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3 |HIRSCHE UND REHE FRESSEN DEN WALD

DAS WILDPROBLEM DER ANFANGSJAHRE

Unmittelbar nach Dienstantritt wurden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wegen der viel zu hohen Rot- und Rehwildbestände in den Nationalparkwäldern Tannen und seltenere Laubbaumarten nicht mehr nachwuchsen. Jungwaldflächen wiesen massive Schälschäden auf. Das Thema Hirsche und Rehe im Nationalpark wurde zu einem Schwerpunkt der internen Diskussionen und der öffentlichen Auseinandersetzungen der ersten Jahre. Erst nach Horst Sterns Film „Bemerkungen über den Rothirsch“, der von der ARD an Heiligabend 1971 ausgestrahlt wurde, gelang es, das Schalenwildproblem schrittweise zu lösen.

Schutzgebiet für den König der Wälder

Als in den 50er Jahren Oberforstmeister Götz von Bülow als Leiter das Staatsforstamt St. Oswald übernahm, wurde die Rotwildhege wie bereits erwähnt zum Schwerpunkt seiner Tätigkeit. Er übertrug den neofeudalistischen Trophäenjagdkult nach ostelbischer Gutsherrenart in seine neue dienstliche Heimat. 1961 schrieb er: „Wir haben unersetzliche Verluste im Osten unseres Vaterlandes hinnehmen müssen, so vor allem die Rotwildvorkommen Ostpreußens, an ihrer Spitze das unvergessliche Rominten mit den stärksten deutschen, ja europäischen Hirschen.“

Der Bayerische Wald wurde von ihm zu einem Rotwildlebensraum der ganz besonderen Art hochstilisiert: „So ergeben die Umweltfaktoren im Ganzen ausgesprochen günstige Voraussetzungen für das Gedeihen unseres Wildes und lassen Vergleiche mit den besten und urtümlichsten europäischen Rotwildgebieten, vor allem mit den Karpaten, zu.“ Weiter schrieb er: „Ich kann versichern, die hier aufgewendeten Mittel bringen eine ideelle und materielle Rendite, die sich nicht nur in höheren Wildbretdichten und stärkeren Trophäen ausdrückt, sondern vor allem durch die Gesunderhaltung des Waldes unschätzbar wird!“ Die Behauptung, die Rotwildhege würde eine „materielle Rendite“ bringen und sich in der „Gesunderhaltung des Waldes“ ausdrücken, war eine glatte Lüge.

Noch vor Bär (1856), Wolf (1846) und Luchs (1846) wurde 1820 der letzte Hirsch im Böhmerwald erlegt. 1807 hatte Fürst Schwarzenberg, Großwaldbesitzer im Böhmerwald, sein Jagd-personal damit beauftragt, alles Rotwild abzuschießen, vor allem wegen der „häufigen Einfälle verwegener Raubschützen aus Bayern“. Fürst Adolf Josef zu Schwarzenberg beschloss dann 1874, das Rotwild wieder einzubürgern. 1878 wurden 29 Stück aus einem Gatter freigelassen. Kurz vor der Jahrhundertwende tauchten die ersten Tiere auf bayerischer Seite auf. Ein nennenswerter Bestand entwickelte sich erst im Dritten Reich. Nach dem Krieg wurden dann die Abschussplanungen nur unzureichend erfüllt und die Rotwildpopulation nahm zahlenmäßig immer weiter zu. Als besonderer Schutzherr und Nutznießer des Rotwildes tat sich der spätere Leiter der Oberforstdirektion Regensburg, Forstpräsident Richard Tretzel, hervor. Jahr für Jahr erlegte er im Bayerischen Wald starke Hirsche, von denen einige selbst den Vergleich mit Görings legendären Rotwildgeweihen nicht zu scheuen brauchten.

Bambi-Kult auf Kosten des Waldes

Als wir im Winter 1969/70 den Wildbestand zu erfassen versuchten, zählten wir mindestens 500 Stück Rotwild auf der Nationalparkfläche. 25 Fütterungen waren eingerichtet worden, damit das Rotwild im Staatswald blieb und nicht außerhalb von Privatjägern im Winter erlegt werden konnte. Schon bald erkannten wir, dass die Hirschzucht zu einer kaum vorstellbaren Schädigung der Waldbestände geführt hatte. Auf fast 700 Hektar war die Rinde von den Stämmen fast aller jungen Fichten abgeschält worden. Laubbäume und Tannen waren großflächig abgefressen. Junge Tannen gab es nur noch in begrenzter Zahl hinter Zäunen und vereinzelt an Waldrändern, die an private Jagdreviere angrenzten. Der König des Waldes war dabei, zusammen mit den Rehen denselben aufzufressen!


Schälschäden durch Rotwild aus den Jahren 1969 bis 1971.

(Foto: Hans Bibelriether)


Mitarbeiter des Nationalparkamtes versuchten in den Anfangsjahren, auf Drückjagden Rot- und Rehwild-bestände zu reduzieren.

(Foto: Hans Bibelriether)

Verantwortungsbewusste Forstleute, wie der damalige Chef der Bayerischen Staatsforstverwaltung Max Woelfle, versuchten, die Schalenwildbestände im Staatswald bayernweit zu reduzieren. Aber gegen den „Bayerischen Landesjagdverband“ hatte er damals keine Chance! 1968 wurde er auf der Titelseite der „Münchner Abendzeitung“ unterlegt mit einem schwarzen Kreuz als „Eichmann der Jagd“ bezeichnet. Die Jäger betrieben einen werbewirksamen Bambi-Kult und es gelang ihnen, einer gutgläubigen Öffentlichkeit „Tierliebe“ und „Wildhege“ als Hauptmotivation für ihr jagdliches Treiben zu verkaufen. 1972 brachte es Horst Stern auf den Punkt: „Es wurde viel zu oft versucht, den Wald gesund zu beten, statt gesund zu schießen.“

„Bemerkungen über den Rothirsch“

Georg Sperber und mir war klar: Wenn die Entwicklung eines naturnahen Waldes im Nationalpark auch nur eine geringe Chance haben sollte, mussten die Hirsch- und Rehbestände drastisch reduziert werden. Wir wollten einen Wildschadenspfad anlegen, auf dem zu sehen war, welche Auswirkungen der Verbiss und das Schälen auf die Waldentwicklung hat. Dies wurde uns im Juli 1971 von Ministerialdirektor Haagen untersagt. Trotzdem führten wir interessierte Besucher, darunter auch Journalisten, in solche beschädigten Waldbestände. Einer der ersten war im April 1970 Georg Kleemann von der „Stuttgarter Zeitung“. Er war mit Horst Stern befreundet, der damals mit seiner Filmserie „Sterns Stunde“ ein Millionenpublikum faszinierte, und erzählte ihm von den Wildschäden. Am 19. Dezember 1970 kam Horst Stern erstmals in den Bayerischen Wald. Georg Sperber zeigte ihm Reste der urwaldartigen Bergmischwälder und die von den Hirschen verursachten Totalschäden nicht nur an den jungen Waldbäumen, sondern auch an anderen Pflanzen. Am Abend verabschiedete Horst Stern sich von uns mit den Worten: „Ihr seid die komischsten Beamten, die mir je begegnet sind.“

Nach seinem Besuch im Bayerischen Wald begann er mit den Dreharbeiten für den Film „Bemerkungen über den Rothirsch“. Der an Heiligabend 1971 ausgestrahlte Beitrag schlug ein wie eine Bombe. Viele der Filmszenen wurden im Nationalpark aufgenommen. Der Film war der Anfang vom Ende des bis dahin offen zur Schau getragenen Herrschaftsanspruchs der Jäger am deutschen Wald. Noch in derselben Nacht erhielt Horst Stern telefonisch Morddrohungen. Massive öffentliche Auseinandersetzungen zwischen Jagdfunktionären und Forstleuten, denen es um einen gesunden Wald ging, zogen sich monatelang hin. Am 12. April 1972 wurde der Film im Agrarausschuss des Bundestages in Bonn gezeigt und dort diskutiert. Aber noch immer versuchten Jagdverbandsfunktionäre die Herrschaft im Wald zu behalten. Im Bayerischen Landtag verlangten Abgeordnete der CSU – 30 Prozent der Abgeordneten waren damals Jäger – die disziplinarische Abstrafung der am Film beteiligten Nationalparkbeamten, die Bayerns Ansehen mit Füßen getreten hätten. Minister Eisenmann stellte sich schützend vor uns und verbot auf unseren Vorschlag hin jegliche Art von Trophäenjagd im Nationalpark. Mit der Beendigung des Abschusses von Hirschen und Rehböcken als Trophäenträger wurde die „Jagd“ im Nationalpark in eine „Wildstandsregulierung“ umgewandelt, die weltweit in vielen Nationalparken bei einzelnen Großtierarten notwendig ist, weil deren natürliche Regulierung nicht mehr erfolgt.


Ohne Horst Stern wäre das Problem der zu hohen Rot- und Rehwildbestände in den 70er Jahren nicht gelöst worden.

Wintergatter als Kompromiss

Das Rotwild findet im Sommer in den Bergwäldern genügend Nahrung, im Winter nicht. Deshalb wanderte es früher aus dem Gebirge in die Tallagen, aus dem Bayerischen Wald hinaus in die Niederungen im Donauraum. Im Bayerischen Wald wurde das Rotwild durch die Fütterungen dazu gebracht, im Staatswald zu überwintern. Zäune und Fütterungen konnten aber die tief verschneiten Waldbestände nicht ausreichend schützen. So entwickelte man in Österreich die Idee der Wintergatter, um die Schäden am Wald zu reduzieren. Im Herbst werden die Tiere zu den Fütterungen in die Gatter gelockt und den Winter über mit Grassilage, Rüben und Heu gefüttert. Erst im Mai, wenn die Vegetation im Wald zu treiben beginnt, werden die Gatter geöffnet und die Hirsche wieder in die Freiheit entlassen.

Diese Lösung gefiel uns und mit Minister Eisenmanns Zustimmung wurden die ersten Wintergatter in Deutschland gebaut. Drei Stück von je ca. 30 Hektar Größe wurden im Nationalpark eingerichtet. Dafür verschwanden die 25 offenen Fütterungen. Das erste Wintergatter wurde bereits 1970 gebaut. Revierförster Lothar Hopfner setzte die Waldarbeiter seines Reviers dafür ein. Es wurde zusätzlich eine Beobachtungshütte errichtet und zwei Jahre später durch eine Fanganlage für Forschungszwecke ergänzt. Wintergatter während der kalten Jahreszeit sind ein Kompromiss zugunsten hoher Rotwildbestände und nur ein zweitrangiger Ersatz für die fehlenden Winterlebensräume, die in unserem dicht besiedelten Land praktisch nicht mehr existieren.

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