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c. Von der Kompilationsliteratur zum Autor
ОглавлениеMischna, Talmud und MidraschIst zwar die Hebräische Bibel die textliche Grundlage für das nachbiblische Israel/Judentum und das Christentum, so sind die literarischen Gründungsurkunden des Judentums seit der rabbinischen Zeit die Mischna* und der Talmud* und – für das antike Palästina – der Midrasch* (zum Ganzen Langer 2016, bes. 19–37, 165–180; Stemberger 2011; 2009). Alle diese literarischen Werke sind über einen längeren Zeitraum entstanden und stellen die klassischen Vertreter von Traditions- oder Kompilationsliteraturen dar. Das wichtigste formale Charakteristikum der sog. Traditionsliteratur ist ihr literarischer Aufbau als Kompilation (Goldberg 1987; 1982). Eine Kompilation besteht aus vielen einzelnen Textversatzstücken und -abschnitten, die im Gesamtaufbau einer Schrift nicht unbedingt auf einen literarischen Kontext beschränkt sein müssen. Daher können die verwendeten Einzelteile durchaus an mehreren Stellen wieder eingefügt und wiederholt werden. In der Regel waren dabei stets ein oder mehrere Redaktoren oder Kompilatoren am Werke. Zumeist entstammen die Inhalte – Gesetzessammlungen, aggadische Überlieferungen, rabbinische Dicta, halachische Diskussionen und Entscheidungen – selbst wiederum einer schriftlichen Quelle. Der Redaktor oder Kompilator formuliert also nicht eigens eine sachliche Position und deren literarische Ausführung, sondern stellt vorgegebenes Material neu zusammen und bringt damit einzelne Überlieferungen in einen neuen redaktionellen Zusammenhang.
|23|Redaktion und KompilationDer Redaktor oder Kompilator tritt als schreibendes Subjekt dabei nicht selbst in Erscheinung. (Schreibendes) Subjekt und (thematisches) Objekt rücken zusammen. Daraus folgt nun, dass ein kompilierter Text nicht mit dem Anspruch einer bewussten Abgrenzung gegenüber seinen Quellen auftritt. Kompilation ist Kollektion, d.h. die Erstellung textlicher Einheiten durch Addition und Integration. Im Falle des Midrasch besteht das Ziel in der exegetischen „Aneignung des Bibeltextes im Sinne einer (meist, aber nicht immer) für verschiedene Meinungen offenen Interpretation“ (Langer 2016, 33). Natürlich ist damit keine wahllose und rein quantitative Anhäufung von Textbausteinen gemeint; unterschiedliche Auswahlprozesse lassen sich rekonstruieren. Dennoch bleibt es formal bei einer Zusammenstellung und damit der Addition von Zitaten oder Überlieferungen. Für das biblische wie für das rabbinische Schrifttum bis ins Mittelalter hinein kann sich das Anwachsen kleiner und größerer Mikroformen zu einer Makroform entweder genetisch-linear von kleineren zu größeren Texteinheiten vollziehen oder mehrdimensional, d.h. als gleichzeitige Ausprägung unterschiedlicher literarischer Makroformen ohne gemeinsamen Urtext, entwickeln (vgl. auch bereits die biblischen Parallel-Versionen unter den Textfunden in Qumran). Mit Blick auf die Unterscheidung von Kompilations- und späterer Autorenliteratur gilt es also festzuhalten, dass eine Kompilation ihren Ausgangspunkt weniger bei einzelnen systematischen Themen- oder Fragestellungen nimmt. Vielmehr hat die Kompilation ein schriftliches Corpus zur Grundlage, in das auch formale und inhaltliche Unterschiede, im größeren Kontext auch sachliche oder inhaltliche Widersprüche problemlos integriert werden können. Eine Kompilation ist dadurch charakterisiert, dass ein Kompilator mittels der Zusammenstellung von Überlieferungen oder durch eigene Ausführungen etwas Neues formuliert, dieses Neue jedoch so in das bereits Vorhandene integriert, dass sich die Konturen von Altem und Neuem verwischen (Liss 1994).
Anfänge arabisch-hebräischer AutorenliteraturEin ganz anderes Bild ergibt sich hinsichtlich der Entwicklung von Autorenliteratur, die für die Entstehung der jüdischen Bibelkommentare eine wichtige Rolle spielt. In das aramäisch-hebräischsprachige Judentum findet die Autorenliteratur erst durch die Auseinandersetzung mit dem islamischen Schrifttum (8./9. Jahrhundert) Eingang, sieht man einmal von Ben Sira (vgl. oben Kap. 1.1.a.), Philo von Alexandrien (ca. 20 v.u.Z.–49 u.Z.) und Flavius Josephus (37/38–nach 100 u.Z.) ab, die aber alle der griechisch-römischen Kulturwelt zuzurechnen sind. Die frühesten Exponenten der jüdischen Autorenliteratur finden wir daher auch nicht zufällig entweder auf dem Gebiet der Philosophie (R. Sa‘adja Gaon, 882–942 u.Z.; R. Schelomo ibn Gabirol, 1020–ca. 1058; R. Jehuda ha-Levi, |24|1075–1141 u.a.) oder der Schriftexegese und Grammatik: Neben R. Sa‘adja Gaon sind es hier vor allem die karäischen* Gelehrten sowie die zunächst aramäisch-, dann arabischsprachigen Masoreten des 9. und 10. Jahrhunderts, die andalusischen Grammatiker des 10. Jahrhunderts wie Menachem ibn Saruq und Dunasch ibn Labrat (925–Ende 10. Jahrhundert; Rabin/Sáenz-Badillos 2007), und seit dem 11. Jahrhundert im christlichen Europa R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi; ca. 1040–1105), R. Avraham ibn Ezra, R. David Qimchi (Radaq) u.a. Auf dem Gebiet der Halakha* beginnt die Entwicklung zu einer individuellen Auseinandersetzung mit dem halachischen Traditionsstoff mit der Kodifikationstätigkeit von R. Jizchaq ben Ja‘aqov Alfasi (1013–1103; Assaf/Ta-Shma 2007). In der gaonäischen* Zeit gehören dazu insbesondere auch die sog. Responsen, d.h. schriftlich abgefasste religionsgesetzliche Entscheidungen anerkannter rabbinischer Autoritäten. Einschränkend sei jedoch erwähnt, dass sich in den Kommentierungen des Bibel- wie des Talmudkommentars von Raschi durch die sog. Tosafisten* (ba‘ale ha-tosafot) eine kollektive Form der Überlieferung behauptet hat, bei der sich jedoch auch Zuschreibungen an die einzelnen Tosafisten finden (vgl. dazu auch Hollender 2008, bes. 10–22). Daneben wurden die tosafot der Tosafisten auch in gesonderten, unter ihrem Namen erscheinenden Sammlungen zusammengestellt. Auf christlicher Seite markiert diese Zeit den Beginn der scholastischen Epoche, in der die bis dahin üblichen Sentenzensammlungen, in denen auch zum größten Teil exzerpiert und kompiliert wurde, durch die quaestio (ab 13. Jahrhundert Quaestionen-Sammlungen) bzw. die theologische summa einzelner Magister abgelöst wurde.
Bibelkommentare als AutorenliteraturAutorenliteratur wird stets subjektbezogen gestaltet, d.h. sie nimmt ihren Ausgang bei der Idee eines Autors, der ein Thema bearbeitet, das dabei stets in Auseinandersetzung mit einem oder mehreren Autoren oder Texten entwickelt wird. Ein Autor wird immer eine hermeneutische Position formulieren (und sei es auch nur indirekt), in der er sich von anderen Autoren abzugrenzen sucht; auch Inhalt und Themenstellung werden klar umrissen. Das geht so weit, dass R. Sa‘adja Gaon seine Kommentare zu einzelnen biblischen Büchern mit Überschriften versehen hat, die zu den von ihm in einem bestimmten biblischen Buch als zentral herausgestellten Themen passend gewählt wurden (die Übersetzung des Buches Hiob und der dazugehörige Kommentar tragen beispielsweise die thematische Überschrift Das Buch der Theodizee). Andere Quellen werden zur Profilierung der eigenen Argumentation herangezogen oder explizit zurückgewiesen. Der Autor eines Bibelkommentars ist kein Redaktor mehr, sondern derjenige, der in der Explikation seines Traditions- und Auslegungsverständnisses den Traditionsgang |25|selbst formal und inhaltlich kommentiert und damit eben jenes hermeneutische Verständnis formuliert, das ein Buch in Relation zu seinem Autor setzt. Bibelkommentare wollen auf ihren Autor zurückverweisen. Deshalb stellen alle Bibelkommentatoren ihren Werken oder zumindest bestimmten Abschnitten eine Einleitung voran (haqdama), in der sie ihre Methode, ihre Gewichtung bei der Auslegung etc., aber auch die Schwächen und Versäumnisse oder gar Fehler der früheren Exegeten darlegen. Dies gilt auch für die halachischen Schriften: Auch Maimonides (Rambam) stellt dem Mischne Tora den sog. Sefer ha-Madda (‚Das Buch der Erkenntnis‘) voran.