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Schulzeit

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Eingeschult werde ich im April 1928 in der Schule an der Margarethenstraße, ein ziemlich neues Gebäude, in dem eine Mittel-(heute Real-)schule untergebracht ist und im obersten Stockwerk eine erste und zweite Grundschulklasse. Die zwei Jahre an dieser Schule sind mir nur schwach in Erinnerung. Vor Beginn des Unterrichts wird immer gebetet. Evangelischer Religionsunterricht ist Pflichtfach. Es wird nicht gefragt, ob die Eltern der Schüler vielleicht nur gottgläubig oder gar Atheisten sind. Während des Unterrichts müssen, wenn nicht geschrieben oder gezeichnet wird, die Hände gefaltet auf dem Schülerpult liegen. Zwei Episoden erinnere ich. Ich komme manchmal zu spät zum Unterricht, was ich dann meistens mit Nachsitzen zu büßen habe. In unserem Stockwerk befindet sich eine großräumige Garderobe für unsere Mäntel. Eines Morgens – wieder verspätet – hänge ich meinen Mantel auf einen Haken, als eine junge Lehrerin vorbei kommt, bei mir stehen bleibt, mich ansieht und fragt: „Nun, was macht man?“ Ich bleibe stumm. „Willst du nicht einen Diener machen?“ Einen „Diener“, d.h. vor „höher gestellten“ Personen einen Bückling zu machen, stammt noch aus alter Zeit und ist im Deutschland der von vielen Bürgern ungeliebten Republik noch durchaus üblich, uns Kindern sogar anerzogen worden. Vor Erwachsenen ist zur Begrüßung stets ein Diener zu machen, das „gehört sich einfach so“. Ich will vor dem Fräulein aber keinen Diener machen, obwohl sie es mir einige Male vormacht. Schließlich nimmt sie mich mit in unseren Klassenraum und berichtet unserem Lehrer, Herrn Purnhagen, von meinem „ungehörigen Benehmen“. Er zwingt mich, die Dienerprozedur vor dem Fräulein in Anwesenheit der ganzen Klasse vorzuführen, was mich sehr verletzt.



Zweite Grundschulklasse in der Schule an der Margaretenstraße 1929. Der Junge in dervordersten

Reihe rechts mit herunter gerutschtem linken Strumpft bin ich, Hans H. Hanemann


Ein anderes Mal trinke ich im Waschraum vor der Toilette Wasser aus der Leitung und sage zu einem ebenfalls seinen Durst stillenden Klassenkameraden: „Das Wasser schmeckt richtig nach

Scheiße“. Dies hört der im Nebenraum gerade anwesende Hausmeister. Er kommt sofort zu mir und fordert mich auf, zu wiederholen was ich gesagt habe. Da ich mich weigere, sagt er mir sogar vor „Das Wasser schmeckt nach ...na, wonach schmeckt es, sag es noch mal“. Ich erinnere mich nicht richtig, wie es weitergeht, glaube aber, daß der Hausmeister es mit meinen Tränen bewenden läßt.

Der „Diener“ ist nach Beginn der Naziherrschaft nicht mehr zeitgemäß und auch als „undeutsch“ denunziert. Deswegen sollen alle „Volksgenossen“, auch die kleinsten, mit schräg erhobenem rechten Arm – dem faschistischen Gruß – laut und vernehmlich „Heil Hitler“ grüßen.

Mein Weg zur Schule und zurück nach Hause führt mich immer über die Peterstraße (benannt nach Peter Friedrich Ludwig, um 1800 Herzog von Oldenburg, Bischof zu Lübeck, Erbe zu Norwegen, Herzog zu Schleswig, Holstein, Storman und Dithmarschen). In der Mitte an der Einmündung zur Georgstraße steht die einzige katholische Stadtkirche. Hinter dieser Kirche, am Anfang der nach links verlaufenden Georgstraße, gibt es eine katholische Volksschule. Etwa 50 Meter Richtung Stadtmitte kurz vor der Brücke über die Haaren gibt es noch eine städtische Volksschule, die nur von evangelischen Schülern besucht wird. Mein Weg führt mich immer durch diese Gegend. Als ich eines Mittags auf dem Nachhauseweg die Peterstraße überqueren will, ist fast kein Durchkommen, weil sich in der Straße – wie mir scheint, auf ihrer ganzen Länge von ca. 400 Metern – ältere katholische und evangelische Volksschüler eine regelrechte Straßenschlacht liefern. Die Polizei ist schon im Überfallwagen angerückt und einzelne Polizisten in ihren blauen Uniformen und schwarz gelackten Tschakos versuchen, die Schüler auseinander zu bringen. Pöbeleien zwischen den Schülern beider Schulen hat es schon immer gegeben, daß sie aber zu solchen Unruhen ausarten, ist neu.

Daß politische Spannungen die Ursache waren, ist nicht ganz auszuschließen. Das Land Oldenburg ist konfessionell zweigeteilt, der Norden ausnahmslos evangelisch, der Süden größtenteils katholisch. Die Lage der Stadt Oldenburg, Hauptstadt und Regierungssitz des damaligen Freistaates Oldenburg (und seiner beiden exterritorialen Landesteile Lübeck-Land und Birkenfeld im heutigen Rheinlandpfalz) in der Mitte der beiden Konfessionsgebiete kann sie leicht zum Schwerpunkt von Streitigkeiten zwischen den Anhängern der beiden Konfessionen machen. Die Oldenburger lutherische Kirche ist in der Zeit streng national orientiert. Keine größere „vaterländische“ Feier einer nationalen Organisation, an der die evangelische Kirche nicht irgendwie – gewöhnlich mit einem „Feldgottesdienst“ – beteiligt ist. Die demokratische Republik wird nur als Übergang zur Wiederherstellung der Monarchie gesehen. Die politische Heimat der meisten Katholiken ist die vorwiegend katholische Partei des Zentrum, die sich zur Republik bekennt und im Berliner Reichstag bis Ende der zwanziger Jahre zusammen mit den Sozialdemokraten und der Demokratischen Partei die parlamentarische Mehrheit besitzt, bei zunehmender Arbeitslosigkeit allerdings mit schwindender Tendenz.

Für mich und meine damaligen Spielgefährten, die wie unsere Familie der ev.-luth. Kirche angehören und auch in ihrem Sinne erzogen werden, übt die katholische Kirche mit allem, was zu ihr gehört, einen exotischen Reiz aus. Zu gern versuche ich, mal einen Blick ins Innere der katholischen Kirche in der Peterstraße zu bekommen, wenn für einen Moment die schwere Außentür offen steht. Es scheint da drinnen alles sehr bunt zu sein mit vielen Bildern und Figuren, ganz anders als in unseren evangelischen Kirchen mit ihren schmucklosen, eher nüchternen Einrichtungen.

Das dritte und vierte Grundschuljahr absolviert unsere Klasse in der alten Schule an der Brüderstraße. Von einem Schulleiter in der Grundschulabteilung an der Margarethenstraße wussten wir nichts. Hier an der Brüderstraße herrscht der Konrektor, Herr Lienemann, ein älterer und ziemlich gefürchteter, weil sehr strenger Lehrer, bei dem wir mehrere Wochen Unterricht haben, weil unser Klassenlehrer krank ist. Im Unterschied zu diesem schlägt er jedoch nicht; dafür straft er schon bei leichten Vergehen gegen die Schulordnung mit Strafarbeiten und Nachsitzen bzw. Vorsitzen, wenn unser eigentlicher Unterricht erst später als 8 Uhr beginnt. Bemerkenswert an beiden Schulen ist, daß wir Schüler Gehorsam zu lernen haben und uns dies auch mittels Prügel mit einem Rohrstock, den die meisten Lehrer besitzen, sowie Nachsitzen und Strafarbeiten eingebläut wird. Ich erinnere mich allerdings an Fräulein Schwecke, die uns im Schönschreiben und Zeichnen unterrichtet und immer freundlich zu uns ist und bei der wir gern lernen. Ich begegne ihr wieder, als ich 1947 als Externer an der Realschule in der Margarethenstraße meine Abschlussprüfung nachhole. Sie prüft mich in Biologie und Englisch.

Es gibt Schulkinder, die nicht unter der Strenge der meisten Lehrer und Lehrerinnen zu leiden haben, weil sie immer gehorsam sind, brav ihren Diener machen, nicht im Unterricht mit ihrem Schulbanknachbarn schwatzen, nie aus der Reihe tanzen, sondern stets tun, was von ihnen verlangt wird. Den Lehrkräften muß unbedingt mit dem allergrößten Respekt begegnet werden; manche sind besonders gefürchtet. Dieses autoritäre System*) hat sich noch aus der Kaiserzeit in die „Republik von Weimar“ retten können.**) Die Ausbildung des Lehrpersonals für Grund- und Volksschulen hat für die meisten Lehrkräfte noch in der Kaiserzeit stattgefunden. Viele Lehrer sind im Kriege gewesen, was ihren pädagogischen Fähigkeiten wohl nicht gerade förderlich ist. Junge Lehrer und Lehrerinnen für Grund- und Volksschulen sind wie in der Kaiserzeit in staatlichen Lehrerseminaren ausgebildet. Dies ist kein Hochschulstudium und wohl kaum von fortschrittlichen pädagogischen Lehrmethoden beeinflußt, die es nach dem Ersten Weltkrieg schon gab.

*) Es gibt schon „Reformschulen“, betrieben nach damals modernen pädagogischen Grundsätzen mit weniger oder keiner autoritärer Erziehung. Sie sind meistens als staatlich anerkannte Privatschulen oder staatliche Einrichtungen in der Reichshauptstadt Berlin und in anderen großen Städten angesiedelt. In Oldenburg gibt es nur die Comeniusschule, eine staatlich anerkannte Oberrealschule für Mädchen und Jungen, die aber keine Oberstufe aufweisen kann, und das katholische Lyzeum für Mädchen.

**) In Weimar tagte 1919 die Verfassung gebende Nationalversammlung der ersten deutschen Republik, die von monarchistisch und nationalistisch eingestellten Kreisen abfällig die „Republik von Weimar“ genannt wurde.

Wir sind zwischen dreißig und vierzig Schüler in der Klasse. Unser Klassen- und in den ersten beiden Schuljahren einziger Lehrer während der vierjährigen Grundschulzeit, Herr Purnhagen, kann streng sein, aber auch jovial. Er hat seine Lieblinge, doch auch solche, die hin und wieder von ihm über die vorderste Schülerbank gezogen und mit seinem Rohrstock einiges hinten drauf kriegen. Die häufigsten Strafen für irgendwelche, oft geringfügige, Verfehlungen sind „Eckenstehen“ – der Schüler muß sich in eine der hinteren Ecken des Klassenzimmers mit dem Gesicht zur Wand stellen – und Nachsitzen, entweder mittags nach Ende des Unterrichts oder am Nachmittag, was besonders unangenehm ist, da wir das ja zu Hause mitteilen und erklären müssen. Während des Nachsitzens hat der Schüler irgendeine meist stupide schriftliche Arbeit zu erledigen, z.B. -zig mal schreiben „Ich darf im Unterricht nicht mit meinem Nachbarn schwatzen“. Solche phantasielosen Aufgaben werden auffälligen Schülern („unbotmäßigen“, eine unter den damaligen Lehramts-Pädagogen beliebter Ausdruck) häufig auch als „Strafarbeiten“, also als zusätzliche Hausaufgabe, aufgebürdet.

In der Schule an der Brüderstraße sind einige Volksschulklassen (5. bis 8. Schuljahr) für Mädchen und die dritten und vierten Grundschulklassen für Jungen untergebracht. Da in den Pausen Mädchen und Jungen auf dem Pausenhof nicht getrennt sind, kommt es dann auch schon mal zu kindlichen Liebeleien. Ich bin hin und wieder in eines der älteren Mädchen verliebt. Sie veranstalten häufig irgendwelche Singspiele und wir Jungen stehen dabei und sehen zu. Einmal kommt eines der größeren Mädchen auf mich zu, nimmt mich an die Hand und ich soll als sein Partner mitspielen. Ich bin schrecklich verlegen, aber auch stolz und hinterher sehr verliebt in das Mädchen. Es hat mich aber anscheinend wieder vergessen. Ich bin ihm wohl noch zu klein für ein, wenn auch kindliches, Tecum mecum („Ich mit dir, du mit mir“, Techtelmechtel). Ich habe es als gut aussehend, blond, sehr selbstbewusst und unter seinen Klassenkameradinnen dominant auftretend in Erinnerung.

In Oldenburg gibt es den Medardusmarkt, auf dem Pferde, hauptsächlich wohl Hengste, „gekört“ und gehandelt werden. Die Körung, das ist die Begutachtung von Pferden durch Fachleute, Züchter und potentielle Käufer, ist für mich und meine Freunde nicht weiter interessant. Anziehend sind an einem solchen Tag für uns die ‚Zigeuner‘*), die mit ihren von Pferden gezogenen Wohnwagen, in denen ganze Familien leben, auf der rechten Seite des Pferdemarktes, der in der Mitte von einer Straße durchzogen ist, ihr Quatier genommen haben. Hier gibt es für uns immer viel zu sehen: Jungen, die ihrem Publikum akrobatische Kunststücke vorführen, auch Zauberkunststücke und Taschenspielertricks, kleine und große Mädchen in bunten Blusen und langen bunten Röcken, die barfüßig nach der Musik eines älteren Geigers tanzen. Jungen und Mädchen betteln nach ihren Darbietungen bei den erwachsenen Zuschauern, wobei sie sehr hartnäckig werden können, wenn die erwachsenen Zuschauer geizig sind und ihnen nichts geben wollen. Das Familienleben der ‚Zigeuner‘ spielt sich auf dem Platz vor ihren Wohnwagen ziemlich ungeniert ab: Mütter, die ihre Säuglinge stillen, ohne sich dabei zu bedecken, eine sehr alte Frau, die einem halbnacktem Kleinkind, wohl ihrem Enkel, ihre welke Brust gibt, um es am Schreien zu hindern. Die Männer sind auf dem gegenüber liegenden Platz bei der Hengstkörung, um sich irgendwie am Pferdehandel zu beteiligen. Wenige Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gibt es diese Ansammlung von ‚Zigeunern‘ nicht mehr.

*) Die Bezeichnungen „Sinti“ – von ihrem Herkunftsland Sindh im Nordwesten des früheren Indien, heute Pakistan – und „Roma“, womit die aus dem Südosten Europas kommenden ‚Zigeuner‘ genannt werden, waren zu der Zeit nicht üblich, wohl überhaupt nicht bekannt. Der Name ‚Zigeuner‘ stammt vermutlich aus Persien und bedeutet sovel wie „Musiker“ oder „Tänzer“. (Quelle: „Die Zeit“ – Das Lexikon).

Am 24. Februar 1931 stirbt der letzte Großherzog von Oldenburg, Friedrich August II. Zur Beerdigung seines Leichnams wenige Tage später erhalten alle Schüler schulfrei, um an der feierlichen Beisetzung auf dem Gertrudenfriedhof zwischen der Nadorster- und der Alexanderstraße teilzunehmen.*) Ich bin mit einigen meiner Klassenkameraden schon früh vor dem Friedhof, wir dürfen diesen aber nicht betreten, da nur geladene Gäste hineingelassen werden. Der Sarg wird am Vormittag von der großherzoglichen Residenz in Rastede zum Friedhof überführt. Inzwischen hat sich die Straße vor dem Friedhof so sehr mit Zuschauern gefüllt, daß ich plötzlich, von meinen Kameraden abgedrängt, allein zwischen all den Erwachsenen stehe, die ja erheblich größer sind als ich, der gerade über eine Tischkante gucken kann. Ich bekomme Angstzustände und versuche, mich unter all den vielen Menschen hinauszudrängen, was mir schließlich dadurch gelingt, daß ich über die Alexanderstraße dicht an der Häuserfront entlang endlich den Pferdemarkt erreiche, von wo ich schnell nach Hause eile. Dieses Erlebnis hat in mir eine Abneigung gegen Menschengedränge hinterlassen. Das ist in den folgenden Jahren, zu Anfang des „Dritten Reichs“, häufig ein Problem, da die Teilnahme an Massenveranstaltungen auch Jugendlichen zur Pflicht gemacht wird.

*) Dies war eigentlich nicht im Sinne republikanischer und demokratischer Einstellung, die man von der Oldenburger Landesregierung und Schulverwaltung hätte erwarten müssen. Der letzte Großherzog, farblos, ohne irgendwelche besonderen Fähigkeiten und Verdienste für sein Land, hatte seine Abdankung auf ziemlich schmähliche Art vollzogen, indem er vor einer dreiköpfigen Matrosenabordnung aus Wilhelmshaven, die noch nicht einmal den Auftrag des Soldatenrates hatte, kapitulierte. Dies, obwohl er einige Tage vorher die Mitglieder des Landtages zu dessen Eröffnung in den Thronsaal seiner Residenz „befahl“. (s.a. Lothar Machtan, „Die Abdankung – Wie Deutschlands gekrönte Häupter aus der Geschichte fielen“, hierzu „Oldenburg“; Propyläen, 2008 oder mit gleichem Text Lothar Machtan, „Macht doch euern Dreck alleene!“ – Wie Deutschlands Monarchen aus der Geschichte fielen; Weltbild, 2012).

Im Sommer 1931, kurz vor den großen Ferien, versammeln sich alle Schüler der stadtoldenburger Schulen auf der großen Dobbenwiese vor dem Staatsministerium, um gemeinsam den Flug des Luftschiffes LZ127 „Graf Zeppelin“ über Oldenburg zu beobachten. Das Luftschiff befindet sich auf einem Flug in die USA. 1934, vor einer „Volksabstimmung“, fliegt „Graf Zeppelin“ noch einmal auf einem Deutschlandflug zusammen mit dem neu in Dienst gestellten LZ129 „Hindenburg“. LZ129 ist mit Hakenkreuzfahnen geschmückt und strahlt Marschmusik aus einem großen nach unten gerichteten Lautsprecher aus, eine raffinierte Propagandaveranstaltung der NS-Regierung kurz vor einer „Volksabstimmung“, womit die Nazis auch das Verdienst für den schon vor ihrer „Machtübernahme“ geplanten und begonnenen Bau des neuen Luftschiffes für sich in Anspruch nehmen. LZ129 wird 1937 Opfer einer Brandkatastrophe in Lakehurst/USA.



Dieses Luftschiff flog im Sommer 1931 auch über Oldenburg


Anfang 1932 bestehe ich die Aufnahmeprüfung am Reformrealgymnasium und komme dort im April in die Sexta. Unser Klassenlehrer ist Herr Schütte, eine Art Yuppie, unverheiratet und, weil mit den Inhabern eines damals angesehenen Textilhauses in Bremen verwandt, finanziell ziemlich unabhängig und wohl Pädagoge aus Passion. Außerdem soll er Mitglied der Demokratischen Partei sein. Er ist beliebt, und wenn er sich mal über uns ärgert, nehmen wir uns das sehr zu Herzen. Wegen einer ziemlich bösen Verfehlung ignoriert er mich mindestens eine Woche lang, sodaß ich in dieser Zeit sehr unglücklich bin und alles versuche, die Sache wieder gut zu machen. Die Schüler der höheren Klassen nennen ihn „Mignon“ (Liebling). Nicht lange nach der Machtübernahme der Nazis 1933 wird er entlassen, d.h. er wird nach der Auflösung unseres Reformrealgymnasiums zu Ostern 1934 nicht an eine andere Schule versetzt wie die meisten der anderen Lehrer. Schütte wird später Lehrer an einer NaPoLa (Nationalpolitische Lehranstalt, eine Nazi-Eliteschule, die unter der Schirmherrschaft des „Reichsführers SS“ Heinrich Himmler steht.)

Der SS war – anders als den anderen Nazi-Organisationen – die politische Vergangenheit ihrer akademisch gebildeten Diener egal, solange sie kompetent und für die Organisation nützlich und ihr gegenüber loyal waren.

Der Leiter des Reformrealgymnasiums, Studiendirektor Bortfeld, ein sowohl bei den Schülern beliebter wie auch bei den Eltern hoch geachteter und für Jugendbelange verständnisvoller Pädagoge, wird nach Auflösung der Schule vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Am Ende des letzten Schuljahres 1934 ehren ihn alle Schüler und das gesamte Lehrerkollegium mit einem Fackelzug. Er bedankt sich in einer bewegten Rede für dieses „Heimleuchten“, wie er es nennt. Das Reformrealgymnasium scheint der zuständigen, nach 1933 mit Anhängern der NSDAP besetzten Schulbehörde, eine Brutstätte der so genannten „Reaktion“ zu sein. Darunter fallen alle nicht extrem nationalistisch gesinnte Parteien, Verbände und Vereine mit fortschrittlichen oder modernen Ideen in Kunst, Kultur, Religion oder Weltanschauung, soweit sie nicht der nationalsozialistischen entsprechen. Deshalb soll diese Schule aufgelöst werden. Zwar ist der „Chef“, Studiendirektor Bortfeld, förderndes Mitglied des „Stahlhelm“, der rechtskonservativen, nationalen und militanten Organisation – als liberaler Schulleiter ist er jedoch kein typischer Vertreter dieser Organisation.

Ich habe Sexta und Quinta*) mit befriedigenden Noten absolviert und komme nun auf die Oberrealschule (etwas später in „Hindenburgschule“ umbenannt, jetzt „Herbartgymnasium“) in die Quarta, Ernst August (EA) auf derselben Schule in die Untertertia.

Während dieser Zeit bin ich im Sommer mit ein paar Freunden einige Male zum Baden in der „Tonkuhle“, die in der Nähe des Weser-Ems-Kanals liegt und von der parallel laufenden Landstraße nicht eingesehen werden kann. Die Tonkuhle entstand als Aushub während des Kanalbaus und der Straße in den 1920er Jahren und blieb lange in einem nicht weiter bearbeiteten Zustand. Sie ist bis zur Hälfte voll Regenwasser, hat etwa die Größe eines Fußballplatzes und man kann wegen der Stufen am Ufer dort sitzen oder langsam ins lehmiggraue Wasser hinein steigen, das an der tiefsten Stelle kaum über meinen Kopf reicht. Ein Schild an der Kuhle besagt: „Baden auf eigene Gefahr“. Unsere Fahrräder haben wir so abgestellt, daß sie von der Straße nicht gesehen werden können. Wir baden ohne Badehose und bewegen uns auch so an den stufenartigen Ufern der Tonkuhle, treiben sexuelle Spiele, indem wir wetteifern, wer am schnellsten nach einer Selbsbefriedigung diese wiederholen kann, wer am meisten oder am weitesten abspritzt, auch wer am weitesten pinkeln kann. Und wir begutachten gegenseitig unser erigiertes Glied und staunen auch wohl: „Ooooh, deiner ist aber hart!“. Es ist niemand da, der Anstoß nehmen kann an unseren Spielen, und so fühlen wir uns sicher und haben Spaß an unseren verbotenen Aktionen.

Bei der Lektüre „Katz und Maus“ von Günther Grass erinnere ich mich an unsere pubertären Spiele in der Tonkuhle. Bei uns war allerdings kein Mädchen dabei, wie bei Grass beschrieben, das die Jungen während ihrer Handfertigkeiten noch befeuerte. Das hätten wir auch nicht gewollt und auch nicht gewagt.

Da von unseren kleinen Ferkeleien natürlich kein Erwachsener erfahren darf, haben wir uns gegenseitig strengstes Stillschweigen gelobt, auch gegenüber anderen Jungen. Wir hätten strengste Strafen zu gewärtigen, wenn unsere Spiele in der Öffentlichkeit bekannt werden sollten.

Der Mangel an Offenheit gerade bei sexuellen Belangen während der Zeit unserer Jugend und auch vorher und noch Jahrzehnte danach ist heute, da ich dies niederschreibe, nicht mehr zu verstehen. Sie ist wohl mit verantwortlich für die Verklemmtheit älterer Menschen, den in ihrer Kindheit und Jugend nur Tabus in ihrer sexuellen Entwicklung anerzogen worden waren.

Nach dem Schulwechsel vom Reformrealgymnasium zur Oberrealschule (kurze Zeit später Hindenburgschule benannt) beginnt mein schulischer Abstieg: Quarta muß ich im folgenden Jahr wiederholen, nach Untertertia die Schule verlassen**).

*) Die Klassenfolge an den höheren Schulen war Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia, Obertertia, Untersekunda (erster Schulabschluss möglich, er entsprach der Mittleren Reife, dem heutigen Realschulabschluss), Obersekunda, Unterprima, Oberprima (mit Prüfung zum Abitur).

**) An dieser Schule gab es Lehrer, denen man pädagogische Fähigkeiten – nach heutigen Anforderungen – absprechen würde. Der Studienrat für Biologie z. B., ein strammer Nazi, erschien nie ohne Parteiabzeichen am Revers seines immer gleichen, gauen Anzugs mit Bundhose, wenn er nicht einige Male, bei besonderen nationalen oder nationalistischen Anlässen, stolz Parteiuniform trug. Sein Unterrichtsthema war vor allem die germanische Urzeit mit ihren tapferen Kriegern, ihren hehren Frauen, ihren Steinwerkzeugen wie Faustkeilen und Speerspitzen, und er stellte uns diese Urmenschen in seinem schnarrenden Ton als unsere Vorbilder vor. Ein anderer – bekannt unter dem Spitznamen „Nauke“, gab vor allem Unterricht in Französisch. Er war ein dunkler Typ, was durch seinen schwarzen, allerdings schon etwas fleckig gewordenen, Anzug sich noch besonders hervorhob. Wenn er schlechter Laune war, hagelte es in seinem Unterricht Fünfen. Ein „Galgen“ bedeutete in seinem Notizbuch fünfundzwanzig Fünfen, die er seinem Opfer dann auch noch voller Häme vorzeigte. War er glänzender Laune, erzählte er gern aus seinen Kriegserlebnissen. Er muß sie wirklich erlebt haben, vor allem an der Somme in Frankreich, denn er konnte plastisch berichten über das Grausige des Stellungskrieges mit den vielen Toten, den vollgefressenen Ratten, die sich an den Leichen der Kriegstoten mästeten, während er und seine Kameraden noch angesichts dieser Erlebnisse ihre dürftigen Mahlzeiten einnehmen mußten. Der Studienrat für Geografie – das Fach hieß damals allerdings „Erdkunde“ – war im Ersten Weltkrieg ein Afrikakrieger bei General Lettow-Vorbeck und ungeheuer stolz darauf. Er war ein echter Rassist. „Neger“ taugten nur zum Arbeiten bei deutschen Farmern oder als „Askaris“ unter deutschem Kommando. Später war er anscheinend noch beim deutschen Expeditionskorps, das die „Weißen“ gegen die „Bolschewikis“ unterstützte. Von den Russen sagte er: „Kratze den Russen und du spürst den Tartaren.“

Für EA kommt es noch schlimmer. Er wird – inzwischen zwei Klassen über mir – von der Schule verwiesen, weil er zusammen mit Freunden, Klassenkameraden und einem Soldaten der Wehrmacht in einen Skandal mit „Weingeschäften“ verwickelt ist*), worin er aber nur eine unbedeutende Rolle spielt; doch bringt sie ihm auf Betreiben des Schulleiters der Hindenburgschule außer dem Rauswurf noch eine böse Bemerkung in seinem Abgangszeugnis ein, um deren Streichung sich unser Vater 1942 – als EA zum Leutnant befördert worden ist – bei diesem Schulleiter bemüht. Der lehnt aber die Streichung der Bemerkung in einer für unseren Vater sehr demütigenden Weise ab. Vater versucht es später bei dessen einstweiligem Vertreter, dem früheren Schulleiter der Oberrealschule bis 1934, Herrn Müller, nachdem der andere zur Wehrmacht einberufen worden ist. Herr Müller streicht „selbstverständlich“ die Bemerkung aus EAs Abgangszeugnis. Er war bis 1934 Leiter der Oberrealschule gewesen, aber ebenso wie der ehemalige Leiter des Reformrealgymnasiums vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden, weil er das „falsche“ Parteibuch besaß und deshalb dem neuen Platz machen musste, der sich noch rechtzeitig – 1932, kurz vor der „Machtübernahme“ der Nazis – das „richtige“ Parteibuch verschafft hatte.

*) EA und ein paar seiner Schulkameraden sind mit dem ältesten Sohn eines Weinkaufmanns befreundet. Dieser entdeckt einen auffälligen Fehlbestand in seinem Weinlager, verdächtigt einige seiner Angestellten, die aber jede Unterschleife abstreiten. Darum macht er Anzeige bei der Kriminalpolizei, deren Verdacht sich bald auf den ältesten Sohn richtet. Der gibt den Diebstahl zu und nennt dann auch die Mitbeteiligten, zu denen ein Angehöriger der Wehrmacht gehört, und auch EA, obwohl der nur unerheblich beteiligt ist. Als der Weinhändler erfährt, daß sein Sohn der Schuldige ist, versucht er, seine Anzeige zurückzuziehen, aber ohne Erfolg. Der Staatsanwalt hat bereits die Ermittlung übernommen und es folgt ein Verfahren vor dem Jugendgericht, zu dem EA allerdings wegen geringfügiger Beteiligung nicht vorgeladen wird. (Für den Wehrmachtsangehörigen kommt es jedoch schlimmer. Er wird von einem Wehrmachtgericht zu Gefängnis verurteilt.) Mit dem jüngsten Sohn des Weinhändlers, der in meinem Alter ist, freunde ich mich danach an, da ich in seine Klasse an der Comeniusschule komme. Er hat es wie ich geschafft, sich dem Dienst in der Hitlerjugend zu entziehen und ist ziemlich antiautoritär und leicht aufmüpfig eingestellt, was ich an ihm sehr bewundere. Zu Beginn des Krieges werden er und ich zur Teilnahme an vormilitärischen Übungen verpflichtet, die unter Leitung der Hitlerjugend steht. Irgendwie schaffen wir es beide, auch diesem Dienst fern zu bleiben.

Während einer der nächsten Unterrichtsstunden im Zeichensaal nach EAs Schulverweis von der Hindenburgschule ruft mich der Zeichenlehrer Naber zu sich in seinen Nebenraum und erzählt mir, daß er sich in der Konferenz, in der es auch um die vom damaligen Schulleiter geforderte Bestrafung meines Bruders ging, dagegen gestellt hätte, da er EAs Belastung in der Angelegenheit für so gering hält, daß sie nicht seine Zukunft beeinträchtigen dürfe. Aber er konnte sich gegen den Schulleiter nicht durchsetzen. Ich solle das meinen Eltern erzählen, damit sie dies wenigstens zur Kenntnis hätten. Ich berichte dies den Eltern beim Mittagessen und sie zeigen einen hohen Respekt vor diesem Lehrer, der in der Hierarchie des Lehrerkollegiums an unterster Stelle steht, da er nicht Studienrat, sondern nur den Grad eines Fachlehrers besitzt.

Ein anderer Lehrer an der Hindenburgschule, den ich in meinem zweiten Quartaschuljahr als Klassenlehrer habe, flößt mir großen Respekt ein nach einem Beispiel hoher Zivilcourage von seiner Seite. Am Anfang der Peterstraße, nicht weit von unserer Schule entfernt, ist eines Mittags nach Schulschluß ein Auflauf von Schülern vor der Synagoge mit viel Gejohle und Pöbelei der Jungen, womit sie ein Hochzeitspaar, das vorher in dem Gotteshaus getraut worden ist und jetzt in einer Hochzeitskutsche den Ort seiner Trauung verlassen will, aufs häßlichste belästigen. Der Synagogendiener, Herr Hesse, hat große Mühe, der Kutsche mit dem Paar den Weg frei zu machen. Prof. Grathand, der zusammen mit einem Kollegen vorbei kommt, eilt voller Zorn auf die Jugendlichen und versucht sie mit lautem Schelten und auch mit Ohrfeigen zu vertreiben und unterstützt so den Synagogendiener in dessen Bemühen. Als ich den Vorfall zu Hause erzähle, sagt Schwester Ilse: „Das war aber sehr mutig von eurem Lehrer“. Und Mutter meint zu mir: „Du hast dich doch hoffentlich nicht an dem Krawall beteiligt?“ Aber das hatte ich wirklich nicht. Mich wunderte, daß der andere Studienrat seinem Kollegen, Prof. Grathand, nicht zu Hilfe kam. Obwohl der Professor ein strenger Lehrer war, habe ich von da an in ihm einen Mann gesehen, der viel Mut gegen einen Zeitgeist aufbrachte, dessen Nichtswürdigkeit wir Jungen damals allerdings nicht richtig einzuschätzen lernen durften.

Nach seinem Schulverweis ist EA plötzlich einen ganzen Tag verschwunden. Ich gehe abends auf den „Bummel“, den abendlichen einstündigen Rundgang der älteren Schüler auf dem oberen, der Heiligengeiststraße näherem Teil der Langenstraße, um zu sehen, ob EA dort ist. Hier kommt seine Freundin Helga zu mir und fragt mich nach ihm. Sie weiß schon Bescheid über EAs Schulverweis, ist sehr besorgt und bittet mich, ihn gemeinsam mit ihr zu suchen. Wir laufen alle möglichen Orte ab, wo EA hätte sein können und kommen auch in die Schleusenstraße, gehen auf die Schlossgartenbrücke über die alte Hunte, bleiben in der Mitte der Brücke stehen und sehen nach unten auf die Alte Hunte. Es ist Winter, eine Eisdecke liegt auf dem Wasser und unter der Brücke ist ein Loch in der Eisdecke. Ich sage: „Hoffentlich hat er sich da nicht runtergestürzt.“ Helga fängt an zu schluchzen und ruft: „Oh Gott, sag doch so was nicht!“ Wir geben schließlich die Suche auf und jeder geht nach Hause in der Hoffnung, daß EA sich schließlich doch noch eingefunden hat. Ich bin froh, als ich sehe, daß er wieder zuhause ist und ich erzähle ihm von meiner und Helgs Suche nach ihm. Er geht noch mal weg, um Helga zu beruhigen. Sie hat ihn wirklich geliebt, doch verlieren sich beide durch EAs folgende Abwesenheit von Oldenburg aus den Augen.

EA muß noch vor Ende des Schuljahres 1937 die Schule verlassen. Er meldet sich freiwillig zum Reichsarbeitsdienst, wo er schon nach einem halben Jahr zum außerplanmäßigen Truppführer ernannt wird. Er überspringt damit die Mannschaftsdienstgrade Vormann und Obervormann und erhält Aussicht, die gehobene Führerlaufbahn anzutreten. Nach einem weiteren halben Jahr läßt er sich vom RAD beurlauben, um seinen zweijährigen Wehrdienst zu leisten.

Der Reichsarbeitsdienst (RAD) war 1935 durch Reichsgesetz ins Leben gerufen worden. Die Idee stammte jedoch aus der Zeit der großen Arbeitslosigkeit ab 1929. Anfang der dreißiger Jahre war das Gesetz über einen freiwilligen Arbeitsdienst unter dem damaligen Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrumspartei) verkündet worden. Junge arbeitslose Männer konnten freiwillig – in Arbeitslagern untergebracht und versorgt, nur mit einem Taschengeld entlohnt – gemeinnützige oder auch landwirtschaftliche Arbeit verrichten. Von den Nazis und den Kommunisten wurde dies Gesetz abgelehnt. Die militanten Verbände des „Reichsbanner Schwarz Rot Gold“ und des „Stahlhelm“ errichteten Arbeitslager auf dem Lande und in den Mooren. Unser Vater war Mitglied des „Stahlhelm“ mit einem damals gehobenen Dienstgrad. Als ehemaliger Zahlmeister der alten kaiserlichen Armee wurde er zum Verwalter eines vom „Stahlhelm“ betriebenen Lagers des Freiwilligen Arbeitsdienstes ernannt. Er bekam hierfür zwar nur eine geringe Aufwandsentschädigung, aber er tat die Arbeit gern, entsprach sie doch ungefähr seinem beim Militär erlernten Beruf. Wenn er das Arbeitslager aufsuchen mußte, ließ er sich immer von seinem Schwager Dietrich Linnemann fahren, der wie unser Vater, auch – allerdings einfaches – Mitglied des „Stahlhelm“ war. Das Lager war in der Gegend von Wüsting. Ich durfte einmal mitfahren und erinnere mich an viele junge Männer, die mit Spaten und Schaufeln im Gelände arbeiteten. Das Taschengeld, das die Freiwilligen für ihre Arbeit erhielten, war höher als das, was die Arbeitsmänner später im Reichsarbeitsdienst (RAD) bekamen. „Fünfundzwanzig Pfennig ist der Reinverdienst!“ hieß es in einem Spottvers nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Reichsarbeitsdienst im Juni 1935.

Ein freiwilliger Arbeitsdienst mit ähnlicher Entlohnung wie beim freiwilligen Arbeitsdienst in Deutschland entstand in den 30er Jahren während der Weltwirtschaftskrise auch in den USA unter dem Präsidenten F.D. Roosevelt. Er erhielt dazu vom Parlament in Washington finanzielle Mittel, um unter anderen Vorhaben z. B. auch zur Verwirklichung der „Tennessee Valley Authority“, einer Behörde mit dem Ziel, das Notstandsgebiet im Tal des Tennessee Flusses zu sanieren. Hierzu wurden ebenfalls freiwillige Erwerbslose angestellt. Mit den so gewonnenen Anlagen zur Errichtung elektrischer Kraftwerke entstanden in Tennessee neue Industriebetriebe mit zahlreichen Arbeitsplätzen.

Während des zweiten und dritten Jahres an der Hindenburgschule bin ich Mitglied im Chor der evangelischen Garnisonkirche an der Peterstraße. Der Chor hat nur männliche Mitglieder, Leiter ist unser ehemaliger Musiklehrer im 1934 aufgelösten Reform-Realgymnasium, Theodor Storckebaum. Er erkennt mich gleich nach meinem Antritt wieder und steckt mich zu den Sopranjungen. Die Altisten sind etwas ältere Schüler, Tenor und Bass besteht aus gestandenen Herren im gesetzten Alter. Wir Jungen erhalten 10 Reichsmark alle drei Monate für unsere Bereitschaft, jeden Sonntagvormittag beim Gottesdienst vor und nach der Predigt dem kirchlichen Jahresverlauf entsprechende Motetten zu singen und an den hohen kirchlichen Festtagen Weihnachten, Karfreitag und Ostern zusammen mit dem größeren Chor der Lambertikirche an der Aufführung des Weihnachtsoratoriums von J.S. Bach, seiner Matthäuspassion und der Osterkantate mitzuwirken. Jeden Freitagnachmittag wird für die Sonntagsmotetten geübt, für die Feiertage werden besondere Übungszeiten angesetzt. Von dem Verdienst kaufe ich mir mein erstes Fahrrad und später noch weiteren Schnickschnack dazu.

Die Eltern bringen mich in der privaten Comeniusschule unter, wo ich noch einmal die Untertertia mit Erfolg wiederhole. Nach dem zu der Zeit geltenden Schulrecht müssen die Leitungen privater Lehranstalten Abgangszeugnisse staatlicher Schulen berücksichtigen. Doch auch diese Schule wird aufgelöst. Das NS-Regime duldet keine privaten Schulen außer den katholischen, deren Weiterbestehen das Regime nach dem 1933 mit dem Vatikan abgeschlossenen Konkordat bestehen lassen muß. Schade, ich fühle mich auf der Comeniusschule wohl. Es herrscht dort geringerer Zwang als an den öffentlichen Lehranstalten, weswegen sie nach 1933 von Gegnern der privaten Lehranstalten abfällig „Comeniusuniversität“ genannt wird. Der Schulalltag ist nicht von Ängsten begleitet, wie sie vor allem auf der „Hindenburgschule“ unter ihrem nationalsozialistischen Schulleiter für mich und andere, auch Bruder EA, alltäglich ist und wo keine Gnade bei Versagen zugelassen wird. Persönliche Interessen werden an der Comeniusschule zumindest beachtet, soweit sie ernsthafter Natur sind. Die Leitung der Comeniusschule hat Frau Clara Maria Arnold*), nicht forsch genug für die Aufgabe, den Forderungen der Nazis gerecht zu werden, aber bestrebt, den Schülern gute Bildungsmöglichkeiten zu bieten. Die Schule hat zwar den Status einer höheren Schule, führt jedoch keine Oberstufe und bietet damit ihren Schülern auch nicht den Abschluß mit Abitur. Dies müssen sie nach Übergang auf eine staatliche Oberschule dort absolvieren, was nach 1934 mit der neuen Schulpolitik der Nazis kaum noch möglich ist.

*) Anlässlich einer Ermahnung, die mir Frau Arnold wegen eines Vergehens erteilt, sagt sie mir, sie habe es jetzt sehr schwer wegen der neuen Schulpolitik der Regierung, und daß die Schulbehörde dem Leiter der Hindenburgschule eine Kontrollbefugnis über ihre Privatschule zugestanden habe. Während einer Klassenarbeit in Latein ließ ich der vor mir sitzenden Isi von meiner Arbeit abschreiben und sagte ihr auch leise vor, wenn sie mich ebenso leise nach einer Vokabel fragte. Meine Arbeit ist nicht ganz fehlerfrei; aber Isi ist nach Meinung der Lateinlehrerin in ihrem Fach eine völlige Versagerin. Nun ist ihre Arbeit viel zu gut geraten, jedoch mit dem selben Fehler wie ich ihn habe, es ist ja nur einer; in Latein bin ich recht gut, und Isi sitzt direkt in meiner Nachbarschaft. Da ist die Schlussfolgerung einfach. Wir erhalten beide eine Bemerkung unter unsere für ungültig beurteilte Klassenarbeit, die wir den Eltern vorzeigen und unterschreiben lassen sollen. Mein Bruder KW, der gern Unterschriften nachmacht, erbietet sich, Vaters Unterschrift zu fälschen. Die Sache fliegt auf, ich muß zur Direktorin. Sie schilt erst heftig mit mir, wird dann aber milder, erklärt mir, woran sie die Fälschung erkannte und erzählt mir dann von ihren Problemen mit der neuen Schulpolitik. Sie entläßt mich mit den Worten „Sei ein lieber Junge“. Ich habe Glück, es folgt nichts weiter danach.

Wenn ich das Schubertlied „Frühlingsglaube“ nach dem Text von Ludwig Uhland höre, muss ich an meine Zeit an dieser Schule denken. Im Schuljahr 1937/38, dem letzten Jahr ihres Bestehens, findet dort noch einmal ein Sommerfest statt. Alle Klassen haben irgendetwas darzubieten. Ich soll in einem Märchenspiel eine Rolle übernehmen, was mich sehr verdrießt, weil sie mir zu kindlich vorkommt. Aber unsere Klassenlehrerin läßt sich nicht erweichen, mir eine andere Rolle zu geben. Das Schubertlied wird auf dem Fest von den beiden Schwestern Margret und Elisabeth (Isi) gesungen, von unserem Musik- und Turnlehrer Stave am Klavier begleitet.

Die linden Lüfte sind erwacht,

Sie säuseln und weben Tag und Nacht,

Sie schaffen an allen Enden.

O frischer Duft, o neuer Klang!

Nun armes Herze sei nicht bang!

Nun muß sich alles, alles wenden.

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,

Man weiß nicht, was noch werden mag.

Das Blühen will nicht enden.

Es blüht das fernste, tiefste Tal:

Nun, armes Herz, vergiß die Qual!

Nun muß sich alles, alles wenden.

Stete Fahrt, unstete Fahrt

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