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Ich – der erste Nazi in der Familie
ОглавлениеEnde 1932/Anfang 1933: Ich bin elf Jahre alt und will unbedingt in einer der nationalen Jugendorganisationen Mitglied werden, entweder in der „Scharnhorstjugend“, der Jungenorganisation des „Stahlhelm“ oder im „Deutschen Jungvolk“, eine damals noch selbständige „Pimpfen“-Organisation der „Hitlerjugend“ für 10 bis 14-Jährige Jungen. In meinen und meiner Freunde jugendromantischen Vorstellungen halten wir die Teilnahme an den Aktivitäten in diesen Jungenorganisationen für so erstrebenswert, daß wir uns vor einander einfach schämen würden, nicht dabei zu sein.
Die Scharnhorst-Jugend war eine selbständige Jugendorganisation für etwa 10 bis 15-jährige Jungen in dem militaristisch-monarchistischem „Stahlhelm“. In ihren Verbänden machten die Jungen zum Beispiel Geländespiele mit Aufgaben, die ihnen von ihren älteren Kameradschaftsführern gestellt wurden, oder sie veranstalteten Heimnachmittage, in denen vorgelesen wurde, u.a. auch Kriegsliteratur, z. B. von Walter Flex, dem Kriegsromantiker des Ersten Weltkrieges. Sein Buch „Der Wanderer zwischen beiden Welten“ wurde zum Kultbuch nationalistischer und militaristischer Jugendlicher. Hieraus stammt auch das unfröhliche, später vertonte Gedicht
Wildgänse rauschen durch die Nacht
mit schrillem Schrei nach Norden.
Unstäte (!) Fahrt! Habt acht, habt acht!
Die Welt ist voller Morden.
Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt,
graureisige Geschwader!
Fahlhelle zuckt und Schlachtruf gellt,
weit wallt und wogt der Hader.
Rausch zu, fahr zu, du graues Heer!
Rauscht zu, fahrt zu nach Norden!
Fahrt ihr nach Süden übers Meer -
Was ist aus uns geworden.
Wir sind wie ihr ein graues Heer
und fahr’n in Kaisers Namen.
Und fahr’n wir ohne Wiederkehr
rauscht uns im Herbst ein Amen!
(Dieses Gedicht in seiner Vertonung als Marschlied gehörte zwar nicht zum Liedgut der Hitlerjugend, aber am Anfang ihres Bestehens wurde es auch manchmal von der HJ gesungen, ohne daß die Bedeutung – der Sinn – des Textes besprochen und den Jungen überhaupt verständlich gemacht wurde. Später galt das Lied allerdings als verpönt. Es klang wohl der HJ-Führung für die erstrebte wehrhafte Jugenderziehung zu defätistisch. Ich habe es noch während meiner kurzen Mitgliedschaft in der HJ lernen müssen.)
Ältere Heranwachsende wurden im „Jungstahlhelm“ – kurz „Jungsta“ genannt – aufgenommen. Hier war der Betrieb schon etwas militärischer, an Stelle der Kriegsromantik trat mehr die Kriegsrealität in den Vordergrund. Das „Deutsche Jungvolk“ (DJ) gehörte ursprünglich nicht zur Hitlerjugend, die eine „Gliederung“*) der „Sturmabteilung“ (SA) der NSDAP war, sondern völlig selbständig zur „Bündischen Jugend“, einer Dachorganisation nationaler Jugendverbände. Auch im DJ spielten anfangs, wie in allen diesen Jugendverbänden, kriegsromantische Vorstellungen ein Rolle. Aber auch der in der NSDAP herrschende Antijudaismus wurde hier schon thematisiert. Anfang der 30er Jahre schloss sich das DJ als selbständiger Verband der Hitler Jugend an, wurde ihr aber erst nach 1933 unterstellt, als die Nazis überall das Kommando an sich gerissen hatten. Die meisten der ehemaligen Jungenführer im DJ wurden nach und nach kaltgestellt und durch ältere HJ-Mitgieder ersetzt. Aber das wußten wir damals nicht (s.a. neuere Forschungsberichte über die Jugendorganisationen der NSDAP, z.B. A. Klönne „Jugend im 3. Reich“, Eugen Diederichs Verlag, 1984).
*) Der Begriff „Gliederung“ für die verschiedenen Organisationen der NSDAP war typisch für die Nazi-Ideologie. Die Gesamtheit der vielen Verbände, Gruppen, Vereine und sonstigen Organisationen, soweit ihr Bestehen parteiamtlich und behördlich genehmigt war, wurde als Volkskörper gesehen, in dem die einzelnen Glieder(-ungen) „dem Wohle des Ganzen“ dienen sollten.
Mein ältester Bruder Ludwig studiert Maschinenbau am Hindenburg-Politechnikum in Oldenburg in der Willersstraße.*) Er ist Mitglied des NS-Studentenbundes kurz vor dem 30.1.1933 geworden. EA ist in der Scharnhorst-Jugend, Vater schon seit Mitte der Zwanziger Jahre im „Stahlhelm“ und besitzt einen gehobenen Dienstgrad in dieser militanten Organisation. EA und ich sind sehr stolz darauf, daß unser Vater, wie wir meinen, einen hohen Rang im „Stahlhelm“ besitzt. Anfang der dreißiger Jahre werden meine Freunde und ich angezogen von den Nationalsozialisten, nachdem sie erstmals – etwa 1931 – in größeren uniformierten SA-Verbänden mit eigenem Musikzug Aufmärsche in Oldenburg veranstalten. Uniformen und Aufmärsche mit Marschmusik ist es, was uns Jungen zu der Zeit begeistert, und wir laufen immer zur Seite dieser Umzüge mit, sogar wenn der kommunistische Rotfrontkämpferbund mit seiner Schalmeienkapelle einen solchen Aufmarsch veranstaltet. Wenn „Rotfront“ in langen Zügen, voran die Schalmeienkapelle**), dahinter auf beiden Straßenseiten je ein kräftiger Mann, die die langen Haltestangen für ein breites rotes Spruchband tragen, auf dem in großen weißen Buchstaben irgendeine mehr oder weniger aktuelle sozialistische Parole steht ***), gefolgt von einer Kolonne Rotfrontkämpfer in feldgrauen Windjacken, Breecheshosen und geschnürten Motorradstiefeln, dahinter die kommunistischen Familien mit Frauen und Kindern, die die ganze Straßenbreite einnehmen, so durch die Langestraße marschieren, hin und wieder im Chor rufen: „Es lebe die glorreiche Sowjetunion“ oder ähnliche Parolen, dann steht unser Vater grimmig hinter dem Schaufenster seines Geschäftes, hat seinen Gummiknüppel in der Hand und gibt halblaut irgendwelche Verwünschungen auf dieses „vaterlandslose Gesindel“ da draußen von sich.
In seiner Abneigung sozialistischer Ansichten läßt er sich von niemanden übertrumpfen. Sozialdemokraten sind ihm nicht vaterlandstreu genug, Kommunisten sogar vaterlandslos, weil ihr Ideal, die Sowjetunion, das Vaterland der Werktätigen sein soll. Den Namen des obersten Führers der Sowjetunion, Stalin, macht er zu „Staljin“, wobei er das „a“ ganz kurz ausspricht. So klingt es für ihn besonders verrucht und seiner Abneigung des sowjetischen Diktators angemessener.
Aber manchmal kommt abends ein kommunistischer Zeitungsausträger ins Geschäft, bringt Vater die Zeitung „Rote Fahne“ und diskutiert mit ihm. Das bleibt jedoch ganz friedlich. Politische Diskussionen gehören nicht zu den Stärken unseres Vaters. Er ist kaisertreu und national gesinnt, wie die meisten unserer Bekannten, wie auch Vaters Schwager Dietrich Linnemann (Onkel Didi). Der hat ein Lieblingsthema: Episoden von und mit „Exzellenz von Kluck“, hoher Generalstabsoffizier während des Ersten Weltkrieges. Onkel Didi war im Krieg sein Fahrer gewesen.
*) Das Hindenburg-Politechnikum wurde Mitte 1934 im Zuge der Neuordnung des Schulwesens von der nationalsozialistischen Landesregierung in Oldenburg aufgelöst. Die Gebäude wurden zu Berufsschulen für das Handwerk umgewidmet.
**) In Berlin soll eine ganze kommunistische Schalmeienkapelle zu den Nazis übergelaufen sein, die darauf als Renommierobjekt eine kurze Zeit auf SA-Veranstaltungen mit marschierte, dann aber irgendwie eliminiert wurde. Schalmeien galten bei den Nazis als „jüdisch-bolschewistische Musikinstrumente“. In der Sowjetunion gab es viele Schalmeienmusikzüge bei den auch dort zahlreichen Aufmärschen der verschiedenen Organisationen des „Arbeiter- und Bauernparadieses“.
***) Eines Tages trugen in Oldenburg zwei Männer in SA-Uniform ohne die dazu gehörige Hakenkreuz-Armbinde das Transparent, zwei Ex-Nazis, die zu den Kommunisten übergelaufen waren und nun provokativ ihre SA-Uniform auf dem Umzug zur Schau stellten. Nach Hitlers Machtübernahme werden sich die Nazis sicher brutal gerächt haben. Aber darüber wurde nichts bekannt, wie sich überhaupt seit dem 30.1.1933 eine Decke des Schweigens über den Naziterror ausbreitete.
Ich will also unbedingt zu den „Pimpfen“ des Deutschen Jungvolk. Einmal habe ich, noch vor der „Machtübernahme“ durch Hitler, an der Veranstaltung einer „Jungenschaft“ des DJ im „Braunen Haus“ in der Langenstraße teilgenommen. Im April 1933 darf ich dann endlich eintreten, nachdem die Schulbehörde sich dafür ausspricht, Schülern aller Altersgruppen ab 10 Jahre die Mitgliedschaft in einer der nationalen Jugendverbände nahe zu legen. Gemeint sind nur Deutsches Jungvolk und Hitlerjugend als Unterorganisationen der NSDAP sowie Scharnhorstjugend und Jungstahlhelm als bislang noch selbständige Jugendverbände des „Stahlhelm“. Die vielen anderen Jugendorganisationen gibt es schon nicht mehr. Sie wurden auf Betreiben des obersten Führers der Hitlerjugend, Baldur von Schirach, verboten. Für Mädchen ab 14 Jahren gab es fortan nur noch den „Bund deutscher Mädel“ (BDM, von Spöttern auch „Bubi, drück mich“ genannt) und für Mädchen von 10 bis 14 Jahren die „Jungmädel“.
Nur wenige Monate später werden Stahlhelm, Jungstahlhelm und Scharnhorst-Jugend der SA bzw. der Hitlerjugend und dem „Deutschen Jungvolk“ angegliedert, etwas später ganz aufgelöst und von den NS-Organisationen übernommen. Im Zuge der „Gleichschaltung“, der alle nationalen Einrichtungen, wenn sie nicht zur NSDAP gehörten, zum Opfer fallen, werden ihre Organisationen in die ihnen ideologisch am nächsten stehenden Nazi-Verbände eingegliedert. Demokratische und sozialistische Parteien, Gewerkschaften und angeschlossene Organisationen sind schon vorher aufgelöst und verboten worden; ihr Vermögen wurde beschlagnahmt. Materiell unterschied sich dies nicht von dem, was den nationalen Verbänden geschieht. Nur stand dort offener Zwang und Terror dahinter. Wir Jugendlichen erkennen dies jedoch nicht, und die meisten bürgerlichen Erwachsenen verhalten sich zustimmend oder gleichgültig. Dem größten Teil des Volkes sind die vielen Parteien, politischen Verbände und Organisationen ohnehin zuwider geworden. Die Menschen verstehen deren Zielsetzungen ohnehin nicht, und deshalb kommen die Nazis ihnen mit ihrer Verbotsorgie entgegen.
Verboten oder als „unerwünscht“ bezeichnet werden auch musikalische Erzeugnisse jüdischer, „jüdisch versippter“ oder den Nationalsozialisten nicht genehmer Komponisten wie Operetten von Leo Fall und anderen. Nur ein paar Beispiele von vielen: Die „Vier Nachrichter“, eine kleine Studentengruppe, die Anfang der Dreißiger Jahre entstand und kleine Sketche mit humoristischen Parodien und Liedern zur Aufführung brachte, mußte sich 1934 auf Druck der Nazis auflösen. Die sogar außerhalb Deutschlands berühmt gewordenen „Comedian Harmonists“ konnten im Reich nicht mehr aufteten, solange drei jüdische Sänger unter ihnen waren. Viele Schlager wurden verboten oder durften im Rundfunk nicht mehr aufgeführt werden. Zum Beispiel der gesellschaftskritische Schlager der Zwanziger bis Dreißiger Jahre, der das Los junger ehemaliger Offiziere der kaiserlichen Armee beklagte, die außer Gehorsam, Befehlen, Krieg führen und Tanzen nichts gelernt hatten und nun ihren Unterhalt fristeten, indem sie gegen Bezahlung vorwiegend älteren Damen der „höheren“ Gesellschaft als Tanzpartner dienten, sich womöglich von ihnen auch abschleppen ließen:
Schöner Gigolo, armer Gigolo, denk´ nicht mehr an die Zeiten,
wo du einst Husar Gold verschnürt sogar konntest durch die Straßen reiten.
Uniform passe´, Liebchen sagt Adieu. Schöne Welt du gehst in Fransen.
Wenn das Herz dir auch bricht, zeig´ ein lachendes Gesicht: Man zahlt und du mußt tanzen.
Knapp drei Jahre währt mein Dasein als „Pimpf“ und Hitlerjunge, dann ist meine Begeisterung für Jungvolk und Hitlerjugend völlig verflogen und ich bleibe dem „Dienst“ fern, obwohl ich vorher im Jungvolk noch eine, allerdings nur kleine, Karriere mache: 1934 ernennt mich der „Jungbannführer“ zum „Hordenführer“ und ich darf einen kleinen Winkel am Unterärmel tragen. Außerdem werde ich stellvertretender Jungenschaftsführer. Im Winter 1934/35 veranstaltet unser aus etwa 120 Jungen bestehendes „Fähnlein“*) Stadtmitte, wie alle anderen Fähnlein in Oldenburg und wohl auch andern Orts, eine Sammlung von Altmaterial – Metalle, Zahnpasta- und andere Tuben, Gemüsedosen und manches mehr. Ich muß unsere Jungenschaft hierbei anführen und leihe mir dafür den Handwagen meines Vaters aus. Es kommt viel Material zusammen und wir müssen mehrmals zur zentralen Sammelstelle fahren, um das Material dort abzuliefern. Es ist ein Wettbewerb zwischen den einzelnen Fähnlein der Stadt und wir stehen dadurch auch unter einem gewissen Erfolgsdruck.
*) Ein Fähnlein bestand generell aus drei Jungzügen, diese wiederum aus je drei Jungenschaften, den kleinsten Einheiten mit etwa 10 bis 15 Jungen.
Anfang 1935 werde ich vom Fähnleinführer zu seinem „Adjutanten“ ernannt und erledige dann alle Schreibarbeiten für ihn. Dazu hat er mir eine Schreibmaschine überlassen, ein historisches Exemplar: Mit einem kleinen Suchhebel muß man auf einer Zeichentabelle darunter auf das auszudruckende Zeichen fahren und dann eine Taste niederdrücken, womit der Buchstabe, die Ziffer oder das Zeichen auf das Papier gedruckt wird. Solch eine Maschine ist heute ein wertvolles Sammlerstück. Als mein Fähnleinführer andere Aufgaben im Jungvolk übernimmt, erhält ein anderer den Posten, mit dem ich mich aber nicht so gut verstehe. Ich lasse mich zum Fähnlein nach Osternburg versetzen, weil Vater inzwischen als Oberzahlmeister in die neu aufgestellte Wehrmacht einberufen worden ist, weshalb er sein Feinkostgeschäft aufgibt. Er wird Dienststellenleiter der Verwaltung der Artillerieabteilung in ihrem Standort Osternburg und unsere Familie zieht nach Osternburg in die Ulmenstraße. Ich bleibe immer öfter dem Dienst im Jungvolk fern und bemühe mich später, in die Marine-HJ aufgenommen zu werden. Der Dienst dort begeistert mich nicht, auch Funk- und Motor-HJ können mich nicht motivieren, nachdem ich dort auch ein paar Mal Gast gewesen bin. In allen NS-Gliederungen ist der Zwang zu groß geworden, es gibt weder Freiwilligkeit noch Antrieb, jedenfalls empfinde ich so. Darum werde ich kein besonders guter NS-Deutscher. Erst später, mehrere Jahre nach dem Krieg, geht mir die Erkenntnis auf, daß ich auch, wie viele andere, tiefer in den Sumpf der NS-Ideologie hätte geraten und schuldiger hätte werden können. Es kann nicht geleugnet werden, daß viele Jugendliche sich mit großer Begeisterung in die HJ haben treiben lassen und dort auch idealistisch an ihren Aktivitäten teilnehmen. Aber welche andere Möglichkeit, ihrem jugendlichen Idealismus zu frönen, haben sie denn noch im „Dritten Reich“. Andere Jugendorganisationen gibt es nicht mehr; auch katholische Jugendbünde, soweit sie nach dem 1933 zwischen dem Vertreter des Vatikans und der NS-Regierung abgeschlossenen Konkordat weiter bestehen dürfen, werden unterdrückt und von Funktionären der Hitlerjugend öffentlich diffamiert, sodaß kaum noch Jugendliche sich dafür einsetzen mögen. Die NS-Führung hat jede Konkurrenz zu ihren eigenen Organisationen ausgeschaltet.
Die Wertebegriffe in Deutschland waren während und nach dem Ersten Weltkrieg so sehr verkümmert – und das vor allem in führenden rechts- und auch linksextremen Kreisen der Bevölkerung –, daß Ethik und Moral kaum noch von wesentlicher Bedeutung waren. Unter den Behauptungen solch brüchiger Wertevorstellungen wuchsen wir Jüngeren auf und erlagen ihnen. Nur so konnten wir gutheißen, was im höheren Sinne verwerflich war. Mir fällt ein Satz ein, den der britische Verleger und Publizist Victor Gollancz etwa um 1947 schrieb, als die Nazigreuel in ihrem ganzen Ausmaß publik geworden sind: Er sei dankbar, daß das Schickal ihm verwehrt hatte, auf der falschen Seite gestanden zu haben. (Aus „Neue Auslese – Alliierter Informationsdienst“ 1947).
Später in der Kriegsgefangenschaft verhalte ich mich manchmal so, als sei ich völlig überzeugt vom Nationalsozialismus, in falsch verstandener oder vielleicht auch überzogener „Vaterlandstreue“, häufig auch nur aus oppositionellem Widerspruchsgeist gegenüber amerikanischen Gesprächspartnern, die ihren „American way of Life“ uns Kriegsgefangenen gegenüber für unseren Geschmack oft zu dick auftrugen. Als Kriegsgefangene, die durch ihre meist in der Landwirtschaft eingesetzten Arbeitseinsätze vielfach auch mit Benachteiligten dieses Lebensstiles zusammen kommen und mit ihnen zusammen arbeiten, kann man uns jedenfalls bis zum Kriegsende nicht richtig von diesem Weg überzeugen, obwohl vieles an amerikanischer Lebensart uns doch beeindruckt. Oft wollen wir jedoch lieber das Negative daran sehen als das Positive. Gegen Ende des Krieges verschließe ich mich nicht mehr der Realität; viele Kameraden bleiben jedoch bei ihren durch die NS-Erziehung fixierten Vorurteilen, vor allem auch gegen jüdische Offiziere und Unteroffiziere der US-Army, von denen es nicht wenige in Leitungs- und Verwaltungsfunktionen in den Kriegsgefangenenlagern gibt, weil die Meisten von ihnen Deutsch sprechen.
Im und nach dem Kriege wird mir zur Gewißheit, was ich schon vorher am Nationalsozialismus bemängele: „Volksgemeinschaft“ ist ein reines Propagandagerede der oberen Naziführung; sie ist in der Wirklichkeit nicht gewollt, sondern dient der von der Masse geforderten Gefolgschaft und ihrem Gehorsam gegenüber den Nazibonzen. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, mit diesem hysterischen Massengeschrei haben wir – das deutsche Volk – unsere tiefste Selbsterniedrigung freiwillig auf uns genommen, wenn ich selbst auch nie in die Lage gekommen bin – was ich später fast als Geschenk meines Schicksals empfinde – , mich an diesem Massengeschrei und den ständigen „Heil“-Rufen zu beteiligen.
Daß sich die Nazi-Ideologie schnell und systematisch nach der NS-Machtübernahme in weite Bereiche des gesellschaftlichen und auch Berufslebens einnistet, geht aus vielen Beispielen hervor. Jugendliche dürfen nicht mehr selbständig, d.h. außerhalb von DJ- oder HJ-Verbänden, auf Fahrt gehen. Die Bildung von Verbänden, Vereinen, Clubs u.a. wird verboten. Auch Berufs- und Interessenverbände können sich nur unter der Obhut nationalsozialistischer Vorherrschaft bilden oder werden ihr nach 1933 unterstellt. Dies geschieht alles im Zuge der „Gleichschaltung“ allen gesellschaftlichen und beruflichen Lebens. In der Sowjetunion ist die Gleichschaltung unter kommunistisch-stalinistischer Herrschaft allerdings noch viel weiter gediehen als bei uns im „Dritten Reich“, in dem es doch noch Möglichkeiten gibt, sich dem absoluten Zwangssystem zu entziehen, weil Hitler im Interesse seiner Kriegsvorbereitungen manche Maßnahmen mit lockerer Hand durchsetzen läßt und dem Prinzip des „Teile und Herrsche“ unterstellt. So gibt es Möglichkeiten, dem absoluten Zwang gelegentlich auszuweichen, was ja auch mir selbst durch mein Fernbleiben vom HJ-Dienst und zu Anfang des Krieges durch meine und meines Freundes Alfred Brünjes Nichtteilnahme an der vormilitärischen Ausbildung gelingt.
Onkel Didi, der in diesen Jahren Mitglied der KFZ-Meisterprüfungskommission ist, erzählt mir einmal, wie wichtig für den Ausbildernachwuchs im Handwerk die „richtige“ nationalsozialistische Gesinnung sei. So gehört zur theoretischen Prüfung zum Erwerb des Meisterbriefes in allen Handwerksberufen auch das Fach „Volksgemeinschaftskunde“, und eine der Prüfungsfragen in diesem Fach lautet: „Was kommt nach dem Dritten Reich?“ Wer diese Frage nicht damit beantwortet, daß nach dem dritten Reich kein anderes kommen könne oder ähnliches im Sinne dieser Auffassung, wird vom weiteren Verlauf der Prüfung ausgeschlossen. Hier zeigt sich der völlig absurde und bornierte Ewigkeitsanspruch der Nazi-Ideologie.
Nicht aus der Erinnerung gehen mir einige der Jungvolk- und Hitlerjugendlieder, die ich während meiner aktiven Mitgliedschaft in diesen Organisationn wie alle anderen Jungen und Mädchen*) lernen muß. Das als „Deutsches Jugendlied“ anfangs so genannte „Uns‘re Fahne flattert uns voran, ...“ habe ich fast vergessen; das Lied endet im ersten Vers mit „... denn die Fahne ist mehr als der Tod.“ Es gehört zur Begleitmusik des Films „Hitlerjunge Quex“ mit dem damals berühmten Filmschauspieler Heinrich George als kommunistischen Vater, der sich nach der Ermordung seines Sohnes durch andere Kommunisten in einer Anwandlung von Vaterliebe und glühendem Patriotismus von seiner Partei, der KPD, abwendet. Alle Jungen und Mädchen („Mädel“ heißt es offiziell) müssen in gemeinsamen Veranstaltungen diesen Film sehen. Später tritt das Lied völlig in den Hintergrund. „Feiertagshymne der Deutschen Jugend“ wird das folgende Lied:
Auf hebt uns‘re Fahnen in dem frischen Morgenwind.
Laßt sie weh‘n und mahnen die die müßig sind.
Wo Mauern fallen bau‘n sich and‘re vor uns auf.
Doch sie weichen alle uns’rem Siegeslauf.
(weitere Strophen)
Um die Fahne und ihre angebliche Symbolkraft geht es oft in den HJ-Liedern. Viel gesungen wird auch das folgende Lied:
Es zittern die morschen Knochen
der Welt vor dem großen Krieg.
Wir haben die Ketten gebrochen,
für uns war‘s ein großer Sieg.
Wir werden weiter marschieren
wenn alles in Scherben fällt,
denn heute hört*) uns Deutschland
und morgen die ganze Welt.
(weitere Strophen)
*) Nicht „gehört“. Dies wurde nach 1945 häufig behauptet, weil es tatsächlich oft so gesungen wurde.
In manchen Liedern wird auch von Freiheit gesungen. So heißt es in einem Lied:
Freiheit ist das Feuer, ist der helle Schein.