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Fortsetzung Schulzeit, danach Berufsausbildung

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Wegen der Auflösung der Comeniusschule zu Ostern 1938 besuche ich noch ein Jahr lang die Mittlere Handelsschule, verlasse diese aber ohne Abschluß, weil mich das Berufsziel dieser Ausbildung überhaupt nicht reizen kann. Ich strebe einen Beruf in der Elektrotechnik an, vorzugsweise in der Radiotechnik. Im Sommer 1934 hatten mich die Eltern und zwei Brüder meiner Mutter zu einem Sonntagsbesuch bei Onkel Heinrich und Familie mitgenommen, die in Gelsenkirchen wohnten. Onkel Heinrich, auch ein Bruder unserer Mutter, hatte dort eine leitende Stellung in der Verwaltung eines Bergwerks. Er war mein Patenonkel, was immer das auch bedeutet. Ich habe jedenfalls nichts weiter davon gemerkt. Vetter Dietrich, der einzige Sohn der Familie und ein gewiefter Radiobastler, begeistert mich an diesem Tag für sein Hobby, da er schon früher während seiner Besuche bei uns bemerkte, daß ich gern bastelte. Von der Zeit ab steht für mich mein zukünftiger Beruf fest. Schule interessiert mich nicht mehr, sie ist nur lästig und eine Quelle ständiger Quälereien und Ängste, vor allem in der Hindenburgschule unter dem damaligen Schulleiter und den meist pädagogisch konservativen Lehrern, „Pauker“, wie sie von den Schülern genannt werden, was wohl soviel heißt, daß das geforderte Wissen – wenn nötig – auch mit Prügeln „eingepaukt“ werden kann.

Unser Klassenlehrer an der Handelsschule ist ein ziemlich forscher Nationalsozialist und fast ein fanatischer Richard Wagner Liebhaber. Er unterrichtet uns in Deutsch und Englisch. Ich schwärme zu der Zeit sehr für Puccini, dessen Opern La Boheme und Madam Butterfly ich im Theater gesehen habe. Vater ermuntert mich sogar dazu, da er früher auch oft Opern- und Operettenaufführungen besucht hatte. Er gibt mir auch das Geld für die Eintrittskarten, wenn ich einen Theaterbesuch machen will. Allerdings reicht es immer nur für einen Sitzplatz auf dem „Olymp“, ganz oben im Zuschauerraum, wo es nur harte Holzbänke gibt. Meine Schwester Ilse meint, dort säßen immer die richtigen Theaterfreunde und nicht die, die sich im Theater nur zeigen wollen. Unser Klassenlehrer belächelt mich mitleidig, als ich ihm von meiner Leidenschaft für Puccini erzähle. Solche Opern sind ihm zu weich, „Heldisches“ gibt es für ihn in Puccini-Opern nicht.

Die Nacht zum 9. November 1938 ist in die Geschichte als die Reichskristallnacht*) eingegangen: In allen Städten brennen die Synagogen, auch die in Oldenburg an der Peterstraße, angezündet von SA-Angehörigen in Zivil auf nicht geheim zu haltende Anordnung von Joseph Goebbels, dem Reichspropagandaminister. Andere SA-Kommandos holen in der Nacht alle männlichen Juden aus ihren Wohnungen und bringen sie zunächst auf die Polizeiwachen, von wo sie dann am nächsten Tag in verschiedene Konzentrationslager transportiert werden. Die ganze Aktion wird als Vergeltungsmaßnahme für die Ermordung des Legationsrates Vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris durch den jüdischen Flüchtling Herschel Grynspan begründet, dessen Eltern von deutschen Behörden zusammen mit vielen anderen Juden über die deutsche Grenze nach Polen getrieben worden waren. Die Ermordung des Legationsrates ist aber sicher ein willkommener Anlaß für die Nazis, die noch nicht ausgewanderten Juden endgültig aus der Öffentlichkeit zu vertreiben. Die in der Reichskristallnacht verhafteten Juden haben keine Chance, nach ihrer Verhaftung ihrem entsetzlichen Schicksal zu entgehen: Vernichtung durch Arbeit oder Tod durch Gas. Dies alles wird zwar vor der Öffentlichkeit geheimgehalten; aber natürlich muß es viele Deutsche geben, die davon wissen, willentlich oder unwillentlich, durch ihre Funktion in diesem Geschehen oder durch Zufall. (s.a. die Literatur über die „Weiße Rose“ und die letzten Kapitel von Wibke Bruhns, „Meines Vaters Land“, Econ Verlag, 2004.)

*) Das Wort entsteht im Volksmund; damit wird die Nacht zum 10. November wegen der vom SA-Mob zahlreichen zertrümmerten Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte benannt.

An der Verhaftungsaktion nimmt auch unser Klassenlehrer teil und erzählt dies uns am Tage darauf. Seine Schilderung klingt in meiner Erinnerung ziemlich gehässig; aber damals erkennen wir noch nicht die Widerwärtigkeit und das Entsetzliche der ganzen Aktion, die ja der Auftakt zum größten Judenpogrom ist. Dietrich Linnemann (Onkel Didi) ist auch Mitglied der SA und wird am Tage nach der nächtlichen Verhaftungsaktion von seiner Führung dazu beauftragt, die männlichen Juden, die im Bereich seines SA-Sturms verhaftet worden sind, zusammen mit anderen SA-Männern zum Bahnhof zu eskortieren, von wo diese Juden dann in ein Konzentrationslager transportiert werden sollen. Einer der Juden, der ehemalige Schlachtermeister Bollegraf, gibt meinem Onkel seine Geldbörse und bittet ihn, sie seiner Frau zu überbringen. Die Bollegrafs haben ihre Schlachterei schräg gegenüber von Linnemanns Werkstatt und sind mit den Onkeln gut bekannt.

Daß die ganze Aktion nicht die Billigung meiner Onkel und vor allem auch nicht die unserer Eltern findet, kann ich schon spüren. Aber berührt hat es mich noch nicht richtig. Vater findet auch schließlich den oft sattsam gebrauchten Spruch, immer wenn irgendetwas Unrechtes „von oben“ angeordnet wird, „Wo gehobelt wird, fallen Späne“. Wir beruhigen uns mit dem Gedanken, daß die Juden ins Ausland „abgeschoben“ werden, wie offiziell verlautbart wird. Jedenfalls denken wir nicht weiter darüber nach, obwohl schon seit 1933 jüdische Bekannte aus unserem Gesichtskreis verschwunden sind.

Es kommt schon vor, daß ich mir vorstelle, wie ich selbst empfinden müsste, sollte ich mitten in der Nacht von einer Soldateska aus dem Schlaf gerissen und nur notdürftig angekleidet mitgenommen werden auf eine Polizeiwache, vielleicht mit drängender Notdurft, mit leerem Magen, durstig und hungrig, voller Angst und Ungewißheit über mein weiteres Schicksal, solches am eigenen Leibe zu erleben. Aber ich verdränge diese Vorstellung schnell wieder. Die offizielle Meinung verspricht ja, daß alles mit rechten Dingen zugehe.

Im März 1939 verlasse ich die Handelsschule. Die Inhaber eines Radiogeschäftes mit Reparaturwerkstatt sind bereit, mich als Lehrling zum 1. April einzustellen. Die Lehrzeit soll drei Jahre dauern und mit der Gesellenprüfung zum „Rundfunkmechaniker“ – so lautet die amtliche Berufsbezeichnung – abschließen*). Außer mir wird noch ein zweiter Lehrling eingestellt, zwei weitere im zweiten und dritten Lehrjahr arbeiten bereits im Betrieb. Da ich die Lehrzeit mit einigen Vorkenntnissen in der Radiotechnik antrete, werde ich schon nach kurzer Zeit mit der Instandsetzung**) von Rundfunkgeräten betraut.

*) Der Begriff Rundfunk anstelle von Radio war in der Zeit des Nationalsozialismus üblich, Radio offiziell verpönt, da „undeutsch“. Aber nicht alles, was die damaligen Machthaber als „undeutsch“ oder „jüdisch“ ausmerzen wollten, konnten sie auch durchsetzen. So forderten sie anstelle des „Hertz“ für die Einheit der elektromagnetischen Schwingung und ihrer Erweiterungen (kHz, MHz usw.) eine ähnliche Bezeichnung wie das im englischen Sprachgebrauch übliche „Cycle“ nebst den Erweiterungen (kc, Mc usw) zu benutzen. Damit hatten sie aber kein Glück. Selbst die uns immer als unsere Erzfeinde denunzierten Franzosen benutzen die Bezeichnung Hz, kHz und MHz. Heinrich Hertz war der Entdecker der elektromagnetischen Schwingungen, indem er ihre Erzeugung und ihre drahtlose Übertragung von einem einfach aufgebauten „Sender“ zu einen ebenso einfachen „Empfänger“ nachwies. Mit diesen Experimenten wurde er der eigentliche Begründer der drahtlosen Nachrichtenübertragung – und damit auch des Radios. Er stammte aus einer jüdischen Familie.

**) auch ein offizieller Begriff an Stelle von Reparatur während der Zeit des „Dritten Reiches“.

Zu jedem Arbeitsplatz in der Werkstatt gehört ein hoher Schemel, ähnlich wie es sie in Gaststätten an der Theke gibt. Die beiden Chefs sehen es aber nicht gern, wenn wir bei unseren Reparaturarbeiten und der Fehlersuche an den defekten Rundfunkgeräten sitzen. In dieser Hinsicht sind sie, wie fast alle Meister als Lehrlingsausbilder zu der Zeit, altmodisch. „Im Sitzen kann man nicht richtig arbeiten, man schläft dabei ja ein“; davon sind auch unsere Meister überzeugt. Ich habe nicht nur angenehme Erinnerungen an meine Lehrzeit, die allerdings nur eineinhalb Jahre dauert, da ich dann zum Reichsarbeitsdienst eingezogen werde. Mein eigentlicher Lehrmeister will versuchen, eine Rückstellung für mich zu erreichen, aber ich lehne das ab. Eine heftige Auseinandersetzung habe ich vorher mit beiden Chefs, die von mir verlangen, einer zahlungssäumigen Kundin die Röhren aus ihrem von mir reparierten Gerät in ihrer Wohnung an mich zu nehmen, also zu beschlagnahmen. Ich bin so empört über dieses Ansinnen, daß ich sogar den Eltern davon erzähle. Vater, der sonst, wenn ich mich mal zuhause über etwas Vorgefallenes auslasse, gewöhnlich sagt „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ gibt mir in diesem Fall Recht und rät mir, auf keinen Fall dem Ansinnen der Chefs nachzugeben, weil es mit Sicherheit ungesetzlich sei. In den darauf folgenden wenigen Monaten bis zu meiner Einberufung zum Reichsarbeitsdienst ist das Verhältnis zwischen mir und den Chefs ziemlich frostig. Dies ist einer der Gründe, warum ich meine Rückstellung der Einberufung ablehne.

Stete Fahrt, unstete Fahrt

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