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Prolog: Währinger Friedhof

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Es ist schummrig und kühl in der Friedhofskapelle.

Der Unbekannte hält sich im Dunkel der hintersten Ecke versteckt und beobachtet die fremden Männer, die schweigend nebeneinander stehen. Alles ist längst besprochen worden. Immer und immer wieder. Jeder weiß, was zu tun ist. Nun warten sie, bis er kommt und der schaurige Augenblick da ist, der sie ihr Leben lang begleiten wird: das, was sie zu Gesicht bekommen werden. Sein Anblick. Oder vielmehr: was von ihm geblieben ist.

Sie haben nicht bemerkt, dass noch jemand hier ist. Er darf nicht hier sein, niemand darf es, außer ihnen. Er wartet, wie sie. Tiefschwarz ist seine Kleidung. Ihm ist heiß, wie so oft, unerträglich heiß. Lautlos nimmt er den Zylinder vom kurz geschorenen Kopf und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er wagt kaum zu atmen. Man darf ihn nicht entdecken, noch nicht, so lange nicht, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist …


Endlich nähern sich von weitem schwere, gleichmäßige Schritte. Langsam öffnet sich die zweiflüglige Tür, Tageslicht flutet herein. Noch weiter zurück in das Dunkel tritt er, bis er die kühle Mauer der Kapelle in seinem Rücken spürt. Bloß nicht entdeckt werden, gerade jetzt, da es seinen Anfang nimmt.

Er beobachtet die unheimliche Szene: Sechs vollbärtige Männer in schwarzen Gehröcken tragen langsam den Sarg herein. Setzen ihn behutsam ab. Kein Wort fällt zwischen den Wartenden und den Trägern. Stumm beginnen sie mit ihrer Arbeit. Nur das metallische Klappern ihrer Instrumente verhallt im Dunkel. Jetzt heißt es nur auf den richtigen Moment warten. Ungeduldig tritt er von einem Bein auf das andere. Plötzlich und unerwartet tritt einer von ihnen aus dem Kreis zurück. Die Lücke ist da. Endlich! Er stürzt vor, bis an den geöffneten Sarg … von Entsetzen verzerrte Gesichter starren ihn an …


Es ist der 21. Juni 1888, als die Gebeine Ludwig van Beethovens – nicht zum ersten Mal – ausgegraben werden.

Alle, die auf dem Währinger Friedhof in Wien dabei sind, erinnern sich ihr Leben lang an einen unvergesslichen Augenblick: Der Sarg ist gehoben worden, die im Kreis um die Grube stehenden Männer haben ehrfürchtig die schwarzen Zylinder abgenommen. Feierliches Schweigen herrscht. Da beginnt plötzlich – um vier Uhr am Nachmittag – von einem nahen Baum eine Nachtigall mit einem schluchzenden Lied.

Den Anwesenden läuft ein Schauer über den Rücken. Bis hinauf zur Friedhofskapelle ist der Grabgesang des Vogels zu hören, wo schon Ärzte des Anthropologischen Instituts ungeduldig den Sarg erwarten; bewaffnet mit Maßbändern, Schieblehren und Zirkeln. Bevor die Gebeine Beethovens nämlich auf dem Zentralfriedhof Wiens ihre endgültig letzte Ruhe finden werden, soll der Schädel Ludwig van Beethovens noch einmal gründlichst vermessen werden.

Der Eindringling in der Kapelle wird, nachdem der erste Schrecken annähernd überwunden ist, von Professor Doldt, dem Leiter der Kommission, erkannt: „Ach, Sie sind‘s …“ Die Ärzte blicken sich wortlos, aber vielsagend an. Der Mann ist bekannt in Wien; berühmt als Orgelspieler, umstritten als Komponist. Er gilt als etwas merkwürdig – gelinde ausgedrückt. Die sonderbarsten Geschichten erzählt man sich über ihn. Leider hat man da noch nicht erkannt, dass er neben Beethoven als einer der genialsten Sinfoniker des 19. Jahrhunderts in die Musikgeschichte eingehen wird. Es ist der Österreicher Anton Bruckner.

Professor Doldt gestattet es ihm schweren Herzens, in der Kapelle zu bleiben – und wird es schon bald darauf bereuen. Kaum ist man nämlich mit den wissenschaftlichen Untersuchungen fertig, da drängt Bruckner erneut resolut an den Sarg heran, bittet geradezu flehentlich, den Schädel des von ihm Verehrten doch nur einmal berühren zu dürfen. Gerade jetzt fühlt er sich besonders verbunden mit ihm, hat er doch die Idee für den Anfang seiner Neunten im Kopf – einer der überwältigendsten Sinfonien, die je ein menschliches Gehirn erdacht hat. Wie Beethovens Abschiedswerk soll auch sie in der Tonart d-Moll stehen …

Den hoch empfindlichen Schädel des toten Titanen berühren will dieser Mann? Das kommt selbstverständlich nicht infrage! Die Ärzte bilden, indem sie sich an den Händen fassen, eine menschliche Kette, um die Gebeine vor dem offensichtlich Wahnsinnigen zu schützen. Bruckner jedoch lässt sich davon keinesfalls beeindrucken. Unsanft schubst er mal eben einen der Ärzte beiseite, beugt sich blitzschnell über den Sarg und betastet zunächst nur mit den Fingern seiner rechten Hand den bleichen Schädel. Dann setzt er den Zylinder auf, um beide Hände daranlegen zu können. Die Umherstehenden sind fassungslos und wie gelähmt; vor allem, als Bruckner sie auch noch vor dem Toten schlechtmacht, indem er murmelt: „Nicht wahr, lieber Beethoven, wenn du noch lebtest, würdest du mir erlauben, dich anzulangen – diese fremden Herren haben es mir verboten.“

Ob dieser tatsächlich, wenn er denn gekonnt hätte, dem Wunsch Bruckners nachgekommen wäre, darf mehr als bezweifelt werden. Denn eigensinnig ist er ganz sicher gewesen, Ludwig van Beethoven, ein hochsensibler Mensch, dem noch dazu das Schicksal grausam mitspielte; ein Leben lang …

»Echte Kunst ist eigensinnig!«

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