Читать книгу »Echte Kunst ist eigensinnig!« - Hans-Georg Klemm - Страница 10
Angst und Schrecken
Оглавление150 Jahre vor der Geburt Beethovens sind in Bonn die letzten Hexen auf dem Scheiterhaufen umgekommen; dass die Pest in der Stadt gewütet hat, liegt gerade einmal 100 Jahre zurück. Und keine sechs Jahrzehnte sind vergangen, seit die Bonner drei Tage lang gefastet haben, um die Seuche abzuwenden, die sie – aus Russland und Polen kommend – erneut bedroht, aber schließlich verschont hat. Doch Pestkreuze erinnern die Menschen noch immer an die schreckliche Zeit. Auch der junge Beethoven erlebt Stunden der Angst, des Grauens, des Todes – und die unbarmherzige Zerstörungskraft entfesselter Naturgewalten.
Ironie des Schicksals: Das Jahr 1770, in dem eines der größten Genies aller Zeiten als Kind ihrer Stadt geboren wird, ist ein Unglücksjahr für die Menschen in Bonn: Ein furchtbares Hagelwetter vernichtet nahezu die gesamte Ernte. Im Winter tritt dadurch eine der höchsten Teuerungen aller Zeiten ein. Eine ungeheure Hungersnot ist die Folge. Die Not ist so groß, dass im Jahr darauf die Zahl der Eheschließungen und Geburten dramatisch zurückgeht. Man sorgt sich um eine gesicherte Zukunft. Welch ein Glück, dass Ludwig van Beethoven da schon auf der Welt ist und allen Widrigkeiten zum Trotz am Leben bleibt! Denn neben seiner Pockenerkrankung, der unzählige andere Kinder und Jugendliche erliegen, erwartet seine Heimatstadt gleich zwei verheerende Katastrophen in den nächsten Jahren.
In der Nacht vom 14. auf den 15. Januar 1777 wird der kleine Ludwig um kurz nach drei Uhr jäh aus dem Schlaf gerissen und reibt sich die müden Augen – wie fast jeder in Bonn. Eine gewaltige Explosion verhallt an den Hängen des Siebengebirges. Während der Sechsjährige noch darüber nachgrübelt, warum die Fensterscheiben klirren, wird er schon aus dem Bett gezerrt. Anziehen muss er sich, ganz schnell anziehen. Durch die Butzenscheiben fällt sein ängstlicher Blick auf den nächtlichen Himmel, der in düsterer Glut leuchtet. An allen Fenstern erscheinen jetzt die Menschen, ihre Schreie hallen durch die Bonngasse. Die Sturmglocken heulen von den Türmen, die Feuertrommeln dröhnen unheimlich in der Nacht. Auf der Straße laufen panisch die Menschen zusammen, viele nur notdürftig bekleidet in der klirrenden Kälte; es herrscht scharfer Frost und starker Südostwind. Alles drängt in Richtung des gewaltigen Feuerscheins. Und bald schon ruft es einer dem anderen zu: „Das Schloss brennt!“
In der Menge sind auch Ludwig und seine Eltern. Brandschützen drängen die Männer zum Unglücksort, um beim Löschen zu helfen. Frauen und Kinder stehen zusammengedrängt und sehen voller Entsetzen, wie sich das Feuer immer mehr ausbreitet. Der ganze Dachstuhl des riesigen Schlosses steht bereits in Flammen, und das Feuer frisst sich unaufhaltsam bis hinab ins erste Stockwerk. Große Wasserbütten werden im nahen Bach gefüllt und mit Kutschen herangekarrt. Die Peitschen der Fuhrleute knallen, ängstlich schnauben die Pferde, und in das Geheule der Glocken, das Dröhnen der Trommeln mischt sich das Geschrei der Menge, das immer lauter wird. Denn der scharfe Südostwind treibt einen wahren Feuerstrom über die gegenüberliegenden Dächer. Schon schlagen die ersten Flammen aus einem Dach an der Bischofsgasse. Das Feuer droht die ganze Stadt zu erfassen. Wilde Panik überfällt die Menschen. Jetzt gilt es, das eigene Haus zu retten.
Der kleine Ludwig steht vor dem Glockenturm des Schlosses, von dem die Flammen bereits Besitz ergriffen haben. Oft ist er mit dem Großvater zur vollen Stunde hier gewesen, um dem Glockenspiel zu lauschen. Als es an diesem Morgen sechs Uhr schlägt, hört er es zum letzten Mal. Bald darauf bricht der Turm in sich zusammen. Der 38-jährige Hofrat von Breuning versucht gemeinsam mit zwölf anderen Männern die Archive des Schlosses zu retten. Als das Treppenhaus mit seiner großen Marmorstiege einstürzt, werden die Retter unter herabstürzenden Trümmern begraben. Schwer verletzt, noch bei vollem Bewusstsein, wird von Breuning in sein Haus am Münsterplatz gebracht – und stirbt in den Armen seiner jungen Frau Helene.
Dreizehn große Brände sind in Bonn zu diesem Zeitpunkt ausgebrochen. Mehrmals beginnt die Remigiuskirche zu brennen, auch Jesuitenkirche und Rathaus werden von den Flammen bedroht. Fünf Tage lang wütet das Feuer, fünf Tage lang heulen die Sturmglocken, dröhnen die Feuertrommeln.
Familie van Beethoven wohnt zu diesem Zeitpunkt in der Neugasse, im Haus des Hofmusikers Brandt, nahe beim Schloss. Das Dach des Hauses hat Feuer gefangen, seinen Bewohnern gelingt es jedoch, mit vereinten Kräften das Gebäude zu retten. Als am sechsten Tag die Sonne über einer rauchenden Trümmerstätte aufgeht, ist der prächtigste Teil des Schlosses mit all seinen unermesslichen Kunstschätzen vernichtet. Die Ursache des Brandes konnte nicht geklärt werden. Die gewaltige Explosion, die den Jungen Ludwig und ganz Bonn aus dem Schlaf gerissen hat, ist die Pulverkammer des Schlosses gewesen.
Der Dezember 1783 – Ludwig wird in diesem Monat dreizehn Jahre alt – bringt seiner Heimat abwechselnd scharfen Frost und Tauwetter. Ein starkes Eisschollentreiben auf dem Rhein ist die unvermeidliche Folge. Im Januar beginnt das Eis, sich zu setzen, einem zeitgenössischen Bericht nach „einen Steinwurf unter Bonn“. Die Lage wird immer bedrohlicher, die Angst der Menschen wächst von Stunde zu Stunde. Ein achttägiges Beten nimmt seinen Anfang, um – wie einst bei der Pest – ein schreckliches Unglück abzuwenden. Doch mittlerweile hat sich auch oberhalb Bonns das Eis festgesetzt. Der Rhein ist so fest zugefroren, dass er selbst mit schweren Karren befahren werden kann. Anfang Februar fallen dazu noch ungeheure Mengen Schnee, die sich auf der Eisschicht zu Hügeln auftürmen. Ende des Monats setzt mildere Witterung ein, begleitet von heftigen Niederschlägen. Das Wasser des Rheins steigt unaufhaltsam. Als die Menschen Bonns am 25. Februar 1784 im Aschermittwochsgottesdienst im Münster sitzen, tritt der Strom über seine Ufer. Vielen von ihnen stehen schreckliche Tage und Nächte bevor. Keller und Erdgeschosse müssen geräumt, Frauen, Kinder und Mägde in Booten in Sicherheit gebracht werden.
Die gewaltigen Eis- und Wassermassen schieben die Rheinschiffsmühle gegen die Stadtmauer und bringen sie zusammen mit drei angebauten Häusern zum Einsturz. In den Dörfern Beuel und Schwarz-Rheindorf werden über hundert Behausungen zerstört, einige reißen die Fluten sogar ganz mit sich. In Bonn steht das Wasser in mehreren Gassen, die Josephstraße ist mit großen Eisschollen angefüllt; Zuchthäusler müssen sie zerschlagen. Die rheinische Stadtmauer ist an mehreren Stellen eingestürzt, Schlachthaus und Rheinwerft sind beschädigt. Der Sachschaden ist gewaltig. Wie durch ein Wunder fordert diese Katastrophe kein Menschenleben. Als „Eisgang“ wird sie in Bonn unvergesslich bleiben. Eine Hochwassermarke im Kreuzgang des Münsters erinnert bis heute an die Tage der Angst und des Schreckens im Februar 1784.