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|VII|Vorwort
Оглавление„Eine Geschichte der Bibelexegese im Zusammenhange mit den zeitlichen Einflüssen, den gleichzeitigen sonstigen geistigen Bewegungen ist daher ein Werk von der größten Wichtigkeit für die ganze Religionsgeschichte.“ Diesen Satz formulierte Abraham Geiger schon beinahe am Ende eines langen Wissenschaftlerlebens (Geiger 1870a, 217) und gestand in diesem Zusammenhang, dass er sich eigentlich viel zu wenig mit der (Geschichte der) Bibelauslegung der Juden, der Parschanut, beschäftigt habe. Zur Entschuldigung führt er gegenüber seinen Lesern an, dass er dies „nicht leisten konnte“. Tatsächlich war es aber vor allem Geiger gewesen, der die Geschichte der jüdischen Bibelauslegung stets als zentralen Teil einer Jüdischen Theologie verstanden und entsprechend kontextualisiert hatte, und erst hierin erschließt sich recht eigentlich auch die Vielfalt und Vielstimmigkeit, wenn nicht sogar die Unübersichtlichkeit einer Reihe sehr unterschiedlicher Literaturen, Genres, Themen und Methoden, die unter dem Topos der Bibelauslegung mehr oder weniger locker an den großen Strang der literarischen Produktivität der Juden angebunden sind.
Dieses Lehrbuch zur jüdischen Bibelauslegung entstand auf der Basis einer Vorlesung zur Geschichte der jüdischen Bibelauslegung vom Mittelalter bis in die Moderne und integriert dabei an der einen oder anderen Stelle auch bisherige Veröffentlichungen zu einzelnen Themen und Aspekten der jüdischen Schriftexegese. Für die Entscheidung, den Stoff zu einem Lehrbuch auszubauen, gab es verschiedene Gründe: Zum einen ist insbesondere in den letzten Jahren eine Reihe grundlegender neuer Fragen vor allem in der judaistischen Mediävistik in Einzelstudien bearbeitet worden, die es hier erstmals zu würdigen und zu bündeln galt; zum anderen sehen wir die Beschäftigung mit der jüdischen Bibelauslegung einer wachsenden Beliebtheit ausgesetzt, die allerdings auch dazu geführt hat, dass gerade in jüngster Zeit eine Reihe begeisterter, aber eben fachfremder Monographien oder Aufsätze zu diesem Thema erschienen ist, mit denen dann in anderen Fächern wie der Theologie oder der Geschichte gearbeitet wird, leider nicht immer im Sinne der Sache.
Ein Lehrbuch hat formalen Ansprüchen zu genügen, denn sein Aufbau soll verständlich, sein Inhalt möglichst umfassend, das Lesen dennoch nicht mühsam sein. Zwar konnte nicht ganz darauf verzichtet werden, den Stoff auch chronologisch zu sortieren, das |VIII|Hauptaugenmerk liegt allerdings auf der problemorientierten und daher systematisch gestrafften Darstellung exegetischer Grundfragen, wie sie zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedlich formuliert sein konnten. Die systematische Einteilung wird dabei zwischen dem zeitgeschichtlichen Kontext, den einzelnen Auslegerpersönlichkeiten sowie den jeweils neuen exegetischen Zugängen unterscheiden, um übergeordnete Entwicklungen mit Themen und jeweils aktuellen exegetischen Herausforderungen in Relation zu bringen. Insbesondere bei den Neuen Zugängen zeigt sich dabei immer wieder, wie einzelne Bereiche überlappen oder fließend ineinander übergehen und so manches Auslegungsbeispiel in mehreren Kategorien gut aufgehoben wäre. Die Darstellungen der hochmittelalterlichen Auslegungsperiode des 12. Jahrhunderts zwischen Raschi (R. Schelomo Jitzchaqi, st. 1105), seinem Enkel Raschbam (R. Schemu’el ben Meïr, st. ca. 1158), dem Spanier R. Avraham ibn Ezra (st. ca. 1165) und R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte/Ende 12. Jahrhundert) weisen überdies exemplarisch die Dichte und die Schnelligkeit der exegetischen Entwicklungen auf, die sich im 12. Jahrhundert an einem Ort (Nordfrankreich) zu überstürzen scheinen.
Die Darlegung in den acht Hauptabschnitten (Kap. 2–9) ist wie folgt strukturiert: Nach einer einführenden Beschreibung in das sozio-kulturelle Umfeld der entsprechenden jüdischen Ausleger (Voraussetzungen und Hintergründe) sowie dem jeweils aktuellen Status quo der jüdischen Bibelauslegung geht es neben einer kurzen werk-biographischen Vorstellung einzelner Exegeten (Persönlichkeiten) vor allem darum, die Neuerungen der exegetischen Ansätze möglichst prägnant darzustellen und gegeneinander abzuheben (Neue Zugänge). Diese Darstellungen innovativer und für die Geschichte der jüdischen Exegese wichtiger Auslegungen werden durch Kommentarbeispiele unterfüttert. Dabei wurden solche Textauslegungen gewählt, die entweder maßgeblich auf die ihnen nachfolgende Exegese eingewirkt haben, oder gerade durch ihre quasi ‚nonkonformistische‘ Bibelauslegung von den Späteren ignoriert wurden, den Zeitgeist jedoch besonders gut einfangen. Dieser Teil ist auch für jene Nutzer und Nutzerinnen geeignet, die vielleicht nicht gleich eine exegetische Epoche in allen Einzelheiten erschließen möchten, sondern einfach einmal kursorisch lesend ‚schnuppern‘ wollen, was Bibelauslegung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten einschließen konnte. Die Darstellung bemüht sich insgesamt darum, das Buch für Anfänger und fachfremde Benutzerinnen noch gut lesbar zu halten, gleichzeitig jedoch auch solche Leserinnen und Leser anzusprechen, die sich bereits mit einzelnen Auslegern beschäftigt, diese jedoch noch nicht unter der hier vorgelegten problemorientierten Erfassung wahrgenommen haben.
|IX|Vollständigkeit, soviel sei gleich vorweg gesagt, ist nicht einmal annähernd zu erreichen: Mit Blick auf die europäische Rezeptionsgeschichte wie auch hinsichtlich der intellektuellen Vernetzungen mit den christlichen Gelehrten in Westeuropa wird sich das vorliegende Lehrbuch vornehmlich auf die hebräischen Schriften und Kommentare konzentrieren und die judäo-arabischen Texte zur Grammatik und Bibelauslegung nur insoweit behandeln, als sie für das Verständnis der Hebräisch schreibenden Kommentatoren unabdingbar sind. Hinzu kommt, dass selbst für das hebräische Textmaterial erst allmählich kritische Editionen zur Verfügung stehen. Das judäo-arabische Schrifttum wird erst seit einigen Jahren wissenschaftlich verwertbar aufgearbeitet und ediert. Auch Übersetzungen stehen hier kaum zur Verfügung, die den Leserinnen und Lesern ein weiterführendes Quellenstudium ermöglichen würden. Die Auswahl – und dies gilt schon für das Hochmittelalter und die anschließende Renaissance-Zeit, aber weit mehr noch für die Zeit ab dem 18. Jahrhundert – bemisst sich vor allem daran, inwieweit ein Exponent jüdischer Bibelauslegung zum einen für seine Zeit repräsentativ ist und zum anderen auch in erster Linie als Bibelausleger – nicht als Philosoph, nicht als Kabbalist – wahrgenommen werden soll. Beispielsweise beschäftigt sich auch Maimonides in seinem More ha-Nevokhim ausführlich mit der Hebräischen Bibel. Ihn damit jedoch unter die Bibelausleger zu subsumieren, entspräche wohl kaum seinem eigenen Selbstverständnis, und dies gilt für den Großteil der Exponenten philosophischer oder kabbalistischer Bibelauslegung. So wird es also vor allem darum gehen, Bibelexegeten nicht nur allgemein als Repräsentanten ihrer Epoche, sondern vor allem als Repräsentanten unterschiedlichster Zugangsweisen zur Hebräischen Bibel wahrnehmen zu lernen. Dass das 19. und beginnende 20. Jahrhundert einen deutlich größeren Umfang aufweist, als die vorangehenden Kapitel, hat nicht nur damit zu tun, dass in dieser Zeit in Ost- wie in Westeuropa wichtige Entwicklungen durch eine ganze Reihe außergewöhnlicher Persönlichkeiten vorangetrieben wurden, die eine Vielzahl von unterschiedlichen exegetischen, philologischen und theologischen Entwürfen vorgelegt haben, sondern auch damit, dass unsere Wissenschaftslandschaft bis heute sowohl formal institutionell in ihrer akademischen Ausprägung als auch in inhaltlicher Hinsicht von dieser Zeit nachhaltig bestimmt wird. Deshalb wurde auch der biographische Bogen hier am umfangreichsten gespannt: von Ja‘aqov Tzvi Meklenburg (st. 1865) bis Isac Leo (Arie) Seeligmann (st. 1982). Gemeinsam ist aber all diesen in diesem Kapitel behandelten Gelehrten, dass sie aus der ‚alten Bildungswelt‘ West- und Osteuropas mit den ihr spezifischen religiösen Bildungsinstitutionen stammten, und deshalb auch noch |X|Gelehrte wie Naftali Herz Tur-Sinai, Yehezkel Kaufmann und Isac Leo Seeligmann ohne diesen Bildungshintergrund nicht zu verstehen sind, gleichzeitig aber in die ‚Neue Zeit‘ nach der Schoah und nach der Staatsgründung Israels hineinragen und diese bereits an je verschiedenen Orten (USA; Israel) mitgestaltet haben. In diesem Teil finden sich auch längere Textbeispiele: Nicht nur, weil es nicht zum Schreibstil des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehörte, sich kurz zu fassen, sondern auch weil die Erfahrung mit Studierenden gezeigt hat, dass zum Verständnis eines Gelehrten auch ein noch so gutes Referat seiner Hauptgedanken und -schriften Beispiele für die originale Diktion nicht ersetzen kann.
Die Beschäftigung mit der Bibelkommentarliteratur lässt mithin jene Texte, die eigentlich die Bibel als religiöse Quelle des Judentums erklären wollen, selbst zu Quellen werden, also zu Primärliteratur, die selbst wiederum einer Kommentierung bedarf. Dabei wird der Zugriff auf die Kommentartexte weitaus weniger von der einzelnen Bibelstelle her verständlich, sondern bildet sich vor dem Hintergrund jener den Ausleger prägenden soziokulturellen und intellektuellen Herausforderungen ab. Wer von der direkten Bibellektüre herkommt, wird daher immer wieder Fremdheitserfahrungen mit diesen Texten machen: Auslegungen werden dort nicht als exegetische Antworten verstanden, wo der Fragehorizont nicht dem unsrigen entspricht.
Zu Beginn eines jeden Kapitels findet sich eine Zusammenstellung der für das jeweilige Thema wichtigsten Überblicks- oder Einzeldarstellungen (natürlich ist auch dies eine subjektive Auswahl). Da das Buch keine Fußnoten enthält, finden sich Kurzverweise auf weitere Sekundärliteratur in Klammern. Hierfür ist auf das ausführliche Literaturverzeichnis am Ende des Buches zu verweisen, das die Quellen der einzelnen Ausleger nach den in ihnen behandelten Kapiteln sortiert, die Sekundärliteratur demgegenüber in einem alphabetisch geordneten Block präsentiert. Soweit nicht anders vermerkt, wurden alle zitierten Originalquellen von mir selbst übersetzt. Die hebräischen Transkriptionen orientieren sich zumeist an der philologisch korrekten Umschrift; an einigen Stellen wurde um der besseren Lesbarkeit willen von diesem Prinzip abgewichen. Die mit * gekennzeichneten Begriffe werden im Glossar näher erläutert.
Bedanken möchte ich mich zuerst und vor allem bei allen Studierenden, die diese Vorlesung gehört, nachgefragt, aber auch kritisch begleitet und damit immer weitergebracht haben. Es waren Studierende der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, der Universität Bern (WiSe 2012/13) und der Universität Kassel (SoSe 2017), die alle ihr je eigenes Vorwissen und Vorverständnis einbrachten und mich |XI|nie vergessen ließen, dass ein solches Buch nicht den Ruhm seiner Autorin, sondern die Zahl derer vermehren soll, die sich mit der jüdischen Bibelauslegung beschäftigen. Weiterhin möchte ich meinen (ehemaligen und aktuellen) Assistentinnen und Assistenten Dr. Ingeborg Lederer-Brüchner, Dr. Jonas Leipziger, Dr. Kay Joe Petzold und Dr. Amélie Sagasser danken, die in den verschiedenen Stadien der Entstehung dieses Buches inhaltlich zugearbeitet sowie Korrekturen und Vorschläge eingebracht haben. Kay Joe Petzold hat zudem den Abschnitt zu den jüdischen Kahle-Schülern vorbereitet. Jonas Leipziger war mit der mühsamen Arbeit der Aufarbeitung der umfangreichen Bibliographie betraut. Bettina Burghardt, Johannes Büge, Annabelle Fuchs, Elias Sigmund Jungheim und Hanna-Barbara Rost haben bei der Literaturbeschaffung, den Korrekturen, dem Glossar und dem Register ganze Arbeit geleistet. Besonders danken möchte ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen Prof. Dr. Hannes Bezzel (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Prof. Dr. Christoph Schulte (Universität Potsdam), Dr. Grit Schorch und Dr. Louise Hecht aus dem DFG-Forschungsprojekt Haskala im Dialog. Juda Jeitteles und Juda Leib ben Ze’eb als Exegeten der Aufklärung, die mir aus der noch laufenden Forschungsarbeit Informationen zu Jeitteles und Ben Ze’ev sowie Originaltexte in Transkription zur Verfügung gestellt haben. Den Kolleginnen und Kollegen PD Dr. Elke Morlok (Frankfurt am Main) und Dr. Ze’ev Strauss (Hamburg), vor allem aber Prof. Dr. mult. Dr. h.c. Johann Maier (1933–2019) verdanke ich bibliographische Hinweise ebenso wie wertvolle inhaltliche Anregungen zu einer Vielzahl von Einzelaspekten. Dem Sonderforschungsbereich 933 Materiale Textkulturen (Universität Heidelberg/Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft) verdanke ich ein Freisemester, in dem u.a. einige Teile dieses Buches, insbesondere die Abschnitte zu den biblischen Manuskripten und der jüdischen Masoraforschung im 19. Jahrhundert entstanden sind. Den letzten sieben Jahren gemeinsamer Arbeit mit den Kolleginnen und Kollegen aus dem DFG-Graduiertenkolleg 1728 Theologie als Wissenschaft. Formierungsprozesse der Reflexivität von Glaubenstraditionen in historischer und systematischer Analyse (Goethe-Universität, Frankfurt am Main; Philosophisch-Theologische Hochschule Sankt Georgen; Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; Johannes Gutenberg-Universität Mainz) verdanke ich das intensive Nachdenken über das Verhältnis der jüdischen Bibelauslegung zu einer (wie immer sich formierenden) jüdischen akademischen Theologie. Aus verschiedenen Gründen erscheint das Buch später als ursprünglich geplant, und so danke ich auch nochmals der Herausgeberin, den Herausgebern und dem Verlag für ihre Geduld.
|XII|Last but not least, hoffe ich, dass dieses Buch, das den Einstieg in die spannende Textwelt des jüdischen Denkens über die Bibelauslegung bieten will, den Studierenden und dem interessierten Laienpublikum eine Anregung zum Weiterlesen und -lernen ist. Wenn es mir gelingt, die Lust am biblischen Text und die Zähigkeit, mit der jüdische Gelehrte schon seit vielen Jahrhunderten mit diesem Text leben und ringen, so zu vermitteln, dass auch heute wieder so etwas wie eine intellektuelle Bibellesekultur entsteht, werde ich mehr erreicht haben, als ich zu hoffen wage.
Gewidmet ist das Buch dem verehrten Kollegen Prof. Dr. mult. Dr. h.c. Johann Maier, der das Erscheinen des Buches leider nicht mehr erleben konnte.
Oktober 2019 // Simchat Tora 5780 Hanna Liss