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Unruhige Zeiten
ОглавлениеNach dem für Deutschland und seine Verbündeten verlorenen Ersten Weltkrieg im Herbst 1918 dankte der Kaiser ab und nach ihm alle deutschen Monarchen und Länderfürsten. Das Deutsche Reich wurde Republik mit einer Verfassung, die durch eine 1919 in Weimar zusammengetretene Nationalversammlung zum Grundgesetz erhoben wurde. Von dem „Staat ...“ oder der „Republik von Weimar“ wurde vor allem in herabwürdigender Weise von rechtskonservativen, meist monarchisch und militant gesinnten Politikern gesprochen, die der nach dem Krieg entstandenen und zunächst auch von der Mehrheit der Deutschen gewollten Demokratie in ihrem Überlebenskampf die angeblich so glanzvolle Kaiserzeit gegenüberstellten. Von den vielen Parteien, die im Parlament in Berlin, dem Reichstag, vertreten waren oder später dazu kamen – kurz vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler war ihre Zahl auf 32 angestiegen – , waren nur einige wirklich demokratisch, vor allem die Sozialdemokratische Partei, die Demokratische Partei und das vorwiegend katholische Zentrum mit seinem Ableger „Bayrische Volkspartei“. Gegen die militanten Anhängerorganisationen der Rechtsparteien („Der Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“) und der Kommunisten („Rotfront-Kämpferbund“) und zum Schutz der Republik bildeten die Sozialdemokraten mit Unterstützung der Demokraten und Gewerkschaften das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Die offiziellen Reichsfarben, die bereits die Farben der Nationalversammlung von 1848 in der Frankfurter Paulskirche waren, wurden von den Rechten verächtlich „Schwarz-Rot-Senf“ genannt. Die Hauptaufgabe der uniformierten, aber unbewaffneten Mitglieder des Reichsbanners war vor allem der Schutz von Veranstaltungen der demokratischen Parteien gegen Übergriffe der Nazis. Dies gelang ihnen allerdings im Laufe der zunehmenden Verelendung der Massen und Radikalisierung der nationalsozialistischen SA und SS immer weniger, da sie – im Gegensatz vor allem zu den agressiv auftretenden Nazis – auf dem Boden des Rechtsstaates standen und daher keine Waffen trugen, auch nicht solche zur Selbstverteidigung (z.B. Schlagwaffen, sog. Gummiknüppel).
In allen Städten organisierten die Kommunisten und ab den späteren 20er Jahren auch die Nazis Demonstrationsumzüge mit Marschmusik vorneweg. Die Teilnehmer sangen dabei „Kampflieder“. Das bekannteste war das Wiener Arbeiterlied, das schon vor dem Ersten Weltkrieg von den österreichischen Sozialisten gesungen wurde. Der erste Vers lautet:
Es pfeift von allen Dächern
Für heut die Arbeit aus
Es ruhen die Maschinen
Wir gehen müd nach Haus
Daheim ist Not und Elend
Das ist der Arbeit Lohn
Geduld verrat’ne Brüder
Schon wanket Mammons Thron
Die Nazis übernahmen dieses Lied, änderten den Text aber entsprechend ihrer antijüdischen Hetzpropaganda um, z.B. im ersten Vers die letzte Zeile: „Schon wanket Judas Thron“. Auch Lieder der Kommunisten übernahmen sie mit ähnlichen Textänderungen. In einem ihrer eigenen Lieder hieß es am Schluß „... und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, ei da geht’s noch mal so gut.“
In der Kurwickstraße gibt es nicht weit vor der Einmündung zur Langen Straße die Gastwirtschaft von Jan Wooge, einem Mitglied der SPD. Die Gaststätte ist auch Vereinslokal der Sozialdemokraten in der Stadt Oldenburg. Während der Depression 1929 bis zu Beginn 1933 haben sich SPD, „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ und freie Gewerkschaften Ende 1931 zur „Eisernen Front“ zusammengeschlossen als Antwort auf die „Harzburger Front“ der Rechtsextremen. Beide Bündnisse verstehen sich als Opposition gegen die rigorose Sparpolitik des Reichskanzlers Heinrich Brüning, allerdings aus unterschiedlichen Gründen, die aus ihren einander entgegengesetzten politischen Zielen resultieren. Die „Eiserne Front“ trägt als Symbol drei silberne Pfeile auf rotem Grund, die die drei Gruppen des Bündnisses symbolisieren sollen. Eine große Fahne mit den drei silbernen Pfeilen auf rotem Grund weht lange Zeit vom Giebelfenster bis zur Mitte der Vorderfront des ziemlich hohen Hauses der Gaststätte von Jan Wooge herab. Die Rechtsextremen haben einen Spottvers auf den Gastwirt Jan Wooge gedichtet, der wohl auf seine körperliche Versehrtheit gemünzt ist: „Jan Wooge, Jan Wooge, de scheelt up´t linke Ooge ...“ usw., gesungen nach einer bekannten Marschmelodie. Niemand aus unserer Umgebung fragt nach dem Verbleib des Gastwirts, wie nach vielen anderen, nachdem die Nazis an die Macht gekommen sind.
Anfang der dreißiger Jahre, als die Arbeitslosigkeit und damit die Not vieler Menschen und ihrer Familien immer größer wird, geht die Stimmung in der Öffentlichkeit immer mehr in Richtung eines radikalen politischen Systemwechsels; fast nimmt sie revolutionäre Züge an. 1919 bis 1923 wurde die Deutsche Reichsmark entwertet durch einen fortschreitenden Verlust der Kaufkraft, die sich 1923 immer mehr beschleunigt bis zur Hyperinflation. Ein Laib Brot kostet schließlich mehrere Billionen Reichsmark. In einer Währungsreform wird 1923 die Reichsmark durch die „Rentenmark“ abgelöst, deren Kurs sich nach dem amerikanischen Dollar ($) richtet: 1 $ = 4,20 Rentenmark. Etwa ein Jahr später tritt an die Stelle der Rentenmark wieder eine Reichsmark mit gleichem Kurs. Nach 1930 passiert das Gegenteil der Inflation mit der neuen Reichsmark. Die Preise für alle möglichen Güter verfallen, das Geld wird so knapp, daß viele Kaufleute und Händler in Konkurs geraten. Ich erinnere mich, daß ein Kilo Zucker 30 Pfennig, ein halbes Kilo Schwarzbrot oder drei Brötchen 10 Pfennig kosten. Trotzdem leiden viele Menschen Not, weil sie sich und ihren Familien – obwohl die Preise auch der Grundnahrungsmittel niedrig geworden waren – nicht ausreichend ernähren können, zumal die Kosten für Mieten kaum erschwinglicher werden.
Im Jahr 1932, dem letzten der Republik und zugleich dem unruhigsten – zwei Auflösungen des Reichstages und Wahlen zum neuen Reichstag und die damit verbundenen heftigen Wahlkämpfe sowie die Reichspräsidentenwahl stehen an – sehe ich Adolf Hitler zweimal. Das erste Mal erhalten die Eltern im Frühjahr 1932 eines Abends einen Wink von der Familie Siegel, den Besitzern des unserem Haus schräg gegenüber liegenden Hotels Fischer, daß Hitler, der dort nach einer großen Wahlveranstaltung in Oldenburg mit ihm als Hauptredner speiste, sogleich das Hotel verlassen werde. Ilse, Thea und ich gehen hinüber, wo noch ein paar andere Leute sich einfinden, vor allem wohl wegen Hitlers Mercedes-Limousine, einer Sonderanfertigung*) mit sechs Rädern. Nach wenigen Minuten kommt Hitler, zunächst allein, heraus; er trägt einen beigefarbenen Trenchcoat und hält seinen Hut in der Hand. Er wendet sich uns zu, die wir alle mit zum Nazigruß erhobenen Händen ihn begrüßen. Ich glaube, wir rufen sogar „Heil“, wie er von den Massen immer bejubelt wird und er grüßt „freundlich“ mit seinem üblichen Gruß zurück, der rechte Arm angewinkelt und zum halben Nazigruß erhoben, wobei er sich uns zuwendet.
*) Es verlautete, daß Hitlers Wagenkolonne, die aus mehreren sechs- und vierrädrigen Limousinen bestand, eine Zuwendung der Mercedes-Werke an Hitler und seine Partei sei und von ihm oder der Partei nicht bezahlt wurde. Die NSDAP wurde ab 1931 von der Industrie unterstützt, wodurch Hitler überhaupt die Möglichkeit erhielt, in den letzten zwei Jahren seiner „Kampfzeit“, wie die Nazis die Zeit seit dem Bestehen der NSDAP prahlerisch nannten, die riesigen, mit unerhörtem Aufwand betriebenen Kundgebungen abzuhalten. Hitler selbst flog im eigenen Flugzeug zu den Kundgebungen und wurde am Flugplatz von seiner dort auf ihn wartenden Wagenkolonne abgeholt, um mit der immer gleichen Inszenierung zum Ort der Kundgebung gebracht zu werden.
Der Nazigruß (in Verbindung mit dem möglichst laut und vernehmlich gesprochenen „Heil Hitler“) wurde ab 1933 der „Deutsche Gruß“ genannt, obwohl er nur eine Nachahmung des antiken römischen „Fascio“-grußes war und schon, bevor die Nazis diesen Gruß in ihrer „Bewegung“ einführten, in Italien bei den Mussolini-Faschisten üblich war. Hitlers höhere Vasallen und solche, die sich dafür hielten, im Volksmund „die kleinen Hitlers“ genannt, machten dessen lockere Art gern nach, in Gegenwart weniger Leute wie ihr Führer mit nur angewinkelt erhobenem Arm zu grüßen. Auf den häufigen, oft stundenlangen Vorbeimärschen sah man Hitler, der hierbei eine große Ausdauer zeigte, immer mit dem vollen Nazigruß, wobei er meistens beim Erheben und auch Senken den rechten Arm mit einer besonderen, wohl eingeübten, Art schwenkte.
Nach der Einführung des „deutschen Grußes“ wird darüber natürlich auch gewitzelt. Meine Schwester Ilse, die nach der „Machtübernahme“ keine große Begeisterung für den Nationalsozialismus zeigt und sich gern an der Verspottung NS-parteiamtlicher Verfügungen beteiligt, kommt einmal kurz nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler mit „Heil Hitler und guten Tag für die Andersgläubigen“ nach Hause.
Das zweite Mal erlebe ich Hitler im Frühherbst 1932 bei einer NS-Kundgebung auf dem Pferdemarkt, auf der Seite, wo das Polizeihaus und die Polizeikaserne stehen. Er kommt wie gewöhnlich später, nachdem die Kundgebung schon mit einer reißerischen Rede des NSDAP-Gauleiters und Ministerpräsidenten des Landes Oldenburg, Karl Röver *) angefangen hat, mit seinem großen Mercedes unter brausendem Heilrufen der Menge, was zur Inszenierung solcher Kundgebungen mit Hitler dazu gehört. Auf dem gegenüberliegenden Platz des Pferdemarktes haben die Kommunisten eine Gegendemonstration arrangiert, die von der Menge aber wenig beachtet wird und sich dann schnell tot läuft. Einige unentwegte Kommunisten schütten Hitlers Mercedes bei der Ankunft Nägel und Splitter vor die Reifen, mit welchem Erfolg, kann ich nicht feststellen.
Am 30.1.1933 wird Adolf Hitler, der Führer der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei) vom Reichspräsidenten von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt, nachdem in den letzten Wahlen zum deutschen Reichstag die „nationalen“ (d.h. rechts gerichteten b.z.w. erzkonservativen) Parteien die Mehrheit erreicht haben. Dabei muß man berücksichtigen, daß Demokraten, Zentrum und SPD auf keinen Fall mit den Kommunisten koaliert hätten, eine regierungsfähige demokratische Regierung unter Beteiligung der Kommunisten also nicht zustande gekommen wäre. Allerdings ist auch kaum anzunehmen, daß Kommunisten sich an einer demokratischen Mitte-Links-Regierung beteiligen würden, ist es doch ihr Ziel, dem „System“ einen Fußtritt zum Untergang zu geben. „System“ ist eine Bezeichnung der Kommunisten für die „Herrschaft des Bürgertums“, also der rechtsstaatlichen Demokratie. Der „greise Feldmarschall“ sieht angeblich keine anderen Möglichkeiten mehr nach der Reichsverfassung, als Hitler, den Führer der rechtsradikalen Partei und stärksten Fraktion im Reichstag mit der Bildung einer neuen Regierung zu betrauen. Hierzu wird er von seinen Ratgebern, vor allem seinem Sohn, Oberstleutnant der Reichswehr Oskar von Hindenburg, dem vormaligen Reichskanzler von Papen und dem Chef des Reichspräsidialamtes von Meissner – alle drei zusammen von Kritikern auch die „Camarilla“ genannt – gedrängt. Er sympathisiert nicht mit Hitler und hatte vorher immer wieder versucht, den „böhmischen Gefreiten“, wie er ihn nennt, womit er auf Hitlers österreichische Herkunft und auf seinen Dienstgrad während des Weltkrieges anspielt, von der Regierung fernzuhalten, ihm sogar gedroht, er werde die Reichswehr auf Hitlers SA schießen lassen, falls Hitler einen Putschversuch machen wolle. Als „Aufpasser“ ernennt Hindenburg den vorletzten Reichskanzler Franz von Papen zum stellvertretenden Reichskanzler, der sich aber in der Folgezeit als völlig unfähig in dieser Rolle erweist und selbst zum betrogenen Betrüger wird.
An dem Tag kommt Bruder Ludwig kurz vor Mittag nach Hause und ruft: „Hitler ist Reichskanzler geworden!“ Mutter sagt, und der Ton ihrer Stimme klingt schicksalsergeben: „Das mußte ja so kommen.“
*) Karl Röver wurde schon vor der Machtübernahme durch die Nazis im Reich Ministerpräsident des Landes und damaligen Freistaates Oldenburg als Vorsitzender der stärksten Fraktion im Oldenburger Landtag 1932 nach der Landtagswahl im Frühjahr. Nachdem Hitler und seine engsten Parteigenossen, vor allem Göring und Goebbels, Ende Januar im Berliner Hotel „Kaiserhof“ in der Nähe des Reichspräsidentenpalais auf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gewartet hatten und die Ernennung dann am 30. Januar durch Hindenburg erfolgte, schrieb Goebbels wenig später einen für kurze Zeit zum Bestseller gewordenen Bericht „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“. Karl Röver wurde im Zuge der „Gleichschaltung“ der Reichs- und Länderbehörden mit den Parteiämtern zum „Reichsstatthalter“ des Gaues Weser-Ems ernannt.
Es kommt ein Witz auf, Ilse kommt damit nach Hause: Nachdem das Buch von Goebbels – wie Karl Röver auch Gauleiter der NSDAP, allerdings von Groß-Berlin, deshalb seine herausragende Stellung in der Partei – ein solcher Erfolg war, will Röver, der vor seiner Wahl zum Ministerpräsidenten ein Trikotagengeschäft in der Heiligengeiststraße in Oldenburg besaß, dem Goebbels-Erfolg nicht nachstehen und schreibt ein Buch mit dem Titel „Vom Strumpfhalter über den Büstenhalter zum Reichsstatthalter“.
Ein drittes Mal erlebe ich Hitler im Februar 1933 ebenfalls auf dem Pferdemarkt an einem Abend, wo er – nach seiner Ernennung zum Reichskanzler – mit der üblichen, immer gleichen Inszenierung zur letzten demokratischen Reichstagswahl redet. Auf dem gegenüberliegenden Platz vor der alten Kaserne, in der nach dem Ersten Weltkrieg Arbeiterwohnungen eingerichtet worden waren, die eher Elendsquartieren gleichen, hat die Polizei Scheinwerfer aufgestellt, die gegen die Fenster der Wohnungen gerichtet sind, weil zu der Zeit in dem Gebäude viele Anhänger der KPD wohnen und von ihnen Demonstrationen gegen Hitler und seine Regierung befürchtet werden, obwohl Kommunisten, die auf der schwarzen Liste der NSDAP stehen, von den Nazis schon in „Schutzhaft“ genommen worden sind. Für meine Freunde und mich war es zu der Zeit, als die meisten Deutschen einen politischen Wandel nach den Jahren des wirtschaftlichen Niederganges wollten, ein großartiges Erlebnis, Hitler, den Führer eines neuen Deutschland, zu sehen und reden zu hören. Nur die radikalen Gegner Hitlers warnten vor ihm: „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“ Das aber glaubte die überwiegende Mehrheit in Deutschland nicht.
Nach der sogenannten Machtübernahme der NSDAP sind schon die meisten Anhänger der KPD und auch der SPD sowie viele Juden und Leute, die sich bei den Nazis unliebsam gemacht haben, von SA-Männern in wilde Konzentrationslager gebracht worden, wo sie eine „Umerziehung“ über sich ergehen lassen sollen. Manche überleben dies nicht. Die Kommunisten sind ihrer gesamten Führung beraubt und können wegen Verbots an der letzten Reichstagswahl im März 1933 nicht mehr teilnehmen. Demokratisch ist diese Wahl nicht mehr zu nennen, die Nazis bauen ihren Stimmenvorteil gegenüber der letzten Reichstagswahl noch aus, vor allem wegen des Verbots der KPD nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, den Hitler den Kommunisten in die Schuhe schiebt, sowie der Selbstaufgabe mehrerer Splitterparteien und der Verhaftung oppositioneller Politiker vor allem von den Sozialdemokraten. So bildet die NSDAP mühelos die weitaus stärkste Fraktion im Reichstag.
Es soll erwähnt werden, daß zahlreiche Mitglieder des Reichsbanners beim rechtskonservativen „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“, Unterschlupf finden und so zunächst vor dem Zugriff der Nazis geschützt werden. Die Führung des „Stahlhelm“, hauptsächlich der zweite Bundesführer Duesterberg, ist mißtrauisch gegenüber den Nazis und hofft wohl, dem „Stahlhelm“ mit der dadurch gewachsenen Mitgliederzahl mehr Gewicht zu verleihen. Aber den „Stahlhelm“ ereilt das gleiche Schicksal wie den nationalen Parteien, die mehr oder weniger zwangsweise sich selbst auflösen. Viele „Stahlhelm“-Mitglieder werden in die SA übernommen, so auch mein Onkel Dietrich Linnemann. Ähnlich ergeht es den Jugendorganisationen des „Stahlhelm“. Die Mitglieder des „Jungstahlhelm“ (Jungsta) werden in die Hitlerjugend (HJ), die „Scharnhorst“-Mitglieder in das „Deutsche Jungvolk“ (DJ) übernommen. Vater will nicht SA-Mitglied werden, ebensowenig mein späterer Schwiegervater Karl Heinrich Müller, der „Stahlhelm“-Landesführer gewesen ist. Die SA hat einen zu schlechten Ruf als Schlägertruppe.
Gleich nach der Machtübernahme der NSDAP fühlen sich minder begabte Dichter und Komponisten bemüßigt, den Fundus der „Kampflieder“ der Nazis mit einer Serie neuer Lieder zu bereichern, die jedoch – vor allem auf Betreiben des neu gebildeten „Ministeriums für Propaganda und Volksaufklärung“ – mit der Klassifizierung „Nationaler Kitsch“ bald wieder in der Versenkung verschwinden. Irgendein Dichterling hatte auch Verse zum „Badenweiler Marsch“ gedichtet, die wir im Musikunterricht in den Jahren 1933/34 noch auswendig lernen müssen. Sie waren eine Ode auf den „Führer“ Adolf Hitler, der den Badenweiler Marsch zu seinem Eigentum erkoren hatte. Es wird ein Gesetz beschlossen, wonach der Marsch nur noch in Gegenwart des Führers gespielt werden darf.*) Dadurch verschwindet auch diese „Dichtung“ aus dem nationalsozialistischem „Liedgut“. Der Bardenweiler Marsch wird fortan von Musikkapellen nur noch bei Paraden vor Hitler gespielt.
*) Während meiner Seefahrtzeit als Funkoffizier höre ich immer die im Morsefunk von der Küstenfunkstelle Norddeich Radio für die deutschen Schiffe gesendete Kurzausgabe des „Hamburger Abendblatt“, die ich mit der Schreibmaschine aufnehme und in Durchschlägen an Kapitän und Besatzung verteile. Am Schluß der täglichen Ausgabe gibt es noch irgendeine Glosse mit der Überschrift „Zu guter letzt“. In einer heißt es, daß – irgendwann in den 50er Jahren – eine Schützenkapelle von einem bayrischen Amtsgericht zu einer Geldstrafe wegen Abspielens des „Badenweiler Marsches“ verurteilt worden sei. Begründung: Es gelte Paragraph soundso des Strafgesetzbuches, wonach bei Strafandrohung für Zuwiderhandlungen der Badenweiler Marsch „nur in Gegenwart des Führers und Reichskanzlers“ gespielt werden dürfe.