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Erinnerungen an jüdische Bekannte

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Etwa am Ende der Achternstraße, kurz vor der Einmündung in die Langestraße, gibt es ein Geschäft für Lederwaren. Betty Berg ist eine kleine lebhafte, etwas zur Fülle neigende, trotz ihres Alters noch recht gut aussehende Frau. Sie führt das Geschäft nach dem Tode ihres Mannes weiter. Oft kommt sie abends nach neunzehn Uhr, wenn sie ihren Laden geschlossen hat, in das Feinkostgeschäft meiner Eltern in der Langenstraße, um Käse und einiges andere an Delikatessen für sich und ihre Tochter einzukaufen. Aber sie mag auch gern mit unserer Mutter plaudern und sich mit ihr über das unterhalten, was ihr tagsüber aufgefallen ist. aber auch über das, was ihr Sorgen bereitet. Sie gibt unserem Vater Geld und schickt ihn zu Signor Loverra, der gegenüber ein italienisches Eiscafe und eine Konditorei betreibt, um für sich und unsere Mutter einen Eisbecher zu holen. „Wenn die Nazis ans Ruder kommen, dann geh‘ ich weg aus Deutschland“, sagt sie ein ums andere Mal. Sie sieht für sich und alle Juden in Deutschland keine Zukunft mehr, wenn die Nationalsozialisten die Regierung übernehmen sollten. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler verkauft sie rechtzeitig ihren Besitz in Oldenburg und übersiedelt mit ihrer Tochter nach Johannesburg in Südafrika. Die Tochter schreibt unserer Mutter aber später, daß Betty sich in der neuen Heimat nicht mehr zurecht finden kann und sie vor Heimweh nach Oldenburg krank geworden sei. Sie lebt dann nicht mehr lange.

Zu den Bekannten unserer Eltern gehört auch Frau Dreier, geb. Wiesenfeld. Sie hatte die Bäckerei und Konditorei Wiesenfeldt in der Donnerschweer Straße geerbt und ist vor ihrer Heirat mit dem Bäcker- und Konditormeister Dreier zur evangelischen Konfession übergetreten. Gleichwohl bleibt sie ihrer jüdischen Verwandtschaft und auch dem jüdischen Glauben treu, obwohl ihre Kinder evangelisch getauft und auch konfirmiert werden. Sie meint zu Recht, daß in der Kirche und in den Predigten der Pastoren viel zu wenig zum Ausdruck komme, daß Jesus doch Jude gewesen und seine Lehre eigentlich jüdisch gewesen sei.

Ein Geschäftsfreund des Vaters ist Hermann Silberberg in der Grünen Straße. Er ist Agent mehrerer Lebensmittelfirmen und beliefert das Geschäft unserer Eltern mit einigen ihrer Erzeugnisse. EA und ich gehen gern zu ihm, um ihm irgendwelche Post von unserem Vater zu bringen. Immer hat er Spielzeug, Werbegeschenke für Kinder, für uns parat, z.B. Brummkreisel oder 3D-Betrachter mit vielen Bildern. Einmal sieht er mich allein auf der Staustraße, kommt zu mir und ermahnt mich, nach Hause zu gehen und mich nicht auf der Straße herum zu treiben. Dabei holt er seine Geldbörse aus der Tasche und gibt mir 50 Pfennig mit den Worten „Nun geh aber sofort nach Hause, hörst du!“ Thea erzählt mir, Herr Silberberg hätte in unserem Laden gestanden, um etwas mit Vater zu besprechen. Sie wäre von draußen herein gekommen, schnell durch den Laden gegangen, wobei er sich zu ihr umgedreht und dann bewundernd ausgerufen hätte: „Schlank wie die Zedern vom Libanon.“ Wir haben nicht erfahren, was aus diesen uns bekannten, mit einigen auch befreundeten Menschen nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten geworden ist. Wir haben uns auch nicht darum bemüht. Sie verschwanden einfach aus unserem Blickfeld. „Wo gehobelt wird, fallen Späne.“ Dieser dummdreiste Spruch muß jetzt immer herhalten, wenn man sich die Augen vor den grausamen Tatsachen verschließen will.

Durch unsere Mutter haben wir eine starke Bindung nach Osternburg, ein Stadtteil östlich der inneren Stadt Oldenburg, der erst nach dem Ersten Weltkrieg in die Stadt Oldenburg eingemeindet worden war. Mutter kam aus der Ulmenstraße, wo unser Großvater, der 1922 starb, als selbständiger Maurermeister ein Baugeschäft betrieb. Seine beiden jüngsten Söhne Dietrich (Didi) und August Linnemann hatten noch vor der großen Inflation 1922 bis 1923 in der Bremer Straße eine Automobilwerkstatt übernommen und betreiben sie mit mehr oder weniger großem Erfolg. Wir Kinder sind häufig in Osternburg, auch oft, um unsere Schuhe dort beim Schuhmacher Vahlenkamp in der Bremer Straße besohlen zu lassen. Schumacher Vahlenkamp hat seine Werkstatt etwas weiter als Linnemanns Autowerkstatt kurz vor der Kanonierstraße. Ich bringe ihm häufig Schuhe zum Besohlen und darf ihm bei der Arbeit zusehen und seinen Geschichten zuhören. Er besitzt noch eine richtige Schusterkugel, ein kugelrundes mit klarem Wasser gefülltes Gefäß, das als Sammellinse das Licht einer Petroleumlampe auf den Punkt am jeweiligen Schuh verstärkt, an dem er gerade arbeitet. Er hat es gern, wenn er bei seiner Arbeit Zuhörer – auch Kinder – hat und ihnen aus seinem Leben und auch allerlei spaßige „Döntjes“ erzählen kann.

Alle vier Wochen ist Großwaschtag. Dazu kommt eine Waschfrau aus der Hermannstraße in Osternburg, EA, KW und ich nennen sie „Tante Unnau“. In der Küche wird immer heißes Wasser zubereitet und die Tante wäscht alles, was an schmutziger Wäsche angefallen ist, auch Bett- und Tischwäsche, in einer großen eisernen Wanne, die vorher auf den überdachten Hof neben der Küche aufgestellt wird, auf einem Waschbrett. Sie läßt sich nur wenig Zeit, wenn unsere Mutter ihr Kaffee gekocht hat. Um ihn schnell abzukühlen, kippt sie immer ein bißchen von dem heißen Kaffee in die Untertasse und schlürft ihn dann behaglich in kleinen Schlucken hinunter. Während sie die Wäsche bearbeitet, unterhält sie sich mit uns Jungen und erzählt uns irgendwelche Geschichten, weshalb wir sie gern mögen und uns freuen, wenn wieder Waschtag ist.

Zum 6. Geburtstag erhalte ich ein kleines Dreirad, das Vorderrad zum Treten und Lenken. Ich fahre damit bis nach Osternburg zu Onkel August und Onkel Didi, keine geringe Leistung für ein sechsjähriges Kind. Bei „Linnemanns“ bin ich überhaupt oft. Einmal geben mir die beiden Onkel ein ziemlich großes, aber sehr leichtes Paket für die Eltern mit. Sie haben es vorher unter viel Gelächter gepackt. Unser ganzes „Kontor“ ist voll Zeitungspapier, als die Eltern es auspacken. Vater ist nicht erfreut darüber und sagt grimmig etwas von „heimzahlen“. Der Inhalt des Pakets: dreißig Pfennig, die Linnemanns den Eltern schulden. – Onkel Didi ist Schlossermeister, Onkel August promovierter Volkswirtschaftler. Zusammen haben sie die KFZ-Werkstatt übernommen, zu der auch eine Leuna-Tankstelle, damals noch für Handbetrieb, gehört. Mit der Werkstatt haben die beiden Brüder noch einige Kraftfahrzeuge übernehmen müssen und richteten deshalb eine Autovermietung mit Fahrer ein. Onkel Didi herrscht vor allem auf dem Werkstatthof, wo er die Lehrlinge kommandiert und ihnen schnell mal eine Ohrfeige verabreicht, wenn er etwas bei ihnen entdeckt, was sein cholerisches Temperament gleich in Wallung bringt. In der Werkstatt hält er sich nicht gern auf, jedenfalls nicht, um die Lehrlinge zu kommandieren. Dort ist der Altgeselle Staschen der eigentliche Herrscher, ein kleiner, stämmiger, ziemlich rauhbeiniger „Autoschlosser“, wie die Kraftfahrzeugmechaniker zu der Zeit noch bezeichnet werden. „Der soll hier bloß wegbleiben“ ruft er, wenn Onkel Didi draußen wieder mit einem seiner Lehrlinge schimpft. Vom Altgesellen heißt es, er sei Kommunist. Das kann schon möglich sein; nationalistisch gesinnt wie Onkel Didi ist er sicher nicht.

Ich werde sowohl in der Werkstatt wie auch draußen auf dem Werkstatthof geduldet. Die Mechaniker schicken mich manchmal mit einer dickbauchigen Flasche in die schräg gegenüber liegende Gastwirtschaft zum Bier holen. Sie lassen mich auch wohl mal davon kosten; aber der Altgeselle paßt scharf auf, daß ich nur einen ganz kleinen Schluck nehme, obwohl ich gern mehr möchte. Der Inhaber der Gastwirtschaft steht meist tagsüber Zigarre rauchend an der Straße und beobachtet den zu der Zeit noch recht mäßigen Verkehr. Er ist ein nicht großer, bärbeißiger Mann mit einem unbeschreiblich dicken Bauch. Seine immer griesgrämige Frau und die ältere Tochter bedienen in der Wirtschaft. Die jüngere Tochter, Annemarie, ist ein hübsches Mädchen mit dunklen Locken, ein paar Jahre älter als ich. Wir spielen manchmal zusammen. Sie nennt mich immer „Hänschen“. Jahre später, während des Krieges, wird sie geistig verwirrt. Sie erkennt mich dann nicht mehr, wenn wir uns zufällig begegnen. Mitte der 50er Jahre jedoch – ich bin schon Seefunker und gerade auf Urlaub – gehen wir auf der Bremer Straße an einander vorbei. Sie sieht immer noch recht hübsch aus mit ihrem langen schwarzlockigen Haar. Plötzlich dreht sie den Kopf zu mir, blickt mich freudig an und ruft „Hallo Hänschen“, eilt dann aber schnell weiter. Ich erwidere überrascht ihren Gruß und frage: „Wie geht es dir?“ Ich hätte gern mit ihr gesprochen. Annemarie beachtet mich aber nicht weiter, sondern geht schnell weiter, als wenn sie es besonders eilig hat, von mir fortzukommen. Sie muß trotz ihrer Demenz spontan auftretende, aber wohl nur kurzzeitig wirkende Erinnerungen gehabt haben. Daß sie mich nach mehr als fünfundzwanzig Jahren wieder erkennt, ist erstaunlich genug; wir waren ja damals beide im Kindesalter, sie vielleicht drei bis vier Jahre älter als ich. Zuhause erzähle ich Gertrud von der Begegnung. Sie sagt, daß Annemarie nach dem Tod ihrer Mutter – der Vater war schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg gestorben – von ihrer älteren unverheirateten Schwester betreut wird und daß die sie immer sehr akkurat hält.

Die kaufmännischen Angelegenheiten der Firma „Gebrüder Linnemann, Kraftfahrzeuge“ besorgt Onkel August, als promovierter Volkswirtschaftler von Werkstattangehörigen und Kunden nur mit „Herr Doktor“ angesprochen, der im vorderen Teil des Gebäudes in der Bremer Straße 51 einen Verkaufsraum und ein Büro unterhält. Hier arbeitet eine jüngere Schwester vom Altgesellen, Mathilde, als Bürogehilfin. Onkel Augusts Frau, die sich viel auf ihre angeblich hugenottischen Vorfahren einbildet, spricht nur geringschätzig von Mathilde. Sie ist wohl eifersüchtig auf das nach meiner Erinnerung recht attraktive Mädchen, bei dem ich manchmal, wenn Onkel August, wie so oft, längere Zeit abwesend ist, auf der Schreibmaschine klappern darf. Onkel August und seine Frau halten mehr davon, sich das Leben möglichst angenehm zu machen; im Sommer sind sie vormittags im „Strandbad“, einer öffentlichen Badeanstalt an der „Alten Hunte“, sehr zum Grimm des leicht zu Cholerik neigenden Onkel Didi, der sich selbst für außerordentlich fleißig und tüchtig hält. Zumindest lebt er für den Betrieb und liebt ihn, während Onkel August immer nur vorgibt, er könne seinen Bruder nicht im Stich lassen.

Onkel Didi ist von seinem Bruder und dessen Frau abhängig, da seine erste Frau früh gestorben ist und er einen kleinen Nebenraum der Werkstatt hinter dem Bereitschaftsraum der Fahrer der beiden Mietwagen als Wohn- und Schlafraum genommen hat. Vor seiner Wiederverheiratung nimmt er seine Mittagsmahlzeit bei seinem Bruder und dessen Frau ein, was diese oft beklagt. So scheint Onkel Didi der auf ihre Ausbildung stolzen Schwägerin wohl zu primitiv und er gehörte eigentlich nicht an ihren Tisch. Sie hatte ein Lehrerinnenseminar besucht und war dort zur so genannten technischen Lehrerin – Handarbeitslehrerin in Mädchenklassen an Volksschulen – ausgebildet worden, betrachtet dies gleichwohl einem akademischen Studium ebenbürtig. Von den Gesellen und Lehrlingen der Werkstatt läßt sie sich nur mit „Frau Doktor“ anreden, wenn sie überhaupt einmal mit ihnen – ziemlich von oben herab – spricht. Die Werkstatt betritt sie allerdings nicht. Sie hat doch wohl zu viel Scheu vor den Grobheiten des Altgesellen, der „keine Weiber in meiner Werkstatt“ sehen will, womit er allerdings wohl nur die „Frau Doktor“ meint.

Onkel Didi ist auch Fahrlehrer und nimmt mich manchmal mit, wenn er praktischen Fahrunterricht gibt. Autofahren zu lernen scheint etwas Schreckliches zu sein, so hat sich mein Eindruck durch die Erlebnisse während dieser Fahrstunden mit Onkel Didi und seinen Fahrschülern verfestigt. Er ist unentwegt am Schimpfen, und wenn der Fahrschüler ein Lehrling von Onkel Didi oder von einem seiner Geschäftsfreunde ist, gibt es auch Ohrfeigen bei den kleinsten Fehlern des Fahrschülers. Vor den Mitschülern in der Grundschule gebe ich aber gewaltig mit meinen eigenen Fahrkünsten an und „erfinde“ sogar ein Auto, bei dem man nicht mehr lenken, sondern nur noch den „Winker“ (Fahrtrichtungsanzeiger)*) betätigen muß. Ich habe schon damals Ideen, technisch alles möglichst einfach zu machen. Glücklicherweise entwickeln sich dabei in mir nicht auch Vorstellungen in Form von Patentlösungen auf politischem, soziologischem oder psychologischem Gebiet, wie das bei technisch orientierten Menschen häufig der Fall ist (s.a. Eugen Kogon „Was denken die Ingenieure?“)

*) Fahrtrichtungsanzeiger waren in den Personenkraftwagen noch bis Anfang der 50er Jahre oft fälschlich genannte „Winker“: links und rechts außen neben der Frontwindschutzscheibe angebrachte Zeiger, die bei Betätigung eines Schalters vom Fahrer elektromagnetisch aus ihrem Gehäuse in die Waagerechte gestellt wurden und damit den anderen Verkehrsteilnehmern die beabsichtigte Fahrtrichtung zeigten. Die Zeiger waren von innen beleuchtet und so auch bei Dunkelheit zu erkennen. Lastkraftwagen waren mit richtigen „Winkern“ ausgerüstet: Zeiger, die sich beim Einschalten periodisch auf und ab bewegten.

Stete Fahrt, unstete Fahrt

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