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b. Die Herausforderung durch die karäischen Exegeten
ОглавлениеDie HandschriftenSammlung des Avraham FirkovichWie in wohl keinem anderen Feld der Jüdischen Studien sind die Forschungen zu den Karäern* (qara’im) in den letzten Jahren zu einem wirklichen Aufschwung gekommen (Polliack 2003a; 1997; Khan 2001; 1990), was vor allem durch den seit den neunziger Jahren ermöglichten wissenschaftlichen Zugang zu den Handschriften aus der Sammlung Firkovich in St. Petersburg ausgelöst wurde.
Avraham Firkovich (1786–1874), eine führende Autorität der Karäer Osteuropas, hatte zwischen 1863 und 1865 eine große Anzahl von Handschriften erworben. Die Sammlung umfasst mehr als 15000 hebräische, arabische und samaritanische* Schriften und Traktate (zum Ganzen Walfish 2011; Polliack 2003a; 2003b; 1997). Erst jetzt konnten zum ersten Mal kritische Texteditionen in Angriff genommen und der gesamte soziokulturelle Hintergrund der Karäer untersucht werden. Für die Geschichte des Judentums im Mittelalter, insbesondere für die Geschichte der hebräischen Sprachwissenschaft, hat sich dadurch ein vollkommener Paradigmenwechsel gegenüber der älteren Forschung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vollzogen: Die Karäer waren alles andere als eine marginale Sekte, sondern eine kraftvolle intellektuelle Bewegung, |32|die dem ganzen Judentum nachhaltig einen Stempel aufdrückte und vor allem eine grundsätzliche hermeneutische Debatte zum Schriftverständnis und zur Relation zwischen schriftlicher und mündlicher Tora aufzwang. In seiner Anfangszeit war der Karaismus daher eine innerjüdische Bewegung, die sich keinesfalls halachisch vom übrigen (‚rabbanitischen‘) Judentum unterschied. Dies lässt sich bereits daran erkennen, dass wir bis zum frühen 13. Jahrhundert eine Vielzahl von Eheschließungen zwischen Karäern und Rabbaniten beurkundet sehen. Erst seit dem frühen 13. Jahrhundert wurden solche Eheschließungen als ‚Mischehen‘ verboten.
Das Goldene Zeitalter der KaräerDas ‚Goldene Zeitalter‘ der Karäer lag im 10. und 11. Jahrhundert, und ihre wichtigsten Repräsentanten waren Daniel al-Qûmisî, Ya‘qûb al-Qirqisânî, Benjamin ben Mosche al-Nahawendi oder Jefet ben Eli ha-Levi (Abu Ali ibn al-Hasan ibn Ali al-Basri; st. nach 1004/05). Gab es zwar schon vorher karäische Zentren im Gebiet des heutigen Iran und Irak, so muss man doch sagen, dass ein Großteil der karäischen Texte aus ihrer Glanzzeit in Palästina, genauer gesagt: Jerusalem, stammt und ein jähes Ende mit der Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer 1099 fand. Das handschriftliche Erbe wurde in die karäische Gemeinde nach Kairo gebracht, wo es auch Firkovich im 19. Jahrhundert zum größten Teil erwarb.
Die karäischen AnanitenDie karäischen Gründungserzählungen berufen sich zumeist auf Anan ben David (lebte Mitte 8. Jahrhundert in Babylonien/Irak). Im strengen Sinn ist er jedoch der Begründer einer zahlenmäßig viel kleineren und einflussloseren Gruppe, der sog. Ananiten (ananijjim). Anan wird eine Losung zugesprochen, die, wo immer ihre Ursprünge tatsächlich zu suchen sind, sehr gut auf den Punkt bringt, was karäisches Schriftverständnis ausmacht: Forscht ordentlich (selbst) in der Schrift und verlasst euch nicht auf meine Meinung. Dieses Motto verweist nicht nur auf intensives Studium der schriftlichen Tora, sondern relativiert gleichzeitig das Prinzip der mündlichen Tora im Sinne der Hochhaltung der Meinung früherer Tradenten. Die Karäer sind daher auch nicht umsonst immer wieder mit den Masoreten in Verbindung gebracht worden (Zer 2009), denn wie diese zeichneten auch sie sich durch große Texttreue und intensive philologische Arbeit am biblischen Text aus (Polliack 2003b; 1997; Khan 2001). Die Bibel war die Hauptquelle der Autorität, wie schon am hebräischen Namen dieser Gruppe zu sehen ist: qara’im – ba‘ale ha-miqra ‚Meister der Schrift‘ – bene ha-miqra ‚Söhne der Schrift‘. Der Qara war derjenige, der die Bibel studiert und lehrt (auch der spätere Raschi-Schüler Josef ben Schim‘on aus Nordfrankreich trug den Beinamen ‚Qara‘). Untersuchungen an der Bibel gründeten sich nicht auf eine traditionelle Autorität, sondern auf rationale, und hier vor allem auf sprachwissenschaft|33|liche Faktoren: Lexikographie und Grammatik. Vor diesem Hintergrund wurde die mündliche Tora* in ihrer halachischen Autorität oftmals in Frage gestellt. Passte die rabbinische halachische Entscheidung in dieses Konzept, wurde sie allerdings auch oft genug positiv rezipiert.
Die halachische Exegese der KaräerIn ihrem Schrift- und Traditionsverständnis entwickelten die Karäer eine andere, mit der rabbanitischen rivalisierende Halakha*. Im Vergleich waren karäische Richtlinien in vielen Punkten aber eher erschwerend. Anan, der sich auch im rabbinischen Schrifttum sehr gut auskannte, lehnte zwar einen Teil der rabbinischen hermeneutischen Regeln zur Schriftauslegung ab; anderes wurde jedoch im Zusammenhang mit der karäischen Entwicklung der Halakha modifiziert. Schlussendlich geht es gar nicht um die einzelnen exegetischen middot*, sondern darum, ob sich halachische Begründungen induktiv oder deduktiv ergeben: Dies scheint denn auch der entscheidende Punkt zu sein, an dem sich rabbanitische und karäische Argumentation voneinander unterscheiden. Es ist zwar richtig, dass die Tora stets als Rechtsgrundlage der späteren Halakha behauptet wurde; nicht richtig ist, dass sie es je war, zumindest nicht so geradlinig, wie man es oftmals voraussetzt. Die pharisäisch*-rabbinische* Linie organisierte ihr Rechtsleben in erster Linie auf der Basis der mündlichen Tora und darin auf der Basis auch der gängigen Praxis, zu der im Nachhinein (induktiv) eine exegetische Begründung gegeben wurde. Die rabbinisch-rabbanitische Ideologie sah in der biblischen Tora niemals einfach das ‚jüdische Gesetz‘, sondern die Möglichkeit, aus einer Sammlung von Rechtstexten einen für spätere kreative Applikation(en) offenen Text werden zu lassen. Die von al-Qûmisî gebotene und zumeist mit negativen Konnotationen belegte Charakterisierung der rabbinisch-rabbanitischen Halakha als mitzwat anaschim melummada (‚gelehrtes Menschengebot‘;) trifft daher den Sachverhalt genau: Das rabbinische Diktum ‚Sie [die Tora] ist nicht im Himmel‘ (Dtn 30,12; vgl. auch bBM 59b) implizierte ja gerade, dass die rabbinische Exegese nicht auf prophetische Offenbarungen oder prophetisch inspirierte Lehrer setzte, sondern ihre Interpretationen und theoretische Rechtspraxis im Rahmen von Traditionsliteratur formulierte und sie damit ausschließlich in Auseinandersetzung mit der Tradition und gleichzeitig als ein weiteres Teilstück von ihr gestaltete (… mi-Sinai, von [der am] Sinai [gegebenen Tora abgeleitet]).
Demgegenüber insistierten die Karäer auf den ‚Geboten Gottes‘. Eine besondere Rolle für die karäische Ideologie spielte dabei Psalm 119, denn man bezog die in Ps 119,1 genannten ‚im Weg Untadeligen‘ (temime derekh) als die, die ‚im Gesetz des Ewigen |34|wandeln‘, auf sich. Bereits Anan suchte die Halakha aus der Schrift heraus (deduktiv) zu entwickeln. Die exegetischen Prinzipien, die er dabei anwandte, wirken dabei heute mindestens so sachfremd wie rabbinische Gematria* oder Notariqon*. Dabei wandte er insbesondere das Prinzip einer Analogie (heqqesch*) einzelner Wörter oder Phrasen für seine halachischen Entscheidungen an.
Die Karäer als GrammatikerUnter den karäischen Grammatikern des 10. Jahrhunderts sind besonders der ursprünglich aus dem Irak stammende Abû Ya‘qûb Yûsuf ibn Nûḥ und Abû al-Faraj Hârûn ibn Faraj zu nennen, die beide zur karäischen Gemeinde Jerusalems gehörten. Ihre Werke sind in den letzten Jahren v.a. durch den britischen Sprachwissenschaftler Geoffrey Allan Khan sukzessive und umfassend erschlossen worden und haben unser Wissen über diese frühe und wichtige Tradition der hebräischen Sprachwissenschaft auf ganz neue Füße gestellt. Abû al-Faraj Hârûn beschäftigte sich in verschiedenen Schriften mit der hebräischen Sprache. So verfasste er beispielsweise einen Traktat Hidâyat al-Qâri’ (‚Leitfaden für den Leser‘), in dem er Ausspracheregeln und Akzente behandelte. Ibn Nûḥ schrieb nicht nur Bibelkommentare, die sich mit übersetzungstechnischen und grammatischen Fragen beschäftigen, sondern auch eine auf Arabisch verfasste Grammatik des Hebräischen (diqduq). Nach Khan gab es im 10. Jahrhundert auch in Isfahan und Basra eine Reihe karäischer Grammatiker, auf die sich auch al-Qirqisânî beruft.
Die sog. ‚Trauernden von Zion‘Insbesondere in der Theologie al-Qûmisîs avancierte Jerusalem als heilige Stadt zum religiösen Zentrum. Al-Qûmisî war davon überzeugt, dass das Ende der Zeit nahe bevorstand. Daher führte er bestimmte Trauerbräuche und Gebete ein, die das Kommen des Messias beschleunigen sollten. Aus dieser Bewegung gingen im 10. Jahrhundert die sog. ‚Trauernden von Zion‘ hervor (avele tzijjon; vgl. Jes 61,3; vgl. auch bBB 60b). Von al-Qûmisîs exegetischen Schriften liegt der Kommentar zum Zwölfprophetenbuch vor (pitron schenem asar), der neben der vers-chronologischen Auslegung in hebräischer Sprache eine Vielzahl arabischer Glossen bietet. Diese Art des Kommentars ist also vergleichbar mit den später in Nordfrankreich in die Kommentare eingestreuten champagnischen und anglo-normannischen Glossen. Der wichtigste Vertreter der avele tzijjon war Ya‘aqûb al-Qirqisânî, dessen Schriften erst allmählich ediert und bearbeitet werden. Seine (wie auch bei R. Sa‘adja auf Arabisch verfassten) Werke umfassen neben hermeneutischen Schriften zur karäischen Halakha und zum Schriftverständnis (z.B. ‚Das Buch des Lichts‘; ‚Das Buch der Gärten‘) auch Fragmente zu einem eigenständigen Genesis-Kommentar (tafsîr Bereschit).
|35|Die Karäer und ihr Verhältnis zur Qumran-ExegeseAl-Qûmisîs Prophetenexegese zeichnet sich dadurch aus, dass die prophetischen Dicta in einer fast ‚Pescher-ähnlichen‘ Weise auf die eigene Zeit hin ausgelegt werden. Überhaupt zeigt sich, dass die karäische Exegese sowohl formal als auch inhaltlich eine Reihe von Aspekten mit den pescharim gemeinsam hat (so schon Kahle 1959, 17–28). Die Karäer kannten zumindest Teile der Texte von Qumran, die aus den Höhlen bei Jericho nach Jerusalem gebracht worden waren (vgl. bereits Kahle 1959, 17–28). Ya‘aqûb al-Qirqisânî nennt neben den Sadduzäern und Pharisäern* eine jüdische Gruppe, die er einfach mit maghārīya (‚Höhlen-Leute‘) betitelt. Die für die sog. Damaskusschrift (Covenant of Damascus CD) und die Gemeinde- oder Sektenregel (1QS) signifikante Vorstellung der zwei Messiasse (einer aus dem Geschlecht Aharons, also priesterlich, sowie einer aus dem Geschlecht Israels, d.h. ein Laie) findet sich auch im karäischen Schrifttum: In seiner Auslegung von Sach 4,14 (Dies sind die beiden Gesalbten …) identifiziert David ben Abraham al-Fasi den priesterlichen Messias als Elija, den anderen hingegen als den davidischen Messias. Auch hinsichtlich des Verständnisses der Prophetenbücher lassen sich erstaunliche Parallelen zwischen den Schriftrollen vom Toten Meer und den Karäern feststellen: Wie in den pescharim zum Buch Habakuk (1QpHab) oder zum Buch Hosea (4Q167), die eine Interpretation ausschließlich in Richtung auf die gegenwärtige Gemeinde in ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt zeigen, weisen auch die Karäer eine Auslegungshermeneutik auf, die die prophetischen Bücher konsequent vor ihrem eigenen – dem karäischen – Hintergrund ausdeutet und darin gleichzeitig behauptet, die Propheten hätten am wenigsten für ihre eigene Generation, sondern mehr für künftige Generationen geweissagt. So erklärt der später auch bei ibn Ezra viel zitierte Karäer Jefet ben Eli (st. nach 1004/05) zu Beginn seines Hosea-Kommentars, dass die meisten der Spruchworte des Propheten nicht tradiert worden seien. Es seien nur jene Worte überliefert worden, die für die künftige Gemeinde im Exil von Relevanz sein würden; die an die Zeitgenossen gerichteten Reden habe man gestrichen. Auch terminologisch finden sich enge Anlehnungen in der späteren Auslegungsgeschichte: ibn Ezra zitiert eine Auslegung Jefet ben Elis zu Joel 2,23, die den Lehrer (more) erwähnt, der ein Prophet sei (navi) und Israel den Weg der Gerechtigkeit (tzedeq) lehre. Al-Qûmisî argumentierte in seiner Auslegung zu Ps 74,6, dass jedes Wort in der Bibel nur eine wahre Bedeutung (pitron) haben könne, selbst, wenn die Menschen es unterschiedlich interpretierten. Die endgültige Bedeutung werde mit dem Kommen des ‚Lehrers der Gerechtigkeit‘ (more tzedeq) offenbar werden. Die Anspielungen auf den (prophetischen) ‚Lehrer der Gerechtigkeit‘ aus Qumran sind |36|jeweils unüberhörbar (Polliack 2005). Auch mit Blick auf die Psalmenauslegung finden sich Gemeinsamkeiten: so galt den Karäern David als inspirierter liturgischer Dichter, eine Charakterisierung, die sich auch schon in 11Q5 findet.
Analog zu den Pescher-Kommentaren aus Qumran spielt die Auseinandersetzung mit feindlichen Gruppierungen auch bei den Karäern eine große Rolle. Nach der Deutung al-Qûmisîs sind mit den im Buch Hosea genannten Ländern Assur und Ägypten die Länder der jüdischen Diaspora gemeint. Die in Hos 8,7 formulierte prophetische Kritik (Ja, Eschkol, und Sturm ernten sie …) bezog al-Qûmisî auf die vom rabbanitischen Judentum etablierten und damit auf der mündlichen Überlieferung gründenden halachischen Vorschriften, die sich durch die Zeiten ändern wie ein vorbeistreifender Wind.
Jehuda ben Eliyahu HadassiIm 12. Jahrhundert nimmt auch die Polemik gegen das rabbinisch-rabbanitische Judentum zu. Jehuda ben Eliyahu Hadassi aus Konstantinopel (Mitte 12. Jahrhundert) hinterließ eine umfangreiche Schrift mit dem Titel Eschkol ha-Kofer, verfasst 1148/9. Eschkol ha-Kofer (‚das Büschel der Henna-Rispe‘) gilt als karäische Grundsatzschrift. Hadassi wollte damit ein umfangreiches Handbuch des karäischen Glaubens- und Toraverständnisses herausbringen. Auch im Eschkol ha-Kofer sehen wir, dass die Grammatik eine zentrale Rolle in der karäischen Exegese spielte. Der sechste von den zehn Glaubensartikeln der Karäer verlangt, ‚(tiefere) Einsicht in die Beschaffenheit der (hebräischen) Sprache zu gewinnen‘ (le-haskil leschona mah hi). Der Eschkol stellt die Prinzipien der Schriftauslegung zusammen, die dort als ‚60 Könige der Wörter und ihrer Vokalisierung‘ bezeichnet werden. Daneben integriert der Eschkol eine kleine Abhandlung, die den Titel ‚fünf Prinzipien (‘iqqarim) der erlesenen Sprache‘ trägt. Dieser Essay beschäftigt sich mit den fünf Vokalen, analog zu R. Sa‘adjas Sefer Tzachut (‚Buch der Erlesenheit [der hebräischen Sprache]‘), und wird auch später bei R. Avraham ibn Ezra wieder aufgenommen. Umgekehrt holte sich Hadassi für seinen Eschkol die Liste der 59 grammatischen Termini, die sich in der Einleitung zu ibn Ezras erstem grammatikalischen Werk, dem Buch Moznajjim (‚Waage‘) finden.