Читать книгу Stete Fahrt, unstete Fahrt - Hans H. Hanemann - Страница 6
Ab 1923: Kindheit in Oldenburg
Оглавление„Handelsmarine“ – so nannte man früher die Gesamtheit der Seefahrer auf Handelsschiffen im Unterschied zur Kriegsmarine, die während der Zeit der deutschen Rüstungsbeschränkung nach dem Vertrag von Versailles „Reichsmarine“ genannt wurde. Auf einem Handelsschiff als Funkoffizier zu fahren ist mein jungenhafter Traumberuf. Allerdings gibt es in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Funkoffiziere nur auf Fahrgastschiffen. Auf Frachtschiffen, die mit einer Funkanlage ausgerüstet sind, wird der Funkdienst von einem der nautischen Offiziere betrieben, die dafür ein kleines Funkpatent während ihrer nautischen Ausbildung an den Seefahrtschulen erworben haben. Dies ändert sich allerdings nach dem Zweiten Weltkrieg, weil durch internationale und nationale Bestimmungen die Schiffsbesetzungsordnungen verschärft werden.
Mit etwa zehn Jahren fange ich an, mich für die Elektrotechnik zu interessieren. Alles, was mit Elektrizität zu leuchten oder in Bewegung zu bringen ist, erregt meine Aufmerksamkeit. Zunächst sind es nur Taschen- oder Handlampen, die von Batterien gespeist werden. Dann kommen elektrische Klingeln und auch kleine Motoren hinzu, die ebenfalls mit Batterien betrieben werden können. Unser erstes Radio erhält seine Stromversorgung aus einer sogenannten Anodenbatterie, die etwa jedes halbe Jahr erneuert und einem Akkumulator, der etwa alle zehn Tage wieder aufgeladen werden muß. Beides besorgt der Inhaber eines nahegelegenen Geschäfts für Papier- und Schreibwaren, der seine Kunden auch mit Aodenbatterien beliefert. Damit wir nicht auf das Radio während der etwa zweitägigen Ladezeit des Akkus verzichten müssen, erhalten wir einen Ersatzakku vom Papierwarenhändler. Interessant ist für mich, daß die Anodenbatterie, wenn sie für den Radiobetrieb unbrauchbar geworden ist, immer noch soviel „Saft“ besitzt, daß ich damit Taschenlampenbirnen oder Spielzeugmotoren betreiben kann, wobei manche kleine Glühlampe („Birne“) wegen zu hoher Spannung ihren Geist aufgibt. Aber es macht Spaß und ich lerne etwas über Elektrizität, Elektromagnetismus und die Arbeitsweise elekrischer Klingeln und Motoren. Meine Basteleien erregen die Aufmerksamkeit meines viel älteren Vetters, der ein gewiefter Radiobastler ist und mich für sein Hobby interessiert. Er schenkt mir einiges Radiobastlermaterial, u.a. einen Kopfhörer, den ich gleich an unserem Heimradio ausprobiere, was nicht gerade die Begeisterung der anderen Familienmitglieder weckt, da dann natürlich der Lautsprecher stumm bleibt. Unser Vater nimmt das aber nicht so tragisch. Er, der technisch völlig unbegabt ist, fördert meine Basteleien, als er merkt, daß mich die Technik wirklich interessiert und meint einmal zu unserer Mutter: „Wegen Hans‘ Zukunft brauche ich mir jedenfalls keine Sorgen zu machen.“
Geboren bin ich als fünftes Kind des damaligen Zahlmeisters Walter Hanemann und seiner Frau Helene, geb. Linnemann, am 26. Juni 1921. Meine Geschwister zur Zeit meiner Geburt sind Ilse Wilhelmine Dorothea Ella, geb. 1910, Ludwig Dietrich August (1912), Dorothea Helene (1913), Ernst August (EA,1920). Nach mir werden noch folgende fünf Geschwister geboren: Karl Walter (1922, gestorben 1923), Karl Wilhelm Helmut (1924), Wolfgang und Walter (1925) und Hella Margarete (1926). Vater ist bei meiner Geburt noch Angehöriger der alten kaiserlichen Armee und zusammen mit anderen Heeresbeamten mit ihrer Auflösung nach den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages beschäftigt. Er hofft, als Zahlmeister in die neu aufzustellende Reichswehr übernommen zu werden, die nach dem Friedensvertrag nur über eine Mannschaftsstärke von 100 000 Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere verfügen darf. Dazu kommt noch eine Marine von höchstens 15 000 Mann und wenigen veralteten Kriegsschiffen. Vaters Hoffnung auf Übernahme in die Reichswehr erfüllt sich jedoch nicht; er wird mit einer kleinen Abfindung und einer schmalen Pension, die nicht einmal zur eigenen Lebenshaltung, viel weniger zu der seiner Familie gereicht hätte, entlassen. Er erwirbt das Haus mit dem Feinkostgeschäft Luise Steinsiek, Oldenburg i. Oldb., Lange Straße 31. Hierzu steuert unsere Mutter den allergrößten Teil der Kaufsumme aus ihrem Erbteil bei. Ihr Vater, mein Großvater, ein selbständiger Maurermeister und Inhaber eines Baugeschäftes, ist kurz vorher gestorben und hat seinen Kindern ein kleines Vermögen hinterlassen. Es ist ohnehin das Klügste, das Geld in solch ein Projekt zu stecken, denn die folgende, 1923 galoppierende Inflation hätte den Wert des Erbteils sonst zunichte gemacht.
Mit neun Kindern sind wir eine sehr große Familie. Im Laufe des Ersten Weltkrieges blockieren britische Seestreitkräfte die deutschen Küstengewässer und lassen keine Versorgungsschiffe in deutsche Seehäfen. Diese Blockade hält bis zum Inkrafttreten des Friedenvertrages von Versailles im Oktober 1920 an. Eine Folge der durch die schon im Ersten Weltkrieg entstandene Lebensmittelknappheit ist das grassierende Auftreten von Rachitis bei Neugeborenen. Rachitis entsteht durch den Mangel an Vitamin D, wodurch der Calcium- und Phosphathaushalt im Neugeborenen und damit die Knochenbildung gestört ist. Vermutlich erhielt die Krankheit den Namen „Englische Krankheit“, weil die britische Seeblockade auch noch nach dem Waffenstillstand 1918 bis Oktober 1920 weiter besteht. Auch ich habe Rachitis, ebenso mein nächst älterer Bruder Ernst August (EA) und auch mein nächstjüngerer Karl Walter, der nur elf Monate alt wird. Ernst August, bis zu seinem etwa 12. Lebensjahr von uns „Bubi“ genannt, werden operativ beide Beine gebrochen und geschient, weil sie außerordentlich krumm zu wachsen drohen, eine allerdings sehr erfolgreiche Prozedur. Er wird später ein guter und kühner Sportler. Ich überstehe die Rachitis ohne chirurgischen Eingriff, darf mich allerdings erst mit drei Jahren richtig auf den Beinen halten.
In frühester Erinnerung erlebe ich mich in einem Gitterbett stehend und EA zusehend, der auf dem Fußboden unseres noch nicht vollständig eingerichteten „Salons“ sitzt und spielt. Plötzlich fällt ein großer Spiegel, der lose an der Wand lehnt, um und verletzt EA im Gesicht. Er blutet stark und ich fange laut an zu schreien. Die Eltern stürzen herbei, Vater nimmt EA auf den Arm und trägt ihn hinaus. EA hat seitdem, auch im späteren Alter, eine Kreuznarbe auf der linken Wange. Eine weitere frühe Erinnerung: Ich bin immer noch im Gitterbett, das im „Salon“ steht. Er ist der dem elterlichen Schlafzimmer nächstgelegene Raum. Mutter spricht auf die weinende Schwester Dorothea (Thea) ein, nimmt sie in den Arm und streicht ihr liebevoll übers Haar. Thea ist nur in der Ferienzeit bei uns, die Schulzeit verbringt sie seit Herbst 1923 bei den väterlichen Großeltern in Blankenburg am Harz, die eine Schlachterei betreiben und so ihren Sohn entlasten, aber auch wenigstens eins ihrer Enkelkinder bei sich haben möchten. Bis Sommer 1926 bleibt sie dort. Aus ihren späteren Erzählungen höre ich, daß sie bei den Großeltern drei glückliche Jahre verbringt. Doch der Abschied von Eltern und Geschwister zu Ende der Ferien fällt ihr jedesmal schwer. Bemerkenswert ist, daß sie ihren Großeltern nichts von der Existenz ihrer jüngeren Geschwister erzählen soll, was sie anscheinend tatsächlich durchhält, wobei sie wohl die Unterstützung der Tante Ella hat, der jüngeren von zwei Töchtern der Großeltern. Ella ist eine hübsche Frau, die unverheiratet im Hause bleibt, aber von der Thea erzählt, daß sie nie erlebte, daß die Tante und der Großvater je mit einander gesprochen hätten, wobei die Sprachverweigerung zwischen ihnen offensichtlich von der Tante ausgeht. Thea glaubt, da wäre wohl mal etwas zwischen beiden vorgefallen, was „besser unter der Decke gehalten“ wurde. Der Großvater, recht vermögend, war ein Lebemann, größzügig, zu allen leutselig und nahm es mit Sitte und Moral vielleicht nicht allzu genau. Zu Thea ist er immer liebevoll, sie ist für ihn „die Kleine“. Die Großmutter muß doch wohl ahnen – hat es vielleicht auch gewußt –, daß die Familie ihres einzigen Sohnes größer ist, als er zugeben will. Jedenfalls kommt recht häufig ein dickes Paket mit Würsten und anderen Erzeugnissen der Schlachterei aus Blankenburg an.
Weitere Erinnerungen: Meine älteste Schwester Ilse und Dorothea, die gerade aus Blankenburg bei uns in Oldenburg ihre Ferien verbringt, fahren mich in einem hohen Kinderwagen spazieren. Wir kommen an ein Bahngelände, es ist am Ende der Heiligengeiststraße, von wo es über die Bahngleisen zum Pferdemarkt geht. Wir sind auf dem Bahnweg der dicht vor dem Bahngelände in Richtung Hauptbahnhof verläuft und von den Gleisen durch einen Holzzaun abgesperrt ist. Die Schwestern bleiben stehen, gerade an der Stelle, wo der Zaun einen Knick nach rechts macht und wo es so aussieht, als wenn die vom Bahnhof abfahrenden Züge zunächst auf den Bahnweg hinzu fahren. Sie schwatzen miteinander und achten nicht weiter auf den Bahnbetrieb. Es kommt eine Lokomotive direkt auf uns zu, wie ich glaube; ich bekomme große Angst, daß sie uns überfährt und bitte die Schwestern, schnell weiterzugehen. Sie lachen mich aber nur aus und versuchen, mich zu beruhigen. Der Zug fährt an uns vorbei. Als ich ein Jahr später – mit vier Jahren – , schon richtig laufen kann, fahren die beiden großen Schwestern Ilse und Dorothea mit EA und mir in einem Bahntriebwagen nach Streek, vielleicht sechs bis sieben Kilometer vom Osternburger Bahnsteig entfernt in Richtung Sandkrug. In der Zeit gibt es dort noch viel freies, hügeliges Gelände mit fast weißen Sanddünen, ideal für Kinder zum Spielen. Die Schwestern bringen uns das Lied vom „Schneider Meck-Meck-Meck ...“ bei; mir sind Bruchstücke davon bis heute im Gedächtnis geblieben und immer, wenn ich daran denke, sehe ich noch das Gelände mit den Sandhügeln, die EA und ich mühevoll hinaufklettern, um uns dann wieder hinunterpurzeln zu lassen.
Unsere Mutter hat eine ledige ältere Verwandte in Apen im Ammerland. Tante Sophie ist häufig bei uns, um Mutter im Haushalt zu unterstützen, vor allem dann, wenn Familienzuwachs erwartet wird und noch einige Zeit danach. Sie ist eine fleißige und kinderliebe alte Frau, stets in einem langen dunklen Rock mit halblanger grau gemusterter Schürze und einer dunklen Bluse gekleidet. Sie trägt hohe, eng geschnürte schwarze Stiefeletten, immer blank geputzt, und auf dem Kopf eine schwarze Haube, unter der ein wenig silbrig weiße Haare hervorlugen. Sie läßt mich manchmal, wenn sie das Mittagessen zubereitet, im brennenden Küchenherd mit einem Schürhaken herumstochern. Zur besorgten Mutter sagt sie beruhigend: „Lat de Jung man schürn, Leni, ick paß schon op.“ Dies erzählt mir Mutter viel später, als ich schon zur See fahre. Einmal nimmt mich die Tante ein paar Tage mit nach Apen, wo ihr Bruder mit seiner Familie lebt und wo auch ihr eigentliches zu Hause ist. Ihr Bruder betreibt dort eine Landschmiedewerkstatt. Seine beiden Jungen spielen mit mir, indem sie mich in einen Bollerwagen setzen und dann mit mir in hohem Tempo über die Landstraße laufen. Nachts schlafe ich bei Tante Sophie im Bett mit einer riesigen Federbettdecke zum Überdecken.
Zu meinen weiteren frühen Erinnerungen gehört, daß sich das Leben auf der Straße – die Langestraße bildete zusammen mit den benachbarten Straßen das Zentrum Oldenburgs – in der Zeit von 1924 bis nach 1933 sehr politisch abspielt. Häufig sind die Häuser beflaggt, die meisten mit den oldenburgischen Farben Blau-Rot, den Stadtfarben Gelb Rot Gelb Rot Gelb oder den alten, nicht mehr rechtmäßigen Reichsfarben von 1871 Schwarz-Weiß-Rot. Kaum ein Haus zeigt die republikanischen offiziellen Reichsfarben Schwarz-Rot-Gold. Auch die alte Fahne unseres Hauses, die bei nationalen Feiertagen aus dem obersten Fenster gehisst wird, zeigt die Farben Schwarz-Weiß-Rot. Die schwarze Farbe ist allerdings schon reichlich verschlissen und sieht eher dunkelgrün aus, wenn man genau hinsieht. Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wird von den meisten Bürgern als Deutschlands Glanzzeit gesehen, der nach dem Krieg nach Holland geflohene Kaiser Wilhelm II. wird immer noch als der eigentliche legitime Herrscher des Reiches verehrt. Auch in unserem Haus hängt auf halber Treppe das Konterfei des Kaisers mit einem Adler auf seinem Helm. So ließ sich Wilhelm II. gern porträtieren. Von den politischen Linken wird er allerdings spöttisch „Wilhelm, der Holzhacker“ genannt. Er soll sich in seinem Asyl auf Schloß Doorn in Holland vorzugsweise mit der Versorgung seines Anwesens mit Heizmaterial beschäftigen und wirft die Holzscheite, die ihm seine Arbeiter auf schubkarren bringen, in hohem Bogen in den Holzschuppen. Er und seine Gemahlin, die ‚Kaiserin‘, legen Wert darauf, von allen Bediensteten und Besuchern des Anwesens mit „Majestät“ angesprochen zu werden.
An Stelle des Kaisers ist in der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg entstandenen Weimarer*) Republik der Vorsitzende der Sozialdemokrarischen Partei, Friedrich Ebert, als Reichspräsident getreten, von der Nationalversammlung 1919 gewählt und 1922 vom Reichstag bestätigt unter Verzicht einer Volkswahl. Obwohl ein kluger Vermittler zwischen den verschiedenen und divergierenden politischen Interessen im Reich wurde ihm im Laufe seiner Amtszeit immer weniger Achtung entgegen gebracht und er war mehrmals genötigt, die Gerichte wegen gehässiger Verunglimpfung und persönlicher Beleidigung durch seine politischen Gegner anzurufen. Er starb im Februar 1925. An seine Stelle wurde in einer Volkswahl mit Unterstützung der Rechtsparteien der ehemalige kaiserliche Generafeldmaschall Paul von Beneckendorf und Hindenburg zum Reichspräsidenten gewählt. Ihm wurde im Laufe seiner Amtszeit wie ein Ersatzkaiser gehuldigt; er
war der legendäre „Sieger von Tannenberg und Masuren“, wo er 1914 mit seiner Armee die anstürmenden russischen Armeen zurück schlug. Von manchen Sachkennern wird allerdings das Verdienst des Sieges seinem Generalstabschef, General Ludendorff, zugebilligt. Jedenfalls war mit Hindenburg ein Mann an die Spitze des Reiches getreten, dem die nach der anfänglich republikanischen Euphorie mehrheitlich monarchisch gesinnte Bevölkerung eher zutraute, Deutschland nach dem „Schandvertrag von Versailles“ wieder mehr Ansehen in der Welt zu verschaffen als ein demokratischer Politiker, von welcher Partei er auch sein mochte, wobei unter „Ansehen in der Welt“ vor allem der Respekt vor militärischer Macht verstanden wurde. Hindenburg hat zwar zu Beginn seiner siebenjährigen Amtszeit den Eid auf die Verfassung des Deutschen Reiches geleistet, bekannt als die „Weimarer Verfassung“ und am 11. August 1919 in Kraft getreten, hat aber kein Liebesverhältnis zu der in der Verfassung festgelegten Demokratie. Praktisch bricht er den 1932 nach seiner Wiederwahl erneut geleisteten Eid mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933.
*) In Weimar wurde am 11. August 1919 die Verfassung des Deutschen Reiches (als Grundgesetz) von einer demokratisch gewählten Nationalversammlung beschlossen.
Ich erinnere mich an den Besuch Hindenburgs in Oldenburg kurz nach seiner ersten Wahl zum Reichspräsidenten 1925. Er war lange vor dem Ersten Weltkrieg Kommandeur des Infanterie Regiments 91 in Oldenburg gewesen, dessen Veteranen ihn mit Unterstützung der in Oldenburg stationierten Reichswehr zu einer Jubelfeier einluden. Die Straßen, die er in seiner von sechs Pferden bespannten offenen Kutsche passiert, darunter auch unsere Langestraße, sind mit Girlanden über den Straßen geschmückt, alle Häuser sind beflaggt, die Bürgersteige voll von Menschen, die von einer Polizei- und Reichswehrsoldatenkette zurück gehalten werden und die bei seiner Vorbeifahrt laut „Hoch Hoch Hoch“ rufen, wobei der „Greise Feldmarschall“, wie er in den nationalen Zeitungen gern genannt wird, ständig seinen Hut abnimmt und den Menschen, die ihm auch aus den offenen Fenstern der Häuser zujubeln, mit halb erhobener Hand zuwinkt. Da ich noch klein bin und nicht über die Fensterbrüstung sehen kann, hat mich einer meiner beiden Onkel, die auch zugegen sind, um an dem Ereignis dabei sein zu können, hoch gehoben und, mich festhaltend, auf die Fensterbank gestellt.
EA hat viel vom vergangenen Krieg, dem Ersten Weltkrieg, aufgeschnappt und erzählt mir darüber. Er singt mir vor „Siegreich woll’n wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapf’rer Held ...“. Ich singe es ihm nach, verstehe das aber als Frage „Siegreich, woll’n wir Frankreich schlagen?“ Warum soll Siegreich Frankreich schlagen? Was hat Frankreich ihm denn getan? „Das verstehst du noch nich, da bist du noch viel zu klein für“, erwidert EA stolz, als ich ihn frage, warum wir mit Siegreich Frankreich schlagen sollen und wo denn Siegreich und Frankreich sind. Und sterben will ich auch nicht und auch kein tapferer Held sein. „Jeder Mann muß in den Krieg“, behauptet EA auf meine Frage, wer denn den Krieg macht, und warum die sich dann tot schießen und daß ich darum später nicht in den Krieg gehen will.
Solche Lieder, die den Krieg verherrlichen, werden nach dem Ersten Weltkrieg auch von Erwachsenen noch gesungen, als ob man die Schmach des verlorenen Krieges 1918 ungeschehen machen könnte durch einen neuen Krieg gegen Frankreich. Erst später lerne ich, daß dieses Lied 1914 von den einrückenden Soldaten, wenn nicht schon 1870/71 im Krieg gegen Frankreich, gesungen worden war.
Als ich einmal an unserem großen Mittagstisch naiv und ohne irgendwelches Verstehen frage, ob eine Frau auch ein Kind bekommen könne, wenn ihr Mann im Kriege wäre – vom vergangenen Krieg war ja bei uns häufig die Rede – , werden die Erwachsenen böse und verbitten sich solche Fragen. Selbst der älteste Bruder Ludwig empört sich scheinheilig. Er ist nicht wirklich prüde und hätte mich sicher unter vier Augen aufgeklärt. Gespräche über Kinder bekommen sind in unserer Familie und ebenso in uns bekannten Familien tabu. Sexualität und alles, was dazu gehört, werden in Gesprächen peinlich vermieden, zumindest nicht beim Namen genannt, jedenfalls nicht zwischen Eltern und Kindern. Daß unser „Dienstmädchen“ Grete uns beim sonnabendlichen Baden hilft, scheint unseren Eltern jedoch nichts auszumachen. Grete ist da wohl für sie eine Art Neutrum.
Wir haben nacheinander verschiedene „Dienstmädchen“, so werden Hausgehilfinnen in dieser Zeit genannt. Hanni kommt aus Brake. Sie fährt oft sonnabends nach Hause zu ihren Eltern und einmal darf sie mich mitnehmen. Abends geht sie mit einer Freundin und mit mir an der Hand noch an der Weser spazieren und die beiden Mädchen unterhalten sich eine Weile unter viel Gelächter mit einem Seemann auf einem angelegten Schiff, das mir damals riesig vorkommt. Wahrscheinlich ist es ein Kümo*), das entladen war, darum wenig Tiefgang hat und deshalb hoch über der Wasseroberfläche ragt. Es ist das erste Mal, daß ich ein Schiff sehe und es macht einen ungeheuren Eindruck auf mich. Ich denke, auf solch einem Schiff möchte ich später, wenn ich groß bin, auch gern leben. Von der Seefahrt weiß ich aber noch nichts. Daß ich einst auf größeren Schiffen leben und fahren würde, liegt ja noch in weiter Ferne.
*) Küstenmotorschiff, von Seeleuten auch Klütenewer genannt. Ewer waren früher ein- oder zweimastige Küstensegler mit flachem Boden, die neben dem Schiffsführer nur ein oder zwei Mann Besatzung hatten. Klüten sind Kartoffel- oder Mehlklöße. Auf dem „Klütenewer“ soll es nur Klöße zum Essen gegeben haben, weil der Schiffseigner, häufig der Schiffsführer selbst, aus Geiz seinen Leuten kein besseres Essen bieten wollte.
Eines unserer „Dienstmädchen“ heißt Alma. Sie ist groß und schon etwas älter. Bei EA, meinem nächst jüngeren Bruder Karl Wilhelm (KW) und mir ist sie sehr beliebt, weil sie sich viel mit uns beschäftigt. Leider heiratet sie aber bald und wohnt dann in der Kurwickstraße, knapp fünf Minuten von uns entfernt. Wenn ich mittags von der Grundschule komme, sehe ich häufig zu ihr hinein und wir unterhalten uns dann und ich erzähle ihr von der Schule und dem, was ich wieder gelernt habe. Alma arbeitet in einem zur Straße offenen Raum, der wohl noch zum Gasthof „Zum Grafen Anton Günther“ gehört. Sie hört mir immer interessiert zu und fragt mich auch manches. Einmal fällt etwas auf das Straßenpflaster, was wie der Rest eines Frühstückeis aussieht und ich rufe „Oh guck mal, der liebe Gott hat ein Ei gegessen“ und ich verstehe gar nicht, warum Alma und die anderen Leute, die in der Nähe sind, darüber laut lachen müssen. Ein anderes Dienstmädchen ist nur kurze Zeit bei uns; Vater wirft sie unter heftigem Schelten hinaus. Sie hat gestohlen und ist, als die Eltern es merken, noch unverschämt geworden. Zuletzt kommt Grete, die dann mehrere Jahre bei uns ist und eigentlich nach kurzer Zeit fast zur Familie gehört. Sie ist vielleicht fünfzehn, höchstens sechzehn Jahre alt, als sie aus Ostfriesland zu uns kommt. Ich sehe sie noch, wie sie eines frühen Abends am Küchenherd steht und EA, KW und ich alles Mögliche von ihr wissen wollen und sie ein bißchen schüchtern und verlegen versucht, unsere Neugierde zu befriedigen. Wir mögen sie gern und auch die Eltern sind sehr zufrieden mit ihr. Als sie nach vielleicht zwei Jahren die Stellung wechseln will, lassen die Eltern sie ungern gehen und Vater sagt zum Abschied zu ihr: „Grete, Sie kommen wieder, das weiß ich.“ Er behält Recht, sie ist nach kurzer Zeit wieder da und bleibt bei uns bis zu ihrer Verheiratung mehrere Jahre später.
Grete hat eine ältere Schwester, Käthe, die auch in Oldenburg „in Stellung“ ist. Abends besucht sie Grete manchmal. Zum Oldenburger Kramermarkt im Frühherbst hat sich eine Gesangsschaustellergruppe auf der Heiligengeiststraße aufgestellt, die den Menschen Texte mit „Tränenliedern aus der Küche“ *) und Schlagern verkauft und ihnen dann gleich die Melodien dazu beibringt, immer nur, wenn genügend Geld hereingekommen ist, was manchmal dauert.*) Grete und Käthe sind auch einmal mit Begeisterung dabei und sie singen zusammen am nächsten Spätnachmittag in unserer Küche das Lied vom Fremdenlegionär „Gefangen in maurischer Wüste“ und das vom ‚Negersklaven‘ „Nach der Heimat möchte ich eilen“. Meine Schwester Ilse begleitet sie dabei auf der Ziehharmonika. Sie hat sich eine Hohner gekauft und nimmt zu der Zeit Unterricht bei der Frau vom Inhaber des Musikhauses Ursin, nur wenige Meter von unserem Haus entfernt.
*) Den Titel „Tränenlieder aus der Küche“ habe ich einer Schallplatte mit dem gleichnamigen Titel aus der Europaserie, Ausgabe E373, entnommen.
Ich bin mit Ilse auf dem Cäcilienplatz, wir hören Chormusik aus dem nahe liegenden Theater. Es wird die Oper „Cavalleria Rusticana“ von Pietro Mascagni geübt, wie die vom Theater begeisterte Schwester mir erklärt. Ein anderes Mal sitze ich im Garten der Eltern von Annemarie, Ilses Freundin. Ich lese „Robinson Crusoe“, aus dem Hause ertönt Radiomusik, eine Frauenstimme singt ein Lied, das mich etwas traurig berührt. Es ist „Solveighs Lied“ aus der Musik zu „Peer Gynt“ von Edvard Grieg. Irgendjemand sagt es mir, als ich danach frage. Als einmal im Radio etwas aus der Oper „Cavalleria Rusticana“ angesagt wird, frage ich den gerade anwesenden ältesten Bruder Ludwig, was das heiße, und er antwortet spontan „Russische Kavallerie“. Ilse lacht, als ich es ihr erzähle: „Ja, Ludwig und die Musik“. Klassische oder Opernmusik gehören nicht zu Ludwigs Neigungen. Für ihn sei der Lärm von Rennmotorrädern genauso schöne Musik wie für mich der „Bolero“ von Ravel, meint er viele Jahre später einmal zu mir. Trotzdem vertragen wir uns, auch bei größeren Meinungsunterschieden.
Meine Schwester Ilse liebt das Theater und möchte selbst gern Schauspielerin werden. Ihr Vorbild ist die berühmte junge Schauspielerin Elisabeth Bergner*), für die viele junge Mädchen in der Zeit schwärmen. Ilse hat mehrere Fotografien von der Bergner aus deren verschiedenen Filmrollen in ihrem Zimmer an der Wand hängen oder auf ihrem Schreibtisch stehen. Sie selbst versucht sich zu kleiden und ihr Haar zu frisieren nach dem Bild ihres Idols. Sie nimmt sogar auf eigene Kosten Schauspielunterricht bei dem Dramaturgen Dr. Uhlenbruch in Oldenburg. Ilse überredet mich, an den Proben und der Aufführung des Kindersingspiels „Wir bauen eine Stadt“ von Paul Hindemith – ein Projekt von Dr. Uhlenbruch – teilzunehmen. Etwa im Februar oder März 1933 verbietet auf Betreiben des damaligen nationalsozialistischen oldenburgischen Ministerpräsidenten Karl Röver die Landesregierung jede Weiterarbeit an dem Projekt. Hindemiths Kompositionen und Opern sind bei den Nazis verfemt und gehören für sie zur von ihnen so genannten „Entarteten Kunst“.
*) Elisabeth Bergner (eigentl. Ettel) geb. 22. August 1897 in Drohobycz/Galizien, gest. 12. Mai 1986 in London. Die Bergner war eine aparte, äußerst talentierte Schauspielerin und in den zwanziger und dreißiger Jahren der Schwarm fast aller Theater- und Filmliebhaber, besonders der jungen. Sie spielte an den großen Bühnen in Wien, Zürich. München, London und Berlin. 1933 kehrte sie von Filmaufnahmen in London nicht nach Deutschland zurück und übersiedelte nach Kriegsbeginn in die USA. Erst Jahre nach dem Krieg spielte sie wieder in Deutschland und auch in großen Rollen im Fernsehen. (Quelle: Wikipedia)
Unsere Mutter sieht Ilses Schauspielambitionen sehr skeptisch und versucht alles, sie davon abzubringen. Eines Nachmittags, nach einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Mutter und Ilse, schließt die sich im Badezimmer ein, läßt warmes Wasser in die Badewanne einlaufen, löscht die Flamme des Gasofens und steigt in die Wanne. Mutter hat den richtigen Verdacht und, nachdem sie feststellt, daß das Badezimmer verschlossen ist und sie nur noch Ilses leises Stöhnen hört, holt sie unseren ältesten Bruder Ludwig zu Hilfe. Der verschafft sich Zutritt zum Flachdach des Nachbarn, das auf fast gleicher Höhe unseres Badezimmerfensters liegt, schlägt mit einem Brett das Badezimmerfenster ein und kann dann in das Zimmer einsteigen, wo er die Tür öffnet, Ilse aus der Wanne hebt und sie ins Nebenzimmer bringt. Die herbeigeholte Ärztin stellt bei Ilse eine leichte Leuchtgasvergiftung fest und überweist sie ins Krankenhaus, von wo Ilse nach ein paar Tagen entlassen wird. Ich bekomme das, was da passiert ist, deswegen mit, weil ich als Einziger von uns anderen Geschwistern im Hause bin, niemand sich jedoch während dieser Ereignisse mit mir beschäftigt. Ich versuche danach, Ludwig mit meinen Fragen, was da los war und wohin Ilse gebracht worden sei, zu löchern. Ludwig bleibt zuerst zurückhaltend, erzählt mir aber etwas später, daß Ilse einen Unfall gehabt hätte und nun im Krankenhaus sei. Viele Jahre danach, Anfang des Krieges, Ludwig ist Unteroffizier der Wehrmacht und wegen einer Verletzung Rekonvaleszent im Wehrmachtslazarett Kreyenbrück, erzählt er mir, als ich ihn daran erinnere, was damals mit Ilse passiert war, daß sie einen Selbsttötungsversuch unternommen hätte, weil sie ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, nicht durchsetzen konnte. Er glaubt aber nicht, daß sie sich wirklich umbringen, sondern sich vor allem bei Mutter durchsetzen wollte. Nach dem Vorfall gibt Ilse ihr Vorhaben auf und die Eltern richten ihr auf dem Dachboden aus der alten Gerümpelkammer ein schönes kleines Wohn- und Schlafzimmer ein, in dem sie ihr eigenes Reich hat. Ihre Liebe zum Theater und zur Schauspielerei behält sie jedoch bei. Zwischen Ilse und Ludwig entsteht nach dem Vorfall ein besonders inniges und vertrautes Verhältnis trotz ihrer völlig unterschiedlichen Interessen.
An demonstrative Umzüge von vaterländischen Verbänden, Parteien, Kommunisten und anderen „linken“ Organisationen, hauptsächlich Gewerkschaften, erinnere ich mich; die Nazis sind erst in den späten zwanziger Jahren in Oldenburg dabei. Die Atmosphäre hat häufig etwas Revolutionäres und auch Kriegerisches an sich. Vater besitzt einen Gummiknüppel im Geschäft, der unter dem Tresen versteckt ist, weil er Überfälle von „vaterlandslosem Gesindel“ befürchtet, womit er vor allem Kommunisten meint. Es passiert jedoch nie etwas. Vater ist Mitglied des „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“, einer nationalistischen und militaristischen Vereinigung ehemaliger Angehöriger der kaiserlichen Armee, die im Ersten Weltkrieg in einer der kämpfenden Einheiten Dienst getan hatten. Damit ist er aber auch ein erklärter Gegner aller demokratischen und sozialistischen Parteien und Ideen. Kommunisten sind für ihn fast Kriminelle und „vaterlandsloses Gesindel“ deswegen, weil für sie die Sowjetunion das „Vaterland der Werktätigen“ ist. Seine Abneigung gegen Kommunisten hindert ihn jedoch nicht daran, einmal in der Woche einem Mitglied der KPD deren Parteizeitung „Die Rote Fahne“ abzukaufen und mit ihm zu diskutieren.
Mit fünf Jahren komme ich in den Kindergarten, meine Erinnerungen daran sind nicht sehr gut. Das gemeinsame Frühstück mit warmer Milch, die ich nicht mag, das Pipimachen unter Aufsicht. Eine Kindergärtnerin hält einmal mein Glied, wohl damit ich nicht auf den Rand der Klobrille pinkel, und fragt mich, warum mein Urin so hell sei, ob ich viel Wasser getrunken habe. Sie hält Wassertrinken wohl für ungesund. Ich bin sicher kein braver Junge im Kindergarten und werde manchmal mit Eckenstehen und Eintragungen ins „Schwarze Buch“ bestraft, was man mir ausdrücklich unter die Nase hält, obwohl ich ja noch nicht lesen kann. Als ich mich schließlich zuhause weiger, weiter in den Kindergarten zu gehen, ändert sich die Lage für mich spontan: Ich werde plötzlich zu einem der Lieblinge der Kindergärtnerinnen und auch ins „Goldene Buch“ eingetragen, was man mir natürlich auch zeigt. Vater hat wohl ein Machtwort mit der Leiterin gesprochen.*) Ein halbes Jahr später, als ich schon die erste Klasse der Grundschule besuche, zieht es mich noch ein paar mal an den Ort meiner kindlichen Leiden und Freuden zurück, besuchsweise. Die Vergangenheit wird anscheinend auch im kindlichen Gemüt schon als etwas zwar Überwundenes, unbewußt aber auch als etwa unwiederbringlich Verlorenes gefühlt. Im Kindergarten wird mir auch zum ersten Mal der körperliche Unterschied zwischen Jungen und Mädchen bewußt, obwohl man diesen Unterschied streng vor unseren Blicken zu verbergen sucht. Jedenfalls wird hier meine Neugier und auch ein Verlangen nach Berührung („Anfassen“) geweckt.
Ein Kinderlied, gelernt im Fröbelschen Kindergarten in Oldenburg im Jahr 1927:
Wer will unter die Soldaten
Der muß haben ein Gewehr
Der muß haben ein Gewehr
Das muß er mit Pulver laden
Und mit einer Kugel schwer.
*) Bei der viele Jahre späteren Lektüre des Romans „Feldmünster“ von Franz Graf Zedtwitz dachte ich an eine gewisse Parallelität der Erlebnisse des Jesuitenzöglings Robert Neitperg zu den meinen.
Einmal spiele ich mit einigen anderen Jungen am Wall, der hinter dem Spazierweg abschüssig zum Stadtgraben, der Haaren, verläuft, sodaß wir bei Hochwasser direkt ans Wasser gelangen können. Wir finden an der Böschung eine Art weißen, fast durchsichtigen Gummischlauch, der nur eine Öffnung mit einem steifen Ring umzu hat, so daß wir den „Schlauch“ mit Wasser und kleinen Fischen, Stichlingen, die wir in der Haaren fangen, füllen können. Mit unserem Fang gehen wir durch die Langestraße bis zu unserm Haus. Unterwegs sprechen uns einige Erwachsene an, etwa: „Da habt ihr aber einen tollen Fang gemacht“, und lachen dabei. In unserem Haus angekommen, sieht mich unser Vater entsetzt an, nimmt mir den tollen Fang weg, läuft zur Toilette und schüttet das Wasser mit den Fischen und dem „Schlauch“ hinein, ohne sich noch weiter um mich und meine Spielgefährten zu kümmern. Unsere Mutter ist ahnungslos und will von Vater wissen, was das denn sei. Vater erklärt ihr etwas, was ich nicht verstehe. Später sagt mir ein größerer Junge, der das alles mitgekriegt hat, der „Schlauch“ sei ein „Pidelüberzieher“ gewesen. Wozu der gebraucht würde und warum er dort am Ufer der Haaren lag, kann uns der Schlauberger trotz vieler Worte auch nicht verständlich erklären. Später zeigt mir mein Freund Kurt eine leere Packung „Fromms Akt“ mit einer Beschreibung der Anwendung, die irgend etwas über die Verhütung von Krankheiten enthält. Daraus können wir uns überhaupt keinen Reim machen. Wie sollen wir auch, solange wir nicht wissen und nicht wissen dürfen, was Mann und Frau manchmal miteinander treiben, wenn sie allein sind.
Obwohl seit Sigmund Freuds Erkenntnissen frühkindliche Sexualität kein Tabuthema mehr hätte sein sollen, war sie das dennoch in den meisten bürgerlichen und noch mehr kleinbürgerlichen Familien. So werden auch wir erzogen, vor allem wir Jungen in der Familie. In unserem Bekanntenkreis ist es nicht anders. Wenn die Eltern Selbsbefriedigung bei uns feststellen oder auch nur ahnen, gibt es Drohungen mit dem Doktor und mit „abschneiden“. In klassenbewußten Arbeiterfamilien, die den Sozialdemokraten oder Kommunisten oder ihnen nahestehenden Vereinen und Gruppierungen angehören, gibt es weniger Prüderie. Jugendliche beiderlei Geschlechts gehen zusammen auf Fahrt, praktizieren auch Freikörperkultur und bisweilen auch „freie Liebe“, ohne sich direkt auf Sigmund Freud und seine Schüler zu berufen. Dies ist aber nicht allgemein bekannt und in den bürgerlichen und nationalen Gesellschaften bis hin zu den Nationalsozialisten streng verpönt und wird als unsittlich und jugendverderbend denunziert, woran die beiden Kirchen großen Anteil haben.
Meine Geschwister und ich. Linkes Bild: ich, Ernst August und Karl Wilhelm.
Rechtes Bild mit meinen älteren Schwestern Dorothea (links) und Ilse.
(Die Fotos wurden im Sommer 1928 auf dem Hof unserer Onkel Linnemann aufgenommen)
Wir werden von unserer Mutter angehalten, beim Zubettgehen ein Kindergebet herzusagen: „Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm“ oder „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein“. Ich kann nicht behaupten, daß diese Gebete mir zu Herzen gehen. Wenn Mutter uns zu Bett bringt, beten wir pflichtschuldigst; bei den älteren Schwestern oder den Dienstmädchen albern wir auch schon dabei. Später, als wir zur Schule gehen, schläft das Beten ein.
Unser Vater war nicht zum Beten, auch nicht zum Kirchgang aufgelegt. Nur an militärischen „Feldgottesdiensten“ während der kurzen Zeit der „Republik von Weimar“ nahm er Teil. Sie wurden vor Hitlers Machtübernahme häufig vom „Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten“, in dem Vater Mitglied war, und von anderen „Vaterländischen“ Verbänden abgehalten. Mutter hatte zumindest bis zum Kriegsausbruch 1939 kaum irgendwelche Zweifel an christlicher Religion gezeigt. Später fing sie an, darüber nachzudenken und auch ihre Zweifel mitzuteilen. Wenn ich während meiner Seefahrtzeit auf Urlaub war, erzählte sie mir hiervon, vor allem wohl, weil sie wußte, daß ich mich für indische und fernöstliche Religionen und deren Philosophien, vor allem aber für den Buddhismus, interessierte. Hierzu hatte sie gewiß auch den Grundstein gelegt: Zum Weihnachtsfest 1947 hatte sie mir aus dem Nachlaß von Bruder Walter, der noch in den letzten Kriegstagen gefallen war, das Buch „Brahma und Buddha“ des bekannten Indologen Helmuth v. Glasenapp geschenkt.
Nach dem Tode unseres Vaters Weihnachten 1959 hatte Mutter häufig Besuch des Gemeindepastors, mit dem sie über ihre Zweifel am christlichen Glauben sprach und sich mit ihm darüber unterhielt. Einmal war ich während eines Urlaubs mit dabei, und ich merkte, daß auch der Pastor seine Zweifel hatte. Meinen Einlassungen aus buddhistischer Sicht entgegnete er nichts, fand sie im Gegenteil bedenkenswert. Er hatte sich wohl auch in seiner Studienzeit unter Anderem damit beschäftigen müssen. Nach dem Besuch des Pastors meinte Mutter, daß es bei manchen Gläubigen wohl viel Aberglaube gäbe, zum Beispiel den an einen Teufel und einer brennenden Hölle. Dazu erzählte sie mir folgende Geschichte: In den Jahren nach 1850 wurde die Oldenburger Eisenbahn um eine weitere Strecke von Bad Zwischenahn nach Apen im Ammerland erweitert. Die Einweihung dieser neuen Strecke sollte an einem Sonntagvormittag mit einer großen Feier und der Jungfernfahrt von Oldenburg über Zwischenahn und Augustfehn bis zur Endstation Apen erfolgen. Der Schmiedemeister Schliep in Apen, ein Onkel meiner Mutter, will sich dieses Ereignis nicht entgehen lassen und nimmt seine Familie in einem Einspänner mit nach Augustfehn, um zu erleben, wenn die Bahn hier vorbeikommt und eine Pause einlegt. Mit dabei ist auch seine alte unverheiratete Tante, die noch sehr fromm und gottesfürchtig ist. Nachdem die Familie mit vielen anderen bäuerlichen Zuschauern eine Weile an der Bahnstrecke gewartet haben, kommt schießlich die Lokomotive mit lautem Puffen, Fauchen und viel schwarzem Qualm und Feuer aus dem Schornstein angezockelt. Die alte Tante reißt die Augen auf, fällt vor Schreck auf ihre Knie und mit hoch erhobenen Händen, den Blick zum Himmel gewendet, jammert sie lautstark: „Min leewe leewe God, wat hebb ik verbroken, dat ik dat noch belewen mutt!“
Der „Marstall“, ehemaliger großherzoglicher Pferdestall am Schloßplatz, brennt eines Abends völlig aus. EA kommt mit der Nachricht ins Jungenschlafzimmer auf dem Dachboden, in dem zu der Zeit Ludwig, EA und ich schlafen. Da EA gleich wieder verschwindet, Ludwig sowieso erst viel später schlafen geht, bin ich allein und bekomme furchtbare Angst und glaube, den Feuerschein aus dem Fenster sehen zu können. Ich verkrieche mich unter die Bettdecke. Später erkenne ich, daß es nicht der Feuerschein gewesen sein kann, den ich zu sehen glaubte, denn in der Richtung zum Marstall stehen mehrere hohe Nachbarhäuser. Es war wohl der Halo des vom Giebel eines dieser Häuser verdeckten Mondes gewesen, den ich für den Schein des Feuers hielt. Etwas später spiele ich mit anderen Kindern auf dem Schloßplatz, der noch auf einer Seite von einer Mauer der Ruine des Marstalls begrenzt ist. Plötzlich bricht ein riesiges Stück aus der Oberkante der Mauer und fällt mit dumpfem Krach zu Boden. Die Stelle vor der Mauerruine war noch nicht gesichert. Zum Glück wird keines von uns Kindern getroffen.
Mitte der zwanziger Jahre schaffen sich die Eltern ein Grammophon an. An einige alte Schallplatten kann ich mich noch gut erinnern:
Ich hab zu Haus ein Gra, ein Gra, ein Grammofon,
Das macht so schön Trara, Trara, Na Sie wissen schon.
Man steckt die Nadel rein, gleich fängt es an zu schrein.
Die größte Sensation ja das ist mein Grammophon ....
Oder
Die schöne Adrienne, tschingtaratatatatataradio,
Hat eine Hochantenne, tschingtaratatatatataradio,
Aus aller Herren Länder, tschingtaratatatatataradio,
Empfängt sie hundert Sender, trara trara traradio ...
Ich habe anfangs vor dem Kasten eine gewisse Scheu, weil auf meine Frage, wie denn die Musik in den Apparat hineinkomme, Ilse oder Thea mir erzählt, daß darin ein kleiner Mann säße, der die Musik mache. Kurz darauf träumt mir nachts, ich stecke eine Hand in den Trichter und kann sie nicht wieder herausziehen. Sie wird festgehalten. Es ist ein Albtraum. Ich wache schreiend auf, die Eltern kommen sofort und beruhigen mich. Vater sagt mir, daß die Geschichte mit dem kleinen Mann im Grammophon gar nicht wahr ist und die Schwester mich nur angeführt hätte. Jahre später – die Eltern haben sich inzwischen ein Radiogerät angeschafft und das Interesse an Grammophonmusik verloren – beschäftige ich mich näher mit dem Apparat und den Schallplatten, deren Tonrillen ich mit der Lupe untersuche, und kann mir dann ungefähr vorstellen, wie das Abspielen funktioniert. Folgerichtig schließe ich, daß man das Grammophon auch als Schallaufnahmegerät verwenden können müßte: Da am Anfang und am Ende der Schallplatten mehrere Rillen frei sind, schreie ich beim Ablauf dieser noch nicht bzw. nicht mehr bespielten Rillen in den Trichter hinein, und siehe da: mein Geschrei hat sich verewigt. Die Wiedergabe ist zwar bedeutend leiser als die einer Aufnahme der Schallplatte, aber doch deutlich zu hören. Nur meine Schwester Ilse zeigt eine gewisse Bewunderung dafür, daß ich überhaupt die Idee habe.
Unser Elternhaus, Langestraße 31 in Oldenburg (Oldb) , in dem sich heute ein Cafe befindet, ist für EA und für mich ein Haus, in dem es immer wieder etwas zu entdecken gibt. Der lange Keller, der unter dem überdachten Hof in der hinteren Hälfte des Hauses über eine Kellertreppe erreicht werden kann, wo in seinem vorderen Teil in einem separaten Raum Schränke zum Lagern von Käselaiben stehen, die Türen der Schränke mit Drahtnetzen versehen zum Schutze vor Mäusen, dieser Raum ist eigentlich für uns Jungen tabu; der Kellergang daneben führt an dem Käseraum vorbei in einen mittleren Teil, in dem Brennmaterial – Torf, Kohlen und Briketts – gelagert wird, das die Arbeiter der Brennstoffhandlung von der Häusing aus durch das Kellerfenster in diesen Teil des Kellers schütten. Weiter führt der Gang an dem Brennstoff vorbei fast bis unter die Langestraße, wo sich am Ende rechter Hand ein gekachelter Raum befindet, in dem noch viel Material von der Vorbesitzerin des Geschäftes für Feinkost, Luise Steinsiek, lagert und das unser besonderes Interesse weckt. Pakete von Stearinkerzen, die Frau Steinsiek früher wohl auch zu verkaufen und vielleicht auch im Ersten Weltkrieg gehortet hatte, viele Rollen mit Bindfaden, Rollen mit Packpapier, Schachteln und Kästen verschiedener Größen und vieles andere. EA und ich zünden erst einmal ein paar Kerzen an, wenn wir den Raum aufsuchen, und wühlen dann in den Schätzen. Von der Deckenwölbung her hört man das Getrippel der Fußgänger auf der Straße über uns und auch hin und wieder das Poltern eines fahrenden Autos oder eines Pferdefuhrwerks, von denen es in dieser Zeit noch viele gibt, jedoch noch nicht viele Kraftwagen. Manchmal raschelt es in den Dingen, die an den Wänden gestapelt sind, eine Maus, die sich in ihrer Ruhe durch uns gestört fühlt. Allein hätte ich mich aber nicht in den dunklen Keller getraut. EA ist immer sehr mutig und hat vor nichts Angst. Er steigt auch ohne mich in den Keller bis hinten in den Abstellraum und holt sich etwas zum Basteln.
Das Haus Oldenburg, Langestraße 31, bevor es meine Eltern 1921 zusammen mit dem Feinkostgeschäft erwarben
Manchmal zieht EA mich wegen meiner Furchtsamkeit auf und foppt mich mit dem „Busemann“, an dessen Existenz ich zwar nicht richtig glaube, aber ich will das gar nicht erst herausfordern. „Guck unters Bett nach, vielleicht ist da der Busemann“, versucht er mich manchmal zu ängstigen, bevor wir schlafen gehen. In meiner Fibel für das zweite Grundschuljahr gibt es ein buntes Bild: Ein tanzender Kobold mit einem kleinen Sack auf dem Rücken, darunter der Vers
Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum dideldum
Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum
Er rüttelt sich und schüttelt sich er wirft sein Ränzlein über sich
Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Haus herum.
Im zweiten Grundschuljahr lernen wir sogar eine Melodie zu diesem Reim. Ich habe mir diese Seite in unserer Lesefibel damals mit meinen sieben Jahren immer mit einem gewissen Grauen angesehen.
Ende der zwanziger Jahre bekommen wir Kinder ein „Heimkino“ von Bekannten unserer Eltern geschenkt. Eine „Laterna Magica“ besitzen wir bereits; sie stammt noch aus dem Elternhaus unserer Mutter und ist sicher schon fünfzig Jahre alt. Das „Heimkino“ ist ein Filmprojektor mit Handbedienung, d.h. mit einer Kurbel wird der Film durch die Optik gezogen und durch die notwendige Filmtransportmechanik bewegt. Einige kleine Filme sind vorhanden, vielleicht mit je 10 Minuten Spieldauer. EA ist der Vorführer, Ludwig interessiert der Kinderkram nicht, er geht schon ins richtige Kino. Die erste Vorführung ist eine Enttäuschung. Man sieht zwar irgendetwas Bewegliches grau in grau, es soll sich um Seelöwen irgendwo im Stillen Ozean handeln, aber alles ist vollkommen unscharf. Niemand weiß, woran das liegt, weder die Eltern noch die größeren Schwestern und auch EA selbst nicht. Der Apparat wird wieder in seine Kiste gepackt und bleibt dort für eine Weile. Wochen später holen wir ihn uns wieder hervor und versuchen es noch einmal, mit demselben Erfolg. Obwohl EA eifersüchtig darauf achtet, daß ich den Apparat nicht berühre, drehe ich schließlich doch vorn am Objektiv, und plötzlich wird das Bild scharf und alle Details sind genau zu erkennen. Ich bin natürlich ungeheuer stolz auf meine Entdeckung und darf von da an den Projektor mit dem gleichen Recht wie EA bedienen. Das Interesse daran erlahmt aber sehr bald, da die kurzen Filme, wovon wir nur wenige haben, ihren Reiz verlieren und Nachschub anscheinend nicht zu bekommen ist. Ich nehme das Gerät später auseinander, weil ich unbedingt dahinter kommen will, wie es funktioniert. Das mache ich auch mit anderen Gegenständen der Bewegungsmechanik wie Spielzeugautos oder -lokomotiven, die wir zu Weihnachten bekommen. Bei mir ist alles schnell auseinander genommen. Erst als ich einen TRIX-Baukasten zum Weihnachtsfest erhalte, werde ich auch konstruktiv im Zusammenbasteln von mechanischem Spielzeug, nicht nur nach Vorlagen, sondern auch nach eigenen Ideen.
In den späten zwanzigerJahren kaufen die Eltern bei Radio Ursin in der Langenstraße einen Radioapparat, ein Kasten mit einem Deckel, den man hochklappen und das Innere besichtigen kann: Röhren, die im Betrieb hell leuchten, Drahtspulen, die mit einem Drehschalter an der Frontplatte verbunden sind, einen großen Drehkondensator zum Einstellen der Sender und einen kleineren für die „Rückkopplung“ sowie einen Drehschalter zum Ein- und Ausschalten des Apparates. Der Lautsprecher ist getrennt und findet seinen Platz auf dem Aktenschank unseres Vaters. Außerdem ist das Gerät mit einer Hochantenne verbunden, die zwischen unserem und einem weiter zurückliegenden Hausdach installiert ist, und einer Erdleitung, die über einen Erdungsschalter, mit dem die Hochantenne geerdet werden kann, an den Radioapparat angeschlossen worden ist.*) Als Stromquellen braucht der Apparat eine „Anodenbatterie“ mit 90 Volt Spannung und ein Blei-Schwefelsäureakkumulator in einem Glasgefäß mit 4 Volt Spannung. Der Akku hält etwa eine Woche seine Ladung und muß zum Papierwarenhändler Karl Müller in der Gaststraße, der ein Akku-Ladegerät besitzt, zum Aufladen gebracht werden. Da die Aufladung zwei Tage dauert, erhalten wir für diese Zeit einen Ersatzakku. Die Anodenbatterie hält etwa vier bis sechs Monate, bis der Empfang immer schwächer und verzerrt wird. Sie muß dann erneuert werden. Die alte taugt aber noch gut für meine Experimente.
So war damals eigentlich das Radiohören eine kostspielige Angelegenheit, solange man nur ein Batteriegerät besaß, das in der Anschaffung zwar bedeutend billiger als ein Gerät für Lichtnetzbetrieb war, aber durch den häufigen Ersatz der Anodenbatterie und das wöchentliche Aufladen des Akkumulators für die Röhrenheizung höhere Folgekosten verursachte. Die Rundfunkgebühren betrugen damals und noch viele Jahre danach einheitlich zwei Reichsmark im Monat. Sie wurden, soweit ich mich erinnere, erst durch die Einführung des Fernsehens Mitte der 50er Jahre erhöht.
*) Der Erdungsschalter diente zum Verbinden der Hochantenne mit der Erdleitung bei Gewitter und sollte über Nacht, wenn nicht mehr Radio gehört wurde, grundsätzlich auf „Erde“ stehen. Am Schluß der Sendung spät am Abend empfahl der Rundfunksprecher den Zuhörern: „Bitte vergessen Sie nicht Ihre Antenne zu erden!“ Witzbolde machten daraus: „Bitte vergessen Sie nicht Ihre Antenne zu beerdigen!“
EA und ich müssen auch schon manchmal im Hause oder für das Geschäft mithelfen, z.B. beim Wäschebügeln die langen Bettlaken durch Falten und Recken auflockern, Ware zu Kunden bringen oder auch einkaufen beim Kolonialwarenhändler Holert in der Haarenstraße, bei den beiden Bäckern Berger in der Langen- und Busse in der Schüttingstraße, bei Schlachter Klaue gleich neben Nachbar Eggerking und noch einiges mehr. Manchmal tun wir dies nur widerwillig, was Mutter sehr aufbringt. Sie hat mit der großen Familie und dem Geschäft genug „um die Ohren“; wir aber besitzen noch nicht so viel Einsicht, dies richtig einzuschätzen.
In einer auf dem Dachboden befindlichen Gerümpelkammer – aus der später das Schlaf- und Wohnzimmer für unsere älteste Schwester Ilse wird – finden EA und ich Papierrollen für die Registrierkasse, die die Eltern unter anderem von der Vorbesitzerin übernommen haben. Sie werden nicht mehr gebraucht, da Vater die Einnahmen nicht mehr einzeln registriert. EA und ich lassen eine Rolle gern von der Brüstung des oberen Hofganges nach unten abrollen, nachdem wir einen Bleistift durch die Kernröhre gesteckt haben. Etwas weniger harmlos ist, daß wir Metall- und Glaskugeln, die wir als sog. „Butzer“ zum Murmelspielen verwenden, vom obersten Geschoß durch den Treppenschacht fallen lassen, so daß sie auf dem Fliesenboden des Erdgeschoßflurs aufschlagen und fast bis zur gleichen Höhe zurückprallten, wieder fallen, aufschlagen usw., bis sie ihre Richtung verlieren und irgendwo auf der Treppe landen. Das Spiel wird uns natürlich verboten, aber wenn die Eltern nicht zu Hause sind, tun wir es doch. Es ist eben zu faszinierend, die Kugeln möglichst oft zurückprallen zu lassen.
Auf dem Dachgeschoß befinden sich auch die Schlafzimmer für uns Kinder und für das „Dienstmädchen“. In der kalten Jahreszeit können sie nicht beheizt werden, sodaß wir im Winter nicht ohne „Kruke“ schlafen gehen mögen, eine flache, elliptisch geformte, aus Kupfer- oder verzinktem Eisenblech bestehende Wärmflasche mit dem Einfüllstutzen für heißes Wasser und dem Schraubdeckel dazu auf der Oberseite. Im Winter sind bei Frost stets dicke Eisblumen an den Fenstern, selbst in den unteren Geschossen mit den beheizten Zimmern. Verwöhnt sind wir jedenfalls nicht, auch Erkältungen halten sich unter uns Kindern in Grenzen. Wenn mal eines von uns krank wird und solange es keine ernsthafte Erkrankung ist, weiß unsere Mutter immer ein altbewährtes Hausmittel, das uns schnell wieder auf die Beine bringt.