Читать книгу »Echte Kunst ist eigensinnig!« - Hans-Georg Klemm - Страница 14
Geheimnisvolle Herkunft
ОглавлениеSpätestens im Alter von 40 Jahren muss Beethoven von dem unglaublichen Gerücht gehört haben, das bis zu seinem Tod in aller Welt schriftlich verbreitet wird: In Wirklichkeit sei er der uneheliche Sohn eines Königs – Friedrichs des Großen oder Friedrich Wilhelms des Zweiten. Einer von beiden soll Maria Magdalena geschwängert haben. Das ist ein starkes Stück! Freunde drängen den schon hoch prominenten Komponisten, diesem üblen Gerücht entschieden entgegenzutreten. Das muss doch berichtigt werden! Schon um der armen toten Mutter willen. Doch Beethoven tut es nicht. Sein Leben lang nicht. Erst bei Ausbruch seiner tödlichen Krankheit gibt er in einem hinterlassenen Brief einem Freund die Erlaubnis, das Gerücht aus der Welt zu schaffen. Dieser Brief jedoch wird nie abgeschickt – bis zu seinem Tod verleugnet er den leiblichen Vater und versäumt es, die Ehre seiner Mutter zu retten; als späte Rache für eine schreckliche Kindheit?
Man kann es aber auch anders deuten, vor allem, wenn man bedenkt, dass Beethoven sich häufig in die falschen Frauen verlieben wird: Adlige, mit denen er, der Bürgerliche, nie auf Augenhöhe steht, die er nie bekommt. Vielleicht hat auch dadurch eine Vorstellung mehr und mehr von ihm Besitz ergriffen: Nicht der versoffene, brutale Taugenichts Johann hat ihn gezeugt, sondern ein preußischer König! Und seine Mutter: eine – wenn auch der Untreue schuldige – königliche Geliebte! Dafür, dass das die Wahrheit ist, gibt es schließlich sogar Beweise …
Man weiß anhand des Eintrags im Taufregister der Kirche St. Remigius in Bonn, dass Ludwig van Beethoven am Sonntag, dem 17. Dezember 1770 getauft und daher aller Wahrscheinlichkeit nach am selben Tag oder aber am Abend zuvor geboren worden sein muss. Warum nicht früher? Die Kindersterblichkeit ist so hoch. Jedes Kind, das am Leben bleibt, ist ein kleines Wunder. Da ein Ungetauftes niemals mit kirchlichem Segen beerdigt wird, ist große Eile geboten: Am besten am Tag der Geburt taufen, spätestens jedoch am Tag darauf.
Das sind die Fakten. Allerdings nicht für Beethoven. In seinen ersten beiden Lebensjahrzehnten glauben er, seine Freunde und vielleicht sogar die Eltern an eine Geburt im Dezember 1771; ein ganzes Jahr später also. Aber es wird noch verwirrender: In Beethoven wächst nämlich, je älter er selbst wird, die Überzeugung, noch jünger sein zu müssen. Er glaubt tatsächlich, erst im Dezember 1772 (oder gar noch 3 Jahre später!) das Licht der Welt erblickt zu haben. Grund der Ungewissheit ist, dass in rheinisch-katholischen Gegenden üblicherweise der Namens-, und eben nicht der Geburtstag, gefeiert wird, somit also kein Jahrestag im eigentlichen Sinne. Doch Freunde wollen wiederholt dieses Rätsel lösen und legen Beethoven Kopien des echten Taufscheins vor. Doch was macht er? Er weigert sich einfach hartnäckig, diesen anzuerkennen, und behauptet, es müsse der seines früh verstorbenen, gleichnamigen Bruders Ludwig (Maria) sein! Sein eigenes Taufzeugnis – das seine Herkunft und sein Geburtsjahr belegen könnte – habe es vielleicht nie gegeben. Oder war es etwa sogar verheimlicht und vernichtet worden? Welches Geheimnis konnte, ja musste sich dann dahinter verbergen …? Eben! So viel zur Überzeugung des erwachsenen Beethoven. Der kleine Ludwig kennt dieses Gerücht natürlich noch nicht. Es ist auch nicht notwendig, um daraus eine Fantasievorstellung von adliger, vornehmer Geburt zu entwickeln.
Denn schon früh muss der Junge seine Genialität gespürt haben: Als die Frau Fischer ihn wieder einmal auf sein schmutziges Äußeres anspricht, entgegnet er ihr selbstbewusst: „Wenn ich mal ein Herr werde, dann wird mir das keiner mehr ansehen!“ Doch das Genie empfindet zugleich auch sein „Anderssein“. Mehr und mehr zieht der junge Beethoven sich zurück, flüchtet in seine eigene Traumwelt – und zusehends in die Einsamkeit.
Die Kinder freuen sich diebisch, als sie aus ihrem Versteck heraus die Nachbarin beobachten – aus sicherer Entfernung, versteht sich. In ihrem Gesicht eine Mischung aus Wut und Angst. Auf Zehenspitzen stolziert sie durch ihren Garten auf der vergeblichen Suche nach der streunenden Füchsin, die schon wieder die Eier aus ihrem Hühnerstall geplündert hat. Ludwig spielt Streiche wie diesen. Ludwig spielt Huckepack mit seinen Vettern. Ludwig sitzt auf der Schaukel und wird von der Bäckerstochter angeschubst. Ganz selten sind für ihn so übermütige Momente, die für die anderen Kinder beinahe alltäglich sind. Sie streifen durch die Wälder, erleben Abenteuer in Bonn, auf dem Rhein oder am Ufer, spielen und scherzen. Ludwig ist nicht dabei. Jedenfalls erinnert sich niemand. Der Junge reagiert mit Jähzorn auf den Diebstahl seiner unbeschwerten Kindheit – und mit Melancholie. Dann sieht man ihn an seinem Fenster sitzen, wie er den Kopf in beide Hände legt und lange auf einen fernen Fleck zu starren scheint. Er schließt sich auf dem Dachboden ein, wo ein Fernrohr auf ihn wartet. Damit schaut er dreißig Kilometer weit. Über den Rhein hinweg, wo die anderen spielen, lässt er seine einsamen Blicke und Gedanken bis hin zum Siebengebirge schweifen.
Ist es einer dieser Momente, als Ludwig zum ersten Mal an seinen toten Bruder denkt? Seinen „großen“ Bruder, ein Jahr älter als er selbst wäre er. Nur sechs Tage hat er leben dürfen. Ob Vater und Mutter ihn mehr geliebt haben, den erstgeborenen Sohn, das erste Kind überhaupt? Vielleicht hat ja Beethoven später, als er sein wahres Geburtsjahr beharrlich leugnet, schlicht und ergreifend auch einem sehnlichen Verlangen nachgegeben, einem eigentlich unerfüllbaren Wunsch: selber der erstgeborene, der geliebte Sohn gewesen zu sein. Tatsache ist, dass Beethoven des toten Bruders sein Leben lang gedenkt. Dies mag (auch unbewusst) seinen Ehrgeiz anstacheln, noch besser zu werden, als er ist. Der Ältere hat nie die Chance gehabt, zu leben und es dem Großvater gleichzutun. Oder ist es mehr die Erinnerung an diesen, den Helden, das Vorbild, dem er nacheifert? Nicht umsonst hat er sein Leben lang den Gedanken, selbst Kapellmeister zu werden, nie ganz aufgegeben.
Womöglich ist es ja beides – gepaart mit dem Bewusstsein, dass der Tod ein ständiger Begleiter ist, der alles beenden kann – spät oder früh; wie bei „den beiden Ludwigs“ vor ihm, dem Großvater, dem Bruder. Und bald auch bei seinen Eltern und Geschwistern.
Dies mögen jedenfalls Erklärungen dafür sein, dass Beethoven die Musik, die ihm vom Vater eingeprügelt worden ist, nicht mit Widerwillen oder gar Hass erfüllt, sondern – ganz im Gegenteil – im Mittelpunkt der Traumwelt steht, in die er geflüchtet ist. So gut wie jede Stunde seiner Tage widmet er ihr bald. Denn in ihr findet er Erfüllung und Glück. Später wird Beethoven erzählen, dass er – ganz ohne die Schläge des Vaters – bis weit nach Mitternacht geübt hat, um seine Technik nach und nach zu vervollkommnen. Auch wenn er kein Wunderkind wie Mozart ist: In seinem zweiten Lebensjahrzehnt stellen sich rasch die ersten Erfolge ein. Und vieles wird anders werden für Ludwig van Beethoven.