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Erster Teil: Bonn Geburt und Heimat

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Es ist eine kalte Dezembernacht, als die kleinen, pechschwarzen Augen sich zum ersten Mal öffnen und doch nur wenig vom Licht der Welt erblicken. Denn finster ist es in der winzigen, niedrigen Dachstube. Da die Butzenscheiben der zwei kleinen Fenster nur die Nacht hereinstarren lassen, sorgt eine Öllampe für trübes Licht. Dunkel getüncht sind die kahlen Wände.

Man wickelt das Kind eng ein und legt es in eine Wiege aus dunkelbraunem Holz. Zuvor jedoch hat sein erster, lauter Schrei das Hinterhaus in der Bonngasse erfüllt; viele stumme werden ihm noch folgen – denn den Jungen, der jetzt trotzig das rechte Händchen hebt, erwartet eine einsame, unglückliche, grausame Kindheit.

Eine Pockenerkrankung wird noch das geringste Übel sein. Sie hinterlässt nur Narben in seinem Gesicht, nicht an seinem Herzen, wie die unerfüllte Sehnsucht eines Kindes nach der Liebe der Eltern; das erste, und bei weitem nicht das letzte, große Verhängnis seines noch jungen Lebens.

Dabei kann man zunächst von Glück sagen, dass er überhaupt lebt. Die Säuglingssterblichkeit ist hoch im 18. Jahrhundert. Jedes fünfte Kind in Bonn wird keine vier Wochen alt; die Überlebenschance eines Jungen kurz nach der Geburt ist noch geringer als die eines Mädchens. 256 Menschen werden im Jahr 1770 auf dem Kirchhof bei Sankt Remigius zu Grabe getragen – 156 davon sind Kinder, die Hälfte von ihnen ist kein Jahr alt geworden. Erbliche Schäden, mangelnde Hygiene und Infektionskrankheiten sind häufige Todesursachen. Kinderseuchen – wie die Pocken Mitte der achtziger Jahre – raffen Hunderte dahin.

Auch die Familie Beethoven bleibt vom Sterben nicht verschont. Sieben Kinder wird Maria Magdalena ihrem Ehemann Johann gebären; Ludwig ist einer von den drei Söhnen, die das Glück haben, am Leben zu bleiben, zum Mann heranzureifen an einem Ort, der für immer untrennbar mit dem Namen seines berühmtesten Kindes verbunden bleiben wird: Bonn am Rhein.

Was ist das für eine Stadt, in der Ludwig van Beethoven aufwächst, seine Kindheit und Jugend verlebt? Was sieht und erlebt er im ersten Drittel seines Lebens? Um es vorwegzunehmen: Es ist ganz sicher so manches Ereignis darunter, das sich unauslöschlich in seinem Unbewussten einprägen und später, viel später erst irgendwo in seiner Musik verborgen zur Ewigkeit werden wird. Auch wenn wir es nie genau erfahren werden.

Der große Sinfoniker Gustav Mahler jedenfalls war überzeugt davon und geht sogar noch deutlich weiter, wenn er sagt, dass „im künstlerischen Schaffen fast ausschließlich jene Eindrücke endgültig fruchtbar werden und entscheidend sind, die in das Alter vom 4. bis zum 11. Jahr“ fallen.

Begeben wir uns also zurück in diese Zeit und den Ort der Kindheit Ludwig van Beethovens …


„Bonn, eine kleine Stadt am Rhein, vier Meilen oberhalb Kölns, auf derselben Rheinseite. Sie liegt in einem ebenen Gebiet; die Landschaft ist sehr angenehm; teilweise ist die Stadt von Weinbergen umgeben, was man am weiteren Unterrhein nicht mehr feststellen kann. Sie ist nicht fern den Bergen und Wäldern, die den Ort geeignet für die Jagd machen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum der Herr Kurfürst dort residierte.“

So oder so ähnlich wie diese Beschreibung eines französischen Reisenden, der auf dem Weg nach Münster in Bonn übernachtet hat, lauten sicher viele Schilderungen des Geburtsorts von Ludwig van Beethoven. Die Umgebung der Stadt muss zauberhaft sein, besonders im Frühling, wenn Apfel-, Johannisapfel-, Birn-, Kirsch-, Morellen-, Pflaumen-, Pfirsich-, Quitten- und Haselnussbäume in voller Blüte stehen. Dornen- und Rosenhecken trennen die Grundstücke vor der Stadt. Man pflanzt Ulmen, Eschen und Weiden. Auf der Landseite ist Bonn von Weingärten, Fruchtbäumen und Kornfeldern umgeben. Vor allem aber ist es eine Stadt, die an einem großen Fluss liegt, der nie ganz bezwungenen Naturkraft der Gegend: dem Rhein. Mit Eisgang und Hochwasser bedroht er die ihm zugewandte Stadtfront, wenn auch die Katastrophen für das Steilufer, auf dem Bonn liegt, nicht die verheerenden Ausmaße annehmen wie auf der rechten Rheinseite. Der gewaltige Strom verlangt von den Menschen ständige Arbeiten, Uferbefestigung und -bepflanzung. Aber er gibt weit mehr, als er fordert. Seine Verkehrskraft garantiert die nicht unbeträchtlichen Einnahmen des Zolls; von nah und fern kommen die Güter über den Kölner Stapel mit dem Bonner Marktschiff an, werden am Bonner Kran ausgeladen und dann auf den Markt gebracht: in über fünfzig „Winkel“ und „Boutiquen“ der Kaufleute und Krämer, in die Werkstätten der Handwerker. Er treibt die Schiffsmühlen an, die für die sechzig Bonner Bäcker das Getreide mahlen. Breit zieht der Strom an der Stadt vorbei.

Sicher, die Rheinfront Bonns ist nicht ganz so eindrucksvoll wie die Kölns, besitzt aber dennoch ihren ganz eigenen Charme. Das Stadtbild im Norden wird von einer gewaltigen Windmühle beherrscht, einem steinernen Turm mit Holzwerk – über zwölf Meter hoch. Im Süden beeindrucken die Dreikönigenbastion, das gewaltige kurfürstliche Schloss, aber auch die „Vinea Domini“, ein kleines Weinbergschlösschen. Die fünf Türme des Münsters ragen gemeinsam mit dem Turmpaar der Jesuitenkirche gen Himmel. Auch der Dachreiter der Minoritenkirche reckt sich bescheiden in die Höhe. Bonn ist von einer hohen, mittelalterlichen Mauer umschlossen, einen Meter dick und bis zu sieben Meter hoch. In ihren Nischen haben die ganz Armen ihre Häuschen gebaut. Einlass gewähren die Stadttore, vor denen Wachen postiert sind. Ein Fremder wird nur hereingelassen, wenn er sich ordnungsgemäß ausweisen kann.

Es ist recht eng innerhalb der Stadtmauern Bonns. Über zehntausend Menschen leben in nur tausend, oft sehr schmalen Häusern, die dicht aneinandergereiht stehen. Die Wohnungsnot ist bereits groß, und die Bevölkerung wächst weiter. Einwanderer, etwa aus Italien, zieht es nach Bonn. Bis in die Dachgipfel hinein sind manche der Häuser bewohnt. Noch sind sie nicht nummeriert, viele tragen jedoch eigene, oft eigentümliche Namen, wie etwa „Zur Totenlade“, „Zum Walfisch“, „Zum alten Wolf“, „Zum roten Kopf“, „Zum schwarzen Hörnchen“, „Zum kleinen Karpfen“. Die mehr schlecht als recht gepflasterten Straßen sind eng, unregelmäßig, nicht wirklich reinlich zu nennen. Oft sieht man einen älteren Herrn auf ihnen schreiten, der einen kleinen Jungen an der Hand hält: Großvater van Beethoven mit seinem Enkel Ludwig.


Der über alles geliebte Opa unternimmt viel mit seinem dreijährigen Enkel, zeigt ihm die Stadt und ihre Umgebung. Sie kommen gerade aus Köln zurück, wo der Junge überwältigt zum ersten Mal vor dem Dom gestanden hat. Seit fast fünf Stunden sitzen beide in der Kutsche; so lange dauert die Fahrt zurück nach Bonn. Über eine gut gepflasterte Allee sind sie gefahren, die von Lindenbäumen gesäumt ist. Und viel haben sie gesehen, viel hat der Großvater dem Kleinen erzählen und erklären müssen. Vor allem auf der aufregenden Hinfahrt am Morgen, über den Rhein mit dem Marktschiff. Voll besetzt ist die Kabine zunächst gewesen, der Großvater war verärgert. Kein Platz frei, und dann noch „Tabaktrinken“ verboten! Die Pfeife des Opas muss kalt bleiben. Dann hat es jedoch großes Geschrei gegeben, und man hat zwei Männer unsanft hinausbefördert. Ein Jude und ein Bettler. Die dürfen hier nicht sein, erfährt Ludwig. Sitzen hätte der Großvater auch so können: Vornehmen Personen wie ihm ist gefälligst Platz zu machen, auch wenn sie so spät dran sind wie heute. Der Dreijährige lernt viel an diesem Tag, weil er viel fragt. Über das kleine Schlösschen da zum Beispiel. Ein Lustschloss, die „Vinea Domini“, von einem Weingarten umgeben. Der Opa ist einmal Gast gewesen. Es gibt ein „Tischleindeckdich“ da. Wenn man im Speisesaal sitzt, steigen wie von Geisterhand die schönsten Köstlichkeiten aus dem Boden empor – heraufbefördert durch einen fabelhaften Apparat: die „Maschine des aufgehenden Tisches“.

Auch an den Schlössern Brühl und Poppelsdorf sind sie vorbeigekommen. Ihre Glanzzeit ist vorbei, schon lange haben keine Bälle mehr dort stattgefunden, schon lange sind keine Gäste mehr mit Gondeln auf dem Weiher des herrlichen Gartens von Poppelsdorf gefahren. Die hatte der Kurfürst sogar extra aus Venedig kommen lassen … Jetzt verfällt es mehr und mehr, auch wenn man das aus der Ferne nicht sehen kann. Der Burggraf ist der einzige Bewohner. Clemens heißt der. „Clemensruhe“ nennt man das Schloss noch immer, aber nicht nach ihm, sondern nach dem Kurfürsten Clemens August.

Jetzt sind Großvater und Enkel wieder zurück in der Heimat. Noch einmal erlebt der kleine Ludwig etwas Aufregendes am Stadttor. Zwei in Lumpen gekleidete Männer bekommen es gehörig mit den Posten zu tun, die nicht gerade zimperlich mit ihnen umgehen. Ihr Geschrei nützt gar nichts. Sie kommen auf keinen Fall hinein nach Bonn. Bettler sind es. Fremde Bettler.


Fast zweihundert von ihnen bevölkern die Gassen Bonns, Männer, Frauen und Kinder. Es sind Soldatenwitwen darunter, Alte, Kranke und Blinde, wie ein 65-jähriger Franzose, der, bevor er sein Augenlicht verloren hat, Schuster gewesen ist. Aber auch Schreiner, Maurer, Wäscherinnen, Näherinnen und Spinnerinnen verdienen so wenig, dass sie zusätzlich betteln müssen, um leben zu können. Ortsfremde Bettler werden unmissverständlich aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Wer sich widersetzt, dem droht das Stockhaus. Soldaten durchsuchen die Kirchen und Gassen nach lichtscheuen Elementen. Für die „eigenen“ Armen jedoch wird durchaus gesorgt. Durch ein am linken Arm zu tragendes Bettelzeichen – eine Bleischeibe – können sie sich als anerkannte „Bonner Bettler“ ausweisen. 1774 wird das Betteln schließlich ganz verboten, Bedürftige erhalten Almosen, bis ihnen Arbeit verschafft werden kann, ein Arbeitshaus für Arme wird eröffnet, wo auch Kinder beschäftigt werden. Ein Arzt, ein Wundarzt und eine Hebamme werden eigens für die Armen Bonns eingestellt.


Am nächsten Morgen sind Großvater und Enkel schon wieder unterwegs. Es ist Markttag. Der kleine Ludwig liebt den Markt über alles. So viel gibt es zu sehen, zu hören, zu riechen. Noch bevor eine Glocke das Treiben eröffnet, sind die beiden da. Zuerst geht es zur Fontäne, dem Brunnen. Ludwig hält seine Hände unter einen der beiden lustigen Männerköpfe, die das Wasser in ein ovales Becken spucken, und beobachtet fasziniert, wie es durch zwei Schlangen wieder abläuft.

Der Marktplatz von Bonn: Aneinandergedrängte Häuschen, in Gelb, Rosa und Grau gestrichen, scheinen sich gegenseitig vor dem Umfallen zu bewahren. Auf der einen Seite eine geschlossene Reihe dreigeschossiger Häuser mit geschweiften Giebeln, auf der anderen ragen auch fünfgeschossige hervor. Im Hintergrund das herrliche Rathaus, in Gelb und Grau gehalten. Ein schmiedeeisernes Schmuckgitter ziert die zweiläufige Freitreppe.

Reges Treiben herrscht, wenn um zehn oder elf Uhr morgens die Marktglocke ertönt. Ein Marktmeister ist eingesetzt, um nach dem Rechten zu sehen und Betrug und Unordnung zu verhindern. Er nimmt die Waren in Augenschein, vor allem „garstig Fischwerk“ wird von ihm beschlagnahmt und in den Rhein geschüttet. Die Kölner Händler stehen unter seiner besonderen Beobachtung – sagt man ihnen doch nach, dass sie gerne mal halb verdorbene Fische auf dem Bonner Markt an den Mann bringen wollen. Ausschussware, die immerhin noch genießbar ist, darf nur auf dem untersten Teil des Marktes, hinter dem Brunnen, zu günstigeren Preisen verkauft werden. Die Menschen drängen sich vor den Fleischbänken der Metzger, den unzähligen Ständen und Buden, wo die Krämer ihre Waren anbieten: Speck, Käse, Honig, Öl, Wachs, Tran, Hanf, Tabak, Seife, Tuche und vieles mehr. Sogar ganze Schweine und Rinder kann man auf dem Viehmarkt vor der Sternpforte erwerben.

Der Markplatz Bonns ist ein Ort des Handels. Grausamkeiten gibt es hier nicht mehr zu bestaunen. Die letzte Hinrichtung liegt lange zurück, fast sieben Jahrzehnte ist es her, dass man hier einem Soldaten den Strick um den Hals gelegt hat. Jetzt stehen die Galgen vor der Stadt, „Auf der Höhe“. Auch einen Pranger sucht man vergebens, nur ein Hals- und Handband erwartet die Sünder am Rathaus. Vor zwei Jahren erst, erfährt Ludwig, hat man einen jungen Mann dort angeschlossen, einen Zettel mit der Aufschrift „Gartendieb“ an der Brust und die türkischen Bohnen, die er gestohlen hat, um den Hals. So hat er dagesessen, eine geschlagene halbe Stunde lang.

Wenn es auf dem Markt nichts mehr zu sehen gibt, gehen Großvater und Enkel noch ein bisschen spazieren. Immer wieder wird der Opa ehrfurchtsvoll gegrüßt; er ist eine angesehene Persönlichkeit in Bonn. Auch die in Sänften getragenen Herrschaften senken oft den Kopf zum Gruß. Großvater und Enkel gehen lieber zu Fuß. Viel gibt es in Bonn zu bewundern, vor allem die Kirchen, allen voran die Stiftskirche St. Cassius und Florentius, das Münster. Der gleichnamige Platz davor ist voller Bäume, auch einen Weiher gibt es dort, den Krötenpfuhl. Ein lustiger Name, findet Ludwig.

Doch nicht nur Kirchen schmücken die Stadt, sondern auch die Paläste der Adligen. Graf Wolff-Metternich zu Gracht etwa hat seine Residenz, den Metternicher Hof, im Stile eines Pariser Adelshotels angelegt. Der dazugehörige Garten ist so groß, dass er bis zum Rhein reicht, das Gartenhaus steht direkt an der Rheinmauer. Die Bonngasse schmückt der Gudenauer Hof mit seinen zwei Einfahrten; die stattlichen Häuser der Rysselstraße, wo nur Adel und hohes Beamtentum logieren: Stadtgouverneur Graf von Verita, Geheimrätin Löltgen und „Madame Troggeler“ alias Mechthild Brion, eine Mätresse des Kurfürsten. Derer von Lapp wohnen neben de Cler in der Wenzelgasse, in der Sandkaule stehen die Häuser derer von Kügelgen, der Madame de Berghes, des Geheimrats von Föller, wo später Graf von Nesselrode-Reichenstein zu wohnen beliebt.

Nicht nur von außen ist alles vom Feinsten. Im Föller‘schen Hause beispielsweise befindet sich eine Orangerie und eine eigene Hauskapelle; der Silberschatz – Schüsseln, Wandleuchter, Tafelaufsätze und so weiter – hat einen Wert von 6.000 Reichstalern, die Porzellansammlung enthält Prachtstücke von Alt-Meißner und Straßburger Fayence. Der Vorrat an feinem Leinen umfasst 213 Tischtücher, 1123 Servietten, 262 Bettlaken, 148 Kissenbezüge, 493 Handtücher; dazu Stuhlbezüge, Gardinen, Bettbehänger, Betthimmel …

Die Werte dieser Paläste sind ungeheuer: Den Gudenauer Hof beispielsweise schätzt man auf 20.000 Reichstaler, ebenso hoch den Metternicher. Da kann kein noch so wohlhabender Handwerker oder Kaufmann mithalten, deren Häuser am Markt und in den von ihm ausgehenden Straßen liegen. Immerhin: Ihre Werte schwanken zwischen 1.000 und 6.000 Reichstalern; für diesen Betrag verkauft ein Brauermeister das Haus „Zum Alten Wolf“. Zum Vergleich: Ein herkömmlicher Handwerkermeister verdient etwa 30 Reichstaler – im Monat. Fast ein Drittel der Häuser Bonns liegt, was ihren Wert anbetrifft, unter 750 Reichstalern. In ihnen leben die Armen, die an noch Ärmere untervermieten. Darunter die Bettelarmut: die Bewohner der über hundert „Bogenhäuser“ an der Stadtmauer.

Der junge Ludwig sieht all die herrlichen Paläste der Reichen und ihr Leben – und die zerlumpten Bettler in den Straßen. Bilder, die er wohl sein Leben lang kaum vergessen wird. „Alle Menschen werden Brüder“ …

»Echte Kunst ist eigensinnig!«

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