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Kapitel sechs

Im Sturm

Zwei Wochen zuvor

Die ersten beiden Tage zeigte sich die See von ihrer ruhigen Seite. Ebenso still verhielten sich die Menschen an Bord der überbesetzten Nussschale und machten den Eindruck, als seien sie im Sitzen aneinandergetackert worden. Die orangefarbenen Schwimmwesten, die man ihnen noch vor Besteigen des Bootes, natürlich gegen eine zusätzliche Bezahlung angepriesen und verkauft hatte, rieben sich aneinander und verursachten nervenzerreibende Geräusche. Ein Mittel zur Verhinderung gab es nicht und so wurden zu der ohnehin hohen Stressbelastung die Nerven bis aufs Äußerste angespannt.

Am Nachmittag des dritten Tages bewölkte sich der Himmel und ein Lüftchen streichelte die bis dahin glatten Wogen. Nur wenige auf dem Boot nahmen Notiz von dieser leichten Wetteränderung, für viele war es eine Wohltat nach der intensiven Sonneneinstrahlung der vergangenen Stunden.

Ahmed und Bashir rückten noch weiter zusammen, soweit die Enge, der sie ausgeliefert waren, dies zuließ.

„Wenn es etwas unruhiger wird, musst du dich an mir festhalten, hast du gehört?“, redete Ahmed auf seinen kleinen Bruder ein. „Siehst du die Wolken? In weniger als einer Stunde wird hier die Hölle los sein. Schau dir die anderen an. Sie ahnen nichts. Wir müssen sie warnen.“

„Wie werden sie reagieren?“, fragte Bashir, und Angst schwang in seiner Stimme mit. „Es wird Chaos geben.“

Ahmed hörte seine Worte nicht, denn er hatte sich zu Jussuf umgedreht und winkte mit dem Arm, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Als er zu ihm herüberblickte, hob er seinen Arm erneut und zeigte nach oben, zu den Wolken.

Jussuf gab ihm keine Antwort und nickte nur. Er schaltete den Außenbordmotor aus und versuchte, zwischen den eng aneinander gepressten Menschen zu ihnen zu gelangen. Er kauerte sich vor ihnen auf den Bootsboden und zeigte gegen den Himmel.

„Meine Freunde, ihr müsst beten, dass wir das lebend überstehen. Wir sind alleine auf uns gestellt. Man wird noch nicht auf uns aufmerksam geworden sein, um uns helfen zu können. Nein, wir dürfen uns auch keine Hoffnung machen, bei dieser Wetterlage sticht niemand in See.“

„Wir müssen die anderen warnen, sie fühlen sich sicher“, wiederholte Bashir und blickte über die dicht hockenden Männer, von denen sich einige aufgestellt und gegen die Bootswand gelehnt hatten. In diesem Boot gab es keine Frauen, keine Kinder, nur Männer. Junge Männer.

Yussuf war seinem Blick gefolgt. „Sie alle hoffen, wie wir, dass wir unsere Lieben eines Tages nachholen können. Aber viele Angehörige werden vergebens warten.“

„Wie meinst du das“, fragte Bashir und Yussuf lächelte über so viel Naivität.

„Es wird niemand da sein, der sie zu sich holen kann.“

Er wartete keine Reaktion Bashir an, sondern wandte sich an die Mitreisenden, von denen bereits ein Teil lethargisch unter sich starrte, weil in ihnen die Hoffnung, gerettet zu werden, immer mehr schwand.

In diese Stimmung hinein verbreitete sich auch immer mehr der Gestank von menschlichen Ausscheidungen aller Art, denn die Seeuntauglichkeit mancher Männer ließ diese Spuren im Boot zurück, da ihnen aufgrund der Enge der Weg zum Bootsrand versperrt blieb.

Anfangs hatte man noch versucht, seine kleinen und großen Geschäfte über den Bootsrand zu verrichten, doch es scheiterte meist am Durchkommen. Gänzlich wurde das Vorhaben aber aufgegeben, als einer der Männer nach hinten kippte und drohte, ins Meer zu fallen. Kräftige Hände konnten ihn gerade noch packen und ins Boot ziehen. Von diesem Zeitpunkt an waren auch alle hygienischen Vorsätze über Bord geworfen und man konnte nur hoffen, dieses Boot bald zu verlassen, bevor Krankheiten sich ausbreiten konnten.

„Hört alle mal her!“, rief Yussuf in den stärker aufkommenden Wind den Männern zu. Als er kein Gehör fand, stecke er zwei Finger zwischen die Lippen und stieß einige gellende Pfiffe aus. Mit der freien Hand winkte er, um Aufmerksamkeit zu erlangen.

Die Köpfe der Männer wandten sich ihm fragend zu und er rief ihnen durch den Wind zu: „Ihr müsst euch gegenseitig festhalten!“ Dabei zeigte er nach oben, in die dunkler werdenden Wolken. Doch er hatte das Gefühl, dass man ihn nicht verstand. Yussuf packte sich die Arme von Ahmed und Bashir und hängte sich bei ihnen ein, während er die beiden eng an sich zog. Dabei nickte er heftig in Richtung der Männer, die nun zu begreifen schienen. Bewegung machte sich breit im Boot und Bashir hatte das Gefühl, dass die Enge sich etwas auflöste.

Yussuf nickte den anderen noch einmal mit einem Blick in die Wolken zu. Er wusste, sie hatten ihn verstanden. Jetzt konnte nur noch einer helfen: Allah. Yussuf schickte ein Stoßgebet zum Himmel und beobachtete, dass sich auch die Lippen der anderen, mit Blick auf den Boden des Bootes, bewegten.

Dann war es so weit. Die Hölle tat sich von jetzt auf gleich auf!

Vom aufkommenden Sturm gejagt peitschten ihnen messerscharfe Regentropfen auf die gesenkten Häupter, die sie mit ihren Händen nicht schützen konnten. Zu wichtig war es, mit den Armen gegenseitig und miteinander eine Einheit zu bilden.

Der Sturm peitschte nicht nur den Regen in ihre Gesichter, er hob mit aller Kraft die Wellen des Meeres an und türmte sie meterhoch auf, um sie dann wieder in ihren Ursprung zurückfallen zu lassen.

Das Boot, einer überfüllten Nussschale gleich, erklomm diese Wellen und stürzte mit ihnen wieder ins Tal, um, als hätte es Freude daran, wie ein Kind auf einer Rutschbahn, die Wellen immer wieder neu zu erklimmen.

Die Männer auf dem Boot schrien nicht. Es war nicht ihre Mentalität. Sie klammerten sich aneinander und beteten, laut und dennoch unhörbar.

Ahmed, Yussuf und Bashir erging es wie allen anderen. Sie klammerten sich aneinander fest, seitlich von ihnen pressten sich fremde Männer gegen sie.

In die dritte Welle hinein musste sich Bashir übergeben. Reflexartig zog er einen Arm aus der Umklammerung, um irgendetwas zu tun, sich über den Mund zu wischen oder was auch immer. Etwas Sinnloses.

Genau während dieses sinnlosen Tuns erwischte ihn die vierte Welle, die das Boot wieder nach oben jagte, um es dann jäh fallen zu lassen.

Bashirs Beine wurden nach oben gerissen, sein Körper durch die einseitige Umklammerung seines Armes durch Yussuf gedreht und, einem Rückwärts-Salto gleich, über den Rand des Bootes geschleudert.

Nun drohte sein Arm durch die Umklammerung von Yussufs Ellbogen zu rutschen, worauf er für immer in den Tiefen des Meeres verschwunden wäre.

Er verspürte einen Schlag auf seiner Brust und wie sich eine starke Hand in das Vorderteil seiner Jacke krallte. Mit einem kräftigen Ruck wurde er zurück in das Boot gezogen, gleichzeitig mit der nächsten Welle, die Yussuf bei seiner Aktion Hilfestellung leistete und Bashir zurück ins Boot schleuderte.

Ahmed hatte sich während dieser Zeit wie gelähmt an seinem Nachbarn festgekrallt, und er hatte nicht den Hauch einer Chance, einzugreifen. Jetzt, als Bashir im Boot lag, fasste er zu und gemeinsam gelang es beiden, ihren Bruder und Freund wieder zwischen sich zu vereinen.

Als hätte der Sturm es einzig und allein auf diesen Zwischenfall abgesehen gehabt, verebbte er langsam. Zurück blieb ein leichter Regen, der bei niemandem der Männer als ein Übel empfunden wurde.

Langsam verflüchtigte sich die Starre im Boot. Man löste sich voneinander, schüttelte die Arme aus und dankte Allah für eine bestandene Prüfung.

Verflogen war auch der Gestank, der bis zu dem Sturm Begleiter der Flüchtenden war. Man begann wortlos, mit den Händen das angesammelte Wasser vom Boden des Bootes zu schöpfen und über den Bootsrand dem Meer zu übergeben.

Yussuf sah den Männern zu, bevor auch er und seine beiden Begleiter desgleichen taten. „Das ist gut“, dachte er. „So sind sie beschäftigt. So soll es noch einige Zeit bleiben.“

Es war noch kein Land in Sicht, als der Motor seinen Dienst verweigerte. Das regelmäßige Schnurren ging über in einige Aussetzer, begleitet von dunklem Rauch und endete in einer angenehmen Ruhe, die in dieser Situation alles andere als angenehm empfunden wurde. Alle Blicke richteten sich auf Yussuf, der, zum Zeichen seines guten Willens, mehrmals versuchte, den Motor zu starten.

„Wir können jetzt nur noch warten!“, rief er über die Köpfe der auf dem Schiffsboden Kauernden und fügte hinzu: „Sie werden uns suchen und sie werden uns finden. Wir können nichts weiter tun als warten!“

Ein Raunen ging durch das Boot und steigerte sich in durcheinander eingeworfene Fragen, ehe es in lautstarke Diskussionen mündete. Die Nerven lagen inzwischen blank und der Hunger tat sein Übriges dazu. Die wenigen Lebensmittel und das mitgeführte Wasser ging zur Neige, und mehr als weitere zwei Tage würde es keiner von ihnen mehr aushalten.

„Ihr müsst Vertrauen haben. Allah ist bei uns und wird uns beschützen. Zweifelt also nicht!“, rief Yussuf ihnen, appellierend an ihren Glauben, zu. Er sah es als die einzige Möglichkeit, eine Panik vorerst zu vermeiden. Allah würde bei ihnen sein. Sie sollten stets daran denken.

Das Meer war ruhig, eine leichte Brise wehte von Westen her und langsam brach die Nacht herein. Zitternd klammerten sich die Männer aneinander, suchten die verbliebene Wärme bei ihren Nachbarn und schliefen schließlich erschöpft ein. Nur wenige fanden keinen Schlaf und betrachteten die Sterne in der inzwischen wolkenlosen Nacht.

Nachdem der Sturm sich gelegt hatte und die Abendsonne mit letzter Kraft die verbleibenden Wolken durchbrach, erwärmte sich zumindest die Stimmung im Boot, wenn der Sonne auch die Kraft fehlte, Wärme in die durchnässten und verkühlten Leiber zu projizieren.

„Wie geht es dir, Bashir?“, fragte Yussuf seinen Begleiter, dessen Kleidung ebenso durchnässt war wir die all der anderen auf diesem Boot. Einige der Männer hatten die Oberbekleidung ausgezogen und waren dabei, sie durch Auswringen, soweit das möglich war, von der Nässe zu befreien.

„Macht es ebenso“, sagte Yussuf und begann sich zu entkleiden. Bashir und Ahmed folgten seinem Beispiel. „Wir dürfen nicht krank werden. Wir wissen nicht, was uns am Ende des Meeres erwartet.“

Der anbrechende Tag begann wenig hoffnungsvoll. Wohin sie auch blickten, sie sahen nur das Wasser, das flach wie ein See vor ihnen lag.

Yussuf sah skeptisch in die Ferne. Ohne den Motor hatte er keinen Einfluss auf die Richtung. Vielmehr machte ihm die westliche Brise vom Vorabend Sorgen. Würden sie weiter auf das Meer hinausgetrieben, weg von der Hoffnung, doch noch gerettet zu werden?

„Ist es noch weit bis nach Europa?“, hörte er Bashir neben sich fragen, der sich zitternd die Augen rieb und versuchte, tiefer in seine Kleidung hineinzukriechen.

„Es kann nicht mehr weit sein“, wollte Yussuf gerade beruhigend auf ihn einsprechen, als er am Horizont etwas sah, das sich bewegte. Waren das ihre Retter? Er wollte etwas hinausposaunen, unterdrückte jedoch die Information, die sich den Weg aus seinem Mund suchen wollte. Er wollte sichergehen, dann war noch genug Zeit zur Freude.

Der Punkt am Horizont wurde größer und bewegte sich auf sie zu.

Es war ein Schiff!

„Ein Schiff, ein Schiff! Dort hinten“, schrie er und zeigte in die Richtung, aus der sich der Punkt näherte.

Dann kam Bewegung in das Boot. Die meisten der Männer sprangen auf, streckten die Hände zum Himmel und winkten. Sie brüllten, und die ungewohnte Lautstärke ihrer Stimmen hatte etwas Vereinendes.

Das Schiff näherte sich immer mehr und nun erkannten sie das Offizielle an ihm. Eine große Schrift, die sie nicht lesen konnten und Warnleuchten oberhalb der Kabine.

„Das muss die Küstenwache sein!“, rief Yussuf. „Wir sind gerettet!“

Der Duft von Milch und Honig

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