Читать книгу Stete Fahrt, unstete Fahrt - Hans H. Hanemann - Страница 14
ОглавлениеSolang‘ sie noch lodert ist die Welt nicht klein.
„Freiheit“, wie der Begriff in solchen Liedern oder in Versen und Reden gebraucht wird, soll allerdings nie näher erläutert werden. Auf keinen Fall ist damit die Freiheit des Einzelnen oder gar demokratische Freiheit gemeint. Im „Dritten Reich“ ist der Mensch nicht frei, er gehört sich nicht selbst, sondern „dem Wohle des Ganzen“, was man auch immer darunter verstehen soll. Realistisch gesehen ist der Einzelne nichts als Sklave des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Er kann Entscheidungen für sich selbst nur unter diesem System geduldeten Bedingungen treffen.
Ein anderes Lied, das häufig auf HJ/DJ-Feiern gesungen wird, beginnt:
Heilig Vaterland, in Gefahren
Deine Söhne sich um dich scharen …
Oder besonders schwülstig:
Deutschland, heiliges Wort,
Du voll Unendlichkeit,
Über die Zeiten fort seist Du gebenedeit
Heilig sind Deine Seen, heilig Dein Wald
Und der Kranz Deiner stillen Höhen bis an das grüne Meer.
Die Bedeutung der Wörter in diesen angeblich weihevollen HJ-Liedern berührt mich nicht. Wenn ich mitsinge, denke ich nicht über sie nach. Wenn auf „Heimabenden“ darüber gesprochen wird oder der Jungenschafts-, Jungzug- oder Fähnleinführer einen Vortrag darüber hält, geht es bei mir ins eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus. Es scheint den meisten meiner Kameraden beim Jungvolk nicht anders zu gehen. Die Texte dieser Lieder sind einfach zu uninteressant und reizen deshalb nicht unsere auf andere Dinge gerichtete Aufmerksamkeit. Die Melodien der meisten dieser „Hymnen“ mit ihrem verlogenen Idealismus haben einen pseudo-weihevollen Charakter; fröhliche und unbeschwerte Lieder finden sich im „HJ-Liedgut“ kaum. Solche rassistischen Inhalts gibt es auch, sie gehören jedoch zu einer anderen Kategorie.
Von dieser Art der Manipulation junger Menschen haben die Verantwortlichen der „Freien deutschen Jugend“ in der DDR manches abkupfern können, wenn auch im Wesentlichen die sowjetische Jugendorganisation Komsomolz ihr Vorbild war.
Zu Anfang – 1933 – singen wir auch alte Landsknechtlieder („Dem Frundsberg seins wir nachgerannt ...“). Dies wird aber bald verboten, wohl weil sie leicht zu einem auf diese Art ungewollten Konflikt mit der katholischen Kirche führen kann, etwa Aufhetzung zur Brandstiftung gegen katholische Einrichtungen („... setz aufs Klosterdach den Roten Hahn!“). – Zwar dürfen auf weniger feierlichen Veranstaltungen auch Volkslieder gesungen werden, was vor allem bei den Jungmädel und beim BDM stattfindet, aber nur solche, die keine pazifistische oder gegen die herrschende Ideologie gerichtete Tendenz erkennen lassen. Die Lieder der Wandervogelbewegung aus den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehören nicht dazu; Lieder der Pfadfinder werden streng verboten.
Der Author Herbert Taege hat in seinem Buch „Die Hitler-Jugend – Geschichte einer betrogenen Generation“ (Leopold Stocker Verlag, Graz-Stuttgart, 2002) eine Rechtfertigung des ersten Führers der Hitler Jugend, Baldur von Schirach, versucht. Er mag in manchem seiner Darstellung nicht ganz falsch liegen; aber er hätte nicht verschweigen dürfen, daß vor allem auf Betreiben von Schirachs 1933 alle anderen jugendlichen Organisationmöglichkeiten verboten wurden, weil nur die Hitler-Jugend als einzige Jugendorganisation, als „Staatsjugend“, bestehen durfte, und daß die Hitler-Jugend militant erzogen werden sollte. Für Jugendliche gibt es in der Zeit keine Wahlfreiheit. Doch das nach Hitlers Anweisung „Jugend soll von Jugend geführt werden“ entstehende Führerprinzip auch in der Hitler-Jugend, dem Deutschen Jungvolk, dem Bund deutscher Mädel und den Jungmädeln führt dazu, daß „manche gleicher unter Gleichen sind als die anderen“. Es entsteht schon früh ein Elitebewußtsein bei vielen DJ- und HJ-Führern, wodurch ein Kameradschafts- und Gemeinschaftsgefühl zwischen den „Führern“ und deren Untergebenen oft nicht aufkommen kann. Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß im Laufe der Jahre nach 1933 ein HJ-Streifendienst mit vorheriger Ausbildung bei der SS entsteht, der Jugendliche auf der Straße kontrollieren darf, und solchen, die in Ferienzeiten selbständig „auf Fahrt“ gehen, dieses indiviuelle Freizeitvergnügen verbietet und ihre Weiterfahrt auf der Stelle untersagt.
Erwähnt werden soll auch das Verhalten der HJ-Führung in Oldenburg (Old) in der sogenannten „Schülermützenaffäre“*). Einigen Schülern des Humanistischen Gymnasiums waren von
HJ-Mitgliedern die Schülermützen vom Kopf gerissen und anschließend in einem Glaskasten am Gebäude der HJ-Gebietsführung am Damm in Oldenburg öffentlich ausgestellt worden. Damit sollte das gesellschaftliche Klassenbewußtsein der Gymnasiasten gedemütigt und auch bekämpft werden. Die rächten sich jedoch, indem sie bei Dunkelheit das Glas des Schaukastens einschlugen und ihre Mützen zurückholten. Ein Strafgericht der HJ-Führung „entehrte“ später die Täter, soweit sie Mitglieder der Hitlerjugend waren, indem ihnen vor einer angetretenen Gefolgschaft der HJ die Schulterklappen abgerissen und alle Insignien der HJ abgenommen wurden. Ich war zufällig Zeuge einer solchen Veranstaltung. Welche weiteren Strafmaßnahmen gegen die Delinquenten ergriffen worden waren, konnte ich nicht erfahren. Dies zeigt aber, daß die Hitlerjugend eine Kommando- und Zwangsorganisation war, die im Grunde nicht jugendlichen Idealen, die sich auf Selbstbestimmung berufen, wirklich gerecht werden konnte. Dies konnten die Pfadfinder und manch andere Jugendorganisation viel besser; aber die waren ja nun auf Betreiben von Reichsjugendführer Baldur von Schirach verboten. Das war auch einer der Gründe, weshalb ich nach einigen Jahren Mitgliedschaft im DJ und in der HJ ihrem „Dienst“ fernblieb.
*) Schülermützen, Tuchmützen mit blankem Schirm gab es schon vor 1914 in verschiedenen Farben mit unterschiedlichen Farbbändern rundum, die die Schul- und Klassenzugehörigkeit des Trägers kennzeichneten. Primaner, also Angehörige der beiden obersten Klassen der höheren Schulen, trugen Schülermützen in rotem Tuch. Nach erfolgtem Abitur durften sich die Primaner einen „Zirkel“ auf die Mütze sticken lassen (übrigens auch Absolventen der „Mittleren Reife“, damals auch „Einjähriges“ genannt**), also Schüler, die die „Untersekunda“ erfolgreich abgeschlossen hatten; die Sekundanermützen bestanden aus weißem Tuch).
**) Die Bezeichnung „Einjähriges“ geht zurück auf die Dauer des Wehrdienstes bei der Armee vor dem Ersten Weltkrieg. Wehrdienstpflichtige, die die höhere Schule bis mindestens Untersekunda absolviert hatten, brauchten nur ein Jahr statt der üblichen zwei Jahre Wehrdienst zu leisten.