14; 37,1) sowie (Für-)Bitte/Gebet (Ps 90,14–15). Wie umfassend R. Sa‘adja seine Bibelauslegung betrieb, zeigt sich überdies auch daran, dass die Einleitung zum Psalmen-Kommentar musiktheoretische und aufführungspraktische Details ebenso diskutiert wie den ‚Sitz im Leben‘ der Psalmen im Tempelkult und ihr redaktionelles Arrangement. Auch im Jesaja-Kommentar zeigt R. Sa‘adja ein gutes literarisches Gattungsempfinden: Danach finden sich in diesem Buch sowohl Unheils- wie auch Trostworte, die einen Ausgleich zwischen Heilszusage als positiver und Strafandrohung als negativer Motivation für den Menschen auf seinem Weg zur Vollkommenheit schaffen.

Kalām und Mu‘tazilaObwohl beeinflusst durch die dialektische Theologie des Kalām*, steht R. Sa‘adja als Philosoph vor allem in der Tradition der rationalistisch geprägten islamischen Theologie der Mu‘tazila*, und auch seine Bibelauslegung ist ohne diese Denkrichtung nicht zu |29|verstehen. Er war der Meinung, dass Gottes Offenbarung nicht im Widerspruch zur menschlichen Vernunft stehe, und, wiederum analog zur islamischen Koran-Exegese, suchte er daher, die in den biblischen Büchern verwendete (Bild-)Sprache klar und einleuchtend zu erklären. Seine biblischen Kommentare zeigen denn auch immer einen philosophisch-systematischen Zugriff. Die biblischen Bücher stellte er jeweils unter plakative Überschriften, die die Botschaft des Buches am deutlichsten repräsentierten. So betitelte er das Buch Jesaja mit Buch von der Wiederherstellung des rechten Gottesdienstes/Buch des Strebens nach Verbesserung des Gottesdienstes, das Buch Mischle (Proverbia) mit Das Buch für die Suche nach der Weisheit. Hiob repräsentierte für ihn das Buch der Theodizee. Auch der Psalmen-Kommentar beginnt mit grundlegenden philosophischen Darlegungen. Seinem Pentateuch-Kommentar stellte R. Sa‘adja eine lange Einleitung voran, in der er nicht nur die fünf Bücher Mose und ihre wichtigsten Themen vorstellte, sondern auch seine eigene exegetische Zugangsweise. Wichtig ist ihm insbesondere das Verhältnis von Peschat* (bei R. Sa‘adja als Literalsinn definiert) und figürlicher Redeweise. Erste Aufgabe des Auslegers sei die Nachzeichnung und Erklärung des einfachen Wortsinnes. Nur in Ausnahmefällen, wo der biblische Ausdruck nicht wörtlich zu nehmen sei, weil er den Naturgesetzen oder dem Intellekt widerspreche, oder in Fällen, wo explizit eine übertragene Rede vorliege, solle der Ausleger den Bibeltext entsprechend der menschlichen Vernunft und einer den Naturgesetzen gemäßen Weise auslegen. R. Sa‘adja nimmt hier schon methodische Überlegungen vorweg, die sich später bei R. Avraham ibn Ezra, Maimonides u.a. finden und vor allem in Bezug auf die anthropomorphen Gottesbeschreibungen in der Hebräischen Bibel zur Anwendung kommen. So erklärt R. Sa‘adja in der Einleitung zum Pentateuch, dass die Beschreibung Gottes als ‚verzehrendes Feuer‘ (Dtn 4,24) als bildliche Rede zu verstehen sei, denn Feuer sei eine veränderliche und vergängliche Substanz; Gottes Wesen hingegen sei (nach der aristotelischen Gotteslehre) neben den Attributen der Allgegenwart und Unsichtbarkeit ewig und unveränderlich. Man sieht deutlich, dass R. Sa‘adja den Bibeltext an philosophischen Urteilen und Grundsätzen misst.

Der wahre GottesdienstÄhnliches gilt auch für Fragen der Ethik und der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Für R. Sa‘adja ist der Pentateuch das Buch, das den wahren Gottesdienst lehrt, der vor allem in der Ausübung der Gebote bestehe. Dem Buch Hiob, das ja ohnehin attraktiv ist für theologische Fragen, die die Relation von Gott und Mensch thematisieren, ist ebenfalls eine Einleitung vorangestellt, in der R. Sa‘adja die für ihn wichtigsten Themen des Buches vorstellt. Die Theodizeefrage, die für ihn zentrale Bedeutung hat, wird dabei |30|in den Kontext der göttlichen Wohltätigkeit für den Menschen gestellt, wonach Disziplin und Unterweisung, Reinigung und Strafe, Versuchung und Erprobung die grundlegenden Parameter darstellen, mit denen Gott den Menschen zu einem gottgemäßen Leben führen will. In dieser Ethisierung der biblischen Botschaft zeigt sich gleichzeitig der Anspruch ihrer Universalisierung, was vor allem für die Auseinandersetzung mit dem Islam eine wichtige Rolle spielte.

Die Gotteslehre R. Sa‘adjasNeben den eigentlichen Bibelkommentaren sind jene Auslegungen von Bibelstellen und biblischen Themen kurz zu erwähnen, die R. Sa‘adja in seinen philosophischen Traktaten ausgeführt hat. Sie sind ebenfalls für die spätere mittelalterliche Rezeptionsgeschichte im aschkenasischen* Raum sehr wichtig geworden. Auch hier spielen die biblischen Ausdrücke, die von Gott in übertragener Rede sprechen, eine große Rolle. Das zweite Kapitel seines philosophischen Hauptwerkes Buch der Glaubenslehren und der Überzeugungen (ursprünglich auf Arabisch Kitāb al-Amānāt wa'l-I'tiqādāt; 1095 von einem anonymen Dichter in einer paraphrasierenden Form ins Hebräische übersetzt; 1186 nochmals von Jehuda ibn Tibbon unter dem Titel Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot ins Hebräische übertragen; ed. Kitorer 1885) behandelt unterschiedliche Themen der philosophischen Gotteslehre, wie Wesen und Attribute der Gottheit (Einheit/Einzigkeit, Unveränderlichkeit, Unsichtbarkeit, Allgegenwart u.a.; vgl. Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot bes. II,2; II,4; II,9–13). Am Ende dieses Abschnittes diskutiert R. Sa‘adja die rationale Gotteserkenntnis und die Abwehr der Vorstellung einer sinnlichen Erfahrbarkeit des göttlichen Daseins. Diese philosophische Maxime wird natürlich dort sehr wichtig, wo die Frage nach der göttlichen Offenbarung und Erfahrbarkeit für den Menschen gestellt wird, ein Thema, das in der Bibel an vielen Stellen aufscheint. R. Sa‘adja formuliert deshalb einen ausführlichen Exkurs zu der Bitte des Mosche, die ‚Herrlichkeit‘ Gottes (kavod) schauen zu dürfen (Ex 33,18; R. Sa‘adja, Sefer ha-Emunot we-ha-De‘ot II).

Der Schöpfer und seine OffenbarungR. Sa‘adjas Bibelauslegung ist getragen von dem Bemühen, die philosophische Gotteslehre mit der biblischen zu verbinden. In seiner Interpretation der göttlichen Offenbarung unterscheidet sich R. Sa‘adja grundlegend vom rabbinischen Verständnis (Liss 2001). Hatten die rabbinischen Gelehrten den biblischen Ausdruck der ‚Herrlichkeit (Gottes)‘ (kavod) auf der Basis des Targum* als Schekhina* ‚Einwohnung‘ Gottes vorgestellt und dabei noch nicht zwischen einem unsichtbaren und allpräsenten Schöpfergott und seiner sichtbaren und lokal begrenzten Offenbarung unterschieden (Goldberg 1969), so erfährt diese Konzeption seit R. Sa‘adja eine entscheidende philosophische Wendung: Der kavod galt zwar weiterhin als Offenbarung Gottes. Allerdings wurde sie als geschöpf|31|liche Offenbarung vorgestellt, die sich darin wesentlich von Gott selbst unterschied. R. Sa‘adja definierte als erster den kavod als geschöpfliche Lichterscheinung, eine Art Engel, die sich den Propheten gezeigt habe. Er argumentierte, dass die anthropomorphen Beschreibungen der Bibel nicht Gott selbst meinen könnten, da Gott sowohl unsichtbar als auch unkörperlich und demnach als mit seinen visuellen Offenbarungen auch nicht identisch vorzustellen sei.

Hier ist deutlich zu sehen, dass R. Sa‘adja seinen Ausgangspunkt nicht bei den biblischen Vorstellungen nimmt, sondern bei den philosophischen Vorgaben, in die hinein die biblische Überlieferung eingepasst werden sollte. Formal stellt also die philosophische Bibelauslegung R. Sa‘adjas den Versuch der Integration des Alten, nämlich der biblisch-rabbinischen Tradition, in das Neue (die philosophische Gotteslehre) dar. In diesem Punkt sind ihm auch die nachfolgenden jüdischen Philosophen und Bibelkommentatoren wie beispielsweise Maimonides im Großen und Ganzen gefolgt. Dabei war ihnen eines gemeinsam: ein weitgehend unverbundenes Nebeneinander einer universal gültigen philosophischen Gotteslehre einerseits und des aus der biblischen Offenbarung heraus formulierten partikularen Gebots- und Gebetsanspruchs an Israel andererseits. Horizontale und vertikale Ebene klafften auseinander.

Jüdische Bibelauslegung

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