Читать книгу Stete Fahrt, unstete Fahrt - Hans H. Hanemann - Страница 16
Pubertät, Sexualität, Mädchen
ОглавлениеAls Jungen haben wir schon manchmal gegenseitig unsere intimen Körperteile besichtigt und auch zusammen, wenn wir unbeobachtet sind, frühsexuelle „Handfertigkeiten“ geübt und sogar damit gewetteifert. Aber wir wissen eigentlich nichts über Sexualität, sogar das Wort ist uns unbekannt, über den Vorgang an sich, über die Ursache der Erektion des noch fast kindlichen Gliedes – als Kinder nannten wir das „Steifstand“, später als Jugendliche „einen Hoch kriegen“ –, über das plötzliche Lustgefühl und schließlich, als wir etwas älter waren, warum plötzlich mit dem Lustgefühl eine Flüssigkeit aus dem Glied herausspritzt. Im Verlauf der Pubertät führen manchmal beim Jungen innere Spannungen, auch unvorhergesehene Ereignisse ohne sexuellen Hintergrund zu Erektionen des Gliedes, die der Junge nur schwer verbergen und kontrollieren kann. So passiert es mir einmal mitten im Unterricht, als die Klassenlehrerin mich auffordert, eine englische Vokabel an die Wandtafel zu schreiben. Ich bin entsetzt und stehe zögernd auf, gehe ziemlich gebückt, um meinen Zustand zu verbergen, an die Wandtafel und erst dort erschlafft mein Glied. Es ist ein mir sehr peinliches Erlebnis, zumal in unserer Klasse nicht nur Jungen, sondern auch Mädchen sitzen. Vorn in der ersten Reihe vor meiner Bank sitzt sogar Isi, die ich gern mag, in die ich sogar etwas verliebt bin. Als ich auf meinen Platz zurückkehre, sieht sie mich an und grient etwas und ich weiß gleich, sie hat meine Peinlichkeit bemerkt. Aber sie hat ihre Beobachtung wohl bei sich behalten, denn ich höre davon nichts weiter. Einem befreundeten Klassenkameraden, dem ich von meinem peinlichen Erlebnis erzähle, meint: „Mach dir doch nix draus. Ich hab das auch schon oft gehabt.“
Als Kind bin ich schon ein paar mal in irgendein Mädchen verliebt und habe wohl auch leicht erotische Tag- und Nachtträume, ohne zu wissen, was das Besondere ist, das ich zusammen mit einem Mädchen anfangen kann. Eine nähere Beziehung zu ihnen ist in der Kindheit und auch noch zu Beginn der Jugendzeit verpönt, die Moral der damaligen Zeit läßt das einfach nicht zu. Es wird uns Jungen gegenüber von Erwachsenen nicht einmal darüber gesprochen. Man ist eigentlich erst als „Arbeitsmann“ im Reichsarbeitsdienst und als Soldat in der Wehrmacht berechtigt, ein näheres Verhältnis zu einem Mädchen zu knüpfen. Ich kann mich nicht entsinnen, daß in unserem Elternhaus geküßt wurde, weder zwischen den Eltern noch zwischen den Geschwistern oder zwischen Eltern und Geschwistern. Aber das scheint auch in den uns bekannten Familien nicht anders zu sein. Liebe und Erotik ist etwas so heimliches, daß sogar ein Austauschen von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit allgemein Aufsehen, wenn nicht gar Anstoß, erregt. Man bekennt sich eben nicht offen dazu, auch nicht innerhalb der Familie. Dies ist sicher dem sexualitätsfeindlichen Einfluß beider Kirchen auf die Familien zurück zu führen. Im „Dritten Reich“ wird dies allerdings eher noch schlimmer. Liebe führt nur zur Ablenkung von der erklärten Funktion einer Ehe, sie gibt es höchstens in kitschigen Filmen. Die Ehe gilt vor allem als eine Einrichtung zum Erwerb von rassereinen und körperlich gesunden Nachwuchs und dessen Erziehung im nationalsozialistischen Sinne. Die Familienpolitik im „Dritten Reich“ ist ausgesprochen liebesfremd.
Natürlich können die Naziführer die Liebe zwischen zwei Menschen unterschiedlichen Geschlechts nicht verhindern, aber sie verhindern ihre Thematisierung, wo sie Gelegenheit dazu bekommen.
Im Sommer 1938 lerne ich in der Militärbadeanstalt, zu der ich wegen Vaters Zugehörigkeit zur Wehrmacht Zugang haben, zwei Mädchen kennen, Ursel, fünfzehn und Inge sechzehn Jahre alt. Ursel, ein ausgesprochen hübsches Mädchen, dunkelhaarig mit zwei Zöpfen, ist in der Nähe von Berlin zuhause und in den Sommerferien bei der Familie von Inge zu Besuch. Wir sind bald ineinander verliebt und während der Ferien, meistens gemeinsam mit Inge, viel zusammen. Ursel benimmt sich mir gegenüber oft sehr erotisch, fast aufreizend, wehrt aber sofort ab, wenn ich ihren kleinen Busen oder ihre nackten Oberschenkel berühren und streicheln möchte. Als wir drei an einem Tag mit dem Fahrrad einen Ausflug machen und uns in der Nähe der Tonkuhle am Weser-Ems-Kanal im Gras lagern, wo es sehr einsam ist und wir nicht beobachtet werden können, tändele ich eine Weile mit Inge. Hinterher spricht Ursel nicht mit mir, sie ist mir offensichtlich böse. Erst etwas später macht sie mir Vorwürfe, weil ich mich zu sehr mit Inge beschäftigt hätte, woraus ich sehe, daß sie eifersüchtig ist. Ich entschuldige mich bei ihr und wir vertragen uns wieder. Einmal, als ich mit Ursel allein bin, erzählt sie mir, sie und Inge hätten sich in der Badeanstalt versteckt, um mich zu beobachten, wenn ich mir nach dem Schwimmen die Badehose ausziehe und mich abtrockne. Sie erzählt: „Dein Pimann war so klein, als du aus dem kalten Wasser raus warst, er sah richtig süß aus.“ „Aber deine Pussi darf ich nicht sehen, wenn du dich ausziehst. Die versteckst du immer ganz ängstlich vor mir, nicht mal einen kurzen Blick erlaubst du mir, auch nicht mal auf deinen Po. Inge stellt sich nicht so an, wenn die sich auszieht“, werfe ich ihr vor. Sie verteidigt sich, daß ihre Eltern sehr streng seien und sie eben so erzogen worden wäre. Sie dürfe nicht mal ihren Bruder nackt sehen und er sie auch nicht. Wenn rauskäme, daß sie sich hier anders benommen hat, würden ihre Eltern ihr nicht noch einmal die Ferien bei Inge erlauben. Ich muß ihre Rechtfertigung akzeptieren und bedränge sie nicht weiter, will aber wissen, ob sie und ihr Bruder sich wirklich an das Verbot ihrer Eltern halten. „Nee“, antwortet sie mir, „wir haben uns natürlich schon beguckt, aber nur heimlich, wenn unsere Mutter nicht im Haus war. Mein Bruder ist genau so neugierig wie du und schleicht sich an mein Zimmer ran, wenn ich mich ausziehe oder wenn ich beim Baden allein bin. Mach ich aber auch bei ihm“, sagt sie lachend. Wenn sie mir etwas Erotisches erzählt, tut sie es immer sehr eifrig mit leiser Stimme, damit nur ja kein Unberufener zuhören kann. Ursel und ich schreiben uns noch einige Jahre bis zu meiner Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. In ihren Briefen ist sie manchmal recht zweideutig, beschwört mich aber jedesmal, sie niemandem zu zeigen.
Inge – rötlich blond mit kurzen Haaren und sommersprossig – ist anders. Wir sind nach den Ferien, als Ursel nicht mehr dabei ist, häufig zusammen, vor allem zu Ausflügen mit dem Fahrrad. Inge läßt sich gern berühren, wenn wir irgendwo im Wald einen Liegeplatz zum Ausruhen und zum Tändeln gefunden haben. Einmal sieht sie mich sehr verlangend an, legt ihre Hände unter den Kopf, ihre Achselhöhlen sind mit kurzen rötlichblonden Haaren bedeckt. Auch ihre Arme sind etwas sommersprossig. Sie zieht ihr linkes Bein an, sodaß ihr Kleid zurück rutscht und meinen Blick auf ihre nackten Oberschenkel und ihre Unterwäsche frei gibt. Ich streichle ihre entblößten Stellen und versuche, ihre Unterhose herunter zu ziehen, um noch mehr von ihr zu sehen und zu berühren. Sie aber wehrt sich, ergreift mein Handgelenk und sagt: „Nein, Hans, bitte tu das nicht. Vielleicht kannst du dann nicht mehr aufhören und wir müssen es hinterher bereuen. Ich hab das noch nie mit einem Jungen gemacht und du könntest mir tüchtig Weh tun, wenn du mir was kaputt machst. Und bluten tut das dann auch.“ Sie hat plötzlich Tränen in den Augen und erwähnt noch etwas von ihrer Unschuld*). Ich beruhige sie, lasse von ihr ab und ziehe ihr Kleid wieder über ihre nackten Beine. Sie zu etwas zu zwingen, was sie nicht mag, kommt mir überhaupt nicht in den Sinn. Inge stützt sich etwas mit ihren Armen hoch, gibt mir einen Kuß und sagt: „Es ist doch so schön mit dir und ich hab dich wirklich lieb. Wir bleiben doch zusammen und du bist mir nicht böse, weil ich so vorsichtig bin?“ Ich gebe ihr Recht, bin aber auch ein wenig erschrocken darüber, daß sie mir so plötzlich ihre Zuneigung offenbart. Ich habe sie bisher eigentlich nicht sehr ernst genommen. Sie ist für mich eher Objekt meiner Lüsternheit als meiner Zuneigung, was ich mir ehrlich gestehen muß. Daß sie ein tieferes Gefühl für mich empfindet, habe ich nicht erkannt oder einfach ignoriert. Deshalb bekomme ich plötzlich ein schlechtes Gewissen und ich möchte sie nicht enttäuschen. Wir verabreden uns für den nächsten Tag, einen Sonntag, zu einer weiteren Tour mit dem Fahrrad. Es wird aber nichts daraus, der Sonntag ist verregnet. Ich bin etwas traurig deswegen. Das Spiel mit Inge am Nachmittag vorher hat mich in der Erinnerung daran doch belastet. Wenn sich Inge nicht zur rechten Zeit gewehrt und ich ihr am Ende ein Kind gemacht hätte? Allein daran zu denken ist wie ein Albtraum. Ich möchte Inge gern davon überzeugen, daß sie für mich nicht bloß ein Spielzeug für meine Lust sein soll. In den folgenden Wochen treffen wir uns noch mehrmals, machen aber nur kleine Ausflüge mit dem Fahrrad und erzählen uns über unsere Schulerlebnisse und Anderem. Sie merkt jedoch, daß ich zu oft von Ursel spreche und versucht nicht weiter, unserem freundschaftlichen Verhältnis mehr Tiefe zu geben. Einmal erzählt sie mir jedoch, daß Ursel sich wohl mir gegenüber schämte, sich auszuziehen, wenn ich dabei war. Sie trug immer noch die für junge Mädchen übliche Unterwäsche, vor allem die dicken Baumwollunterhosen mit den Bünden am Oberschenkel. Ich muß lachen. „Wolltest du mir deswegen deine moderne Unterwäsche zeigen?“ frage ich sie. „Du bist gemein, das wollte ich wirklich nicht“, protestiert Inge und wird dabei ganz rot im Gesicht. Ich beruhige sie: „Es tut mir leid, Inge, das war nicht nett von mir. Ich wollte dich nicht ärgern. Das rutschte mir nur so raus.“
Inge ist ein freundliches, lebenslustiges Mädchen. Sie ist immer leicht zum Lachen zu bringen und wohl auch mehr zu geben bereit, wenn sie auf einen Partner trifft, den sie gern mag. Ich hätte sicher der Partner sein können; sie hat es mir deutlich gezeigt. Aber ich war nicht bereit. Mit Ursel kann sie sich im Aussehen nicht vergleichen, was sie auch weiß. Aber es macht ihr wohl nicht viel aus. Drei Jahre nach der Episode mit ihr treffe ich sie zufällig in der Stadt während meines ersten Urlaubs als Soldat. Sie erzählt mir, daß sie sich verlobt hätte und macht ein glückliches Gesicht dabei. Ich freue mich für sie und hoffe, sie hat den Richtigen gefunden. Was mir nach unseren Gemeinsamkeiten auffällt, ist, daß weder Inge noch Ursel irgendetwas über Aktivitäten im BDM erzählen. Anscheinend haben sich beide den Zwängen dort ferngehalten, so wie auch ich den bei der HJ.
*) Die Jungfräulichkeit eines Mädchens oder einer ‚Frau mit dem Begriff der „Unschuld“ gleich zu setzen war zu der Zeit üblich und hatte sicher in den moralischen Geboten des Christentums ihre Begründung. Mit der Verletzung seines Jungfernhäutchens (des Hymen) war ein Mädchen also „schuldig“ geworden. (Jung-)Männer konnten diesem Verdikt nicht unterworfen werden. Sie durften vor ihrer Ehe soviel Geschlechtsverkehr mit anderen Frauen haben, wie sie wollten. Es war ihnen ja körperlich nicht anzusehen. HWG = Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr, ein amtlicher Ausdruck, galt oder gilt nur für Frauen.
Anfang September 1941 lerne ich als Soldat während meines ersten Urlaubs Gertrud, die Tochter des früheren „Stahlhelm“-Landesführers Karl Heinrich Müller, kennen, die gerade – am 28. August, Goethes Geburtstag, wie sie mir scheinbar stolz, doch nicht ohne Ironie erzählt – 14 Jahre alt geworden ist. Sie ist ein sportliches und auch anschmiegsames Mädchen. Sechs Jahre später werden wir ein Ehepaar und in weiteren sieben Monaten Eltern eines Jungen.