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Kapitel zehn

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Dienst ist Dienst …

Julian Thalbach verzog für einen Moment schmerzverzerrt das Gesicht und betrachtete im Spiegel, wie sich ein Blutstropfen oberhalb seines linken Wangenknochens löste und langsam eine Spur bis hin zu seinem Mundwinkel zog. Er stützte sich mit beiden Händen auf dem Rand des Waschbeckens ab und beobachtete, wie erst dieser Tropfen und dann noch einer in das vom Rasierschaum geschwängerte Wasser eintauchten und dann verschwanden.

„Ein beschissener Tag!“ Thalbach schüttelte den Kopf, als könne er mit dieser Bewegung schlechte Geister verjagen und spülte die Rasierklinge in dem schaumigen Wasser ab. Sein skeptischer Blick wanderte nach oben und schließlich stand er Auge in Auge seinem Spiegelbild gegenüber.

„Was siehst du mich so an, du alter Sack?“ Er schnitt eine Grimasse, fuhr sich durch die immer heller und spärlicher werdenden braunen Haare, zeigte die Zähne und kniff die Augen zusammen.

„49 Jahre, sieht man dir eigentlich nicht an. Oder?“

Vor wenigen Tagen war sein Geburtstag gewesen, den er im kleinen Rahmen gefeiert hatte. Eigentlich war es eine Feier von zwei Personen gewesen, ihm selbst und Antoinette, seiner Frau, die er liebevoll Nette, die Liebenswerte, nannte, Und in irgendeiner Weise war es sogar ein doppelter Geburtstag. Nette hatte eine Krebstherapie erfolgreich über sich ergehen lassen müssen. Der behandelnde Arzt hatte sie mit den Worten entlassen: „Leben Sie Ihr Leben, die Krankheit hat sich zurückgezogen. Kommen Sie zu den regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. Aber denken Sie immer daran, sie kann es sich jederzeit überlegen und zurückkommen, unverhofft. Aber es kann auch so bleiben, wie es ist. Machen Sie das Beste daraus und denken Sie positiv.“

Thalbach lächelte. Er kannte seine Nette zu gut. Natürlich hatte sie sich vorgenommen, das Beste daraus zu machen und so hatte sie mit Julian dessen Geburtstag gefeiert, als sei es ihr eigener gewesen.

Und er selbst? Dieses Zusammensein war Balsam für sein Gewissen, das sich immer dann regte, wenn er Nette ein Versprechen machte und dieses aus dienstlichen Gründen nicht einhalten konnte. Viel zu selten war es in der Vergangenheit vorgekommen, dass ein pünktlicher Dienstschluss ihr Zusammenleben erleichtert hätte. Doch Nette trug es mit Fassung und Verständnis für seinen Beruf. Allein, dass er sich gerade jetzt, nach ihrer Intensivbehandlung, mehr um sie kümmern wollte, machte sie glücklich. Dennoch wusste sie heute schon, dass auch in Zukunft keine Änderung der gewohnten Situation eintreten würde. Thalbach liebte seinen Beruf und er würde Tage und Nächte opfern, um zu einem Erfolg zu kommen, das war auch Nette bewusst.

Thalbach löste den Blick von seinem Spiegelbild und öffnete eine Schublade des Waschtischs. Er kramte missmutig eine Zeitlang darin, bis er das Gewünschte in der Hand hielt: einen blutstillenden Alaunstift. Er führte die Spitze an die kleine Wunde und zuckte bei der schmerzhaften Berührung kurz zurück, ehe er die Zähne zusammenbiss und die Prozedur bis zum Ende durchführte.

Aus dem Wohnzimmer hörte er die Schläge der Standuhr. Halb sieben am Abend. Er musste sich beeilen. Nette wartete im Wohnzimmer auf ihn. Endlich hatte es sich einmal ergeben, dass sein Dienst nicht zwischen ihm und irgendwelchen privaten Vorhaben stand. Heute hatte er Nette zum Essen eingeladen. Sie hatten sich auf den Chinesen geeinigt, und so freuten sie sich auf Frühlingsrolle, süßsaure Hühnersuppe, Chop-Suey und andere Leckereien. Dazu einen Sake und vielleicht sogar einen guten französischen Wein, den es auch beim Chinesen gab. Es sollte aus seiner Sicht auch ein versöhnliches Dinner sein, eine Art Entschuldigung für viele versäumte Stunden und abgesagte Treffen, die den dienstlichen Belangen nachstehen mussten.

Es sollte ein schöner Abend werden.

Doch es kam anders.

Thalbach trocknete sein Gesicht ab und schaute nervös auf seine Armbanduhr. 18:40 Uhr. Er musste sich beeilen. Schnell schlüpfte er in Hose und Hemd, band seine Krawatte um, schnürte die Schuhe und kämmte abschließend das wellige Haar nach hinten. Er schnappte sich sein Jackett, warf es sich über den Arm, um sich nach nebenan zu Nette zu begeben.

Just in diesem Moment läutete das Telefon. Das Display des Smartphones zeigte das Konterfei von Oberkommissar Alexander Laufenberg, neben Kommissarin Simone Esslinger ein Kollege in seinem Team, mit dem er schon manche Schlachten geschlagen hatte. Er sah schulterzuckend zu Nette, die bereits jetzt resignierend die Arme anhob und sich erhob. Sie winkte Julian kurz zu, mit einem Lächeln, das ihre Enttäuschung verbergen sollte und schickte sich an, die Wohnung zu verlassen. Sie wohnte immer noch in ihren eigenen vier Wänden; sie wollten es beide so, und nur ab und zu trafen sie sich bei Thalbach und, eher selten, in der Wohnung Nettes.

„Was ist los, Laufenberg? Heute ist Sonntag. Sagen Sie erst gar nichts. Wenn es etwas Dienstliches ist, wenden Sie sich an einen anderen Kollegen. Ich bin auf dem Sprung ...“

„Chef, Sie müssen kommen. Sofort. Es ist jetzt das eingetreten, von dem wir erhofft hatten, dass es nie eintreten werde.

„Was reden Sie da, Laufenberg?“ Thalbachs Gedanken waren seinem angeblich freien Abend zugewandt und dieser Anruf war nur eine kleine Störung in seinen Vorbereitungen. Doch die Ausdrucksweise Laufenbergs ließ ihn aufhorchen. „Was ist denn so Schlimmes eingetreten?“

„Es hat einen Toten gegeben, hier in der Stadt, ein … wie soll ich sagen? Ein … Migrant … ist ermordet worden. Ein Flüchtling, wahrscheinlich einer aus dem Auffanglager.“

Thalbach drehte seinen Kopf in Richtung Nette, die sich abwartend an der Tür noch einmal umgedreht hatte, und fragte ungehalten: „Ja und? Was ist das denn Besonderes? Mord ist Mord. Kümmert Euch darum. Ich habe frei heute.“

„Aber Chef, haben Sie es denn vergessen?“

Thalbach sah vor seinem geistigen Auge förmlich, wie Laufenberg am anderen Ende der Leitung verzweifelt mit dem freien Arm ruderte.

„Was soll ich vergessen haben, Laufenberg?“ Thalbach kniff die Augen zusammen und versuchte sich an etwas zu erinnern, von dem er nicht wusste, woran er sich erinnern sollte.

„Na, die Bereitschaft, heute, Chef. Erinnern Sie sich nicht? Sie haben sie übernommen. Von Wagner. Peter Wagner.“

Bereitschaft? Wagner?

Dann fiel es ihm wieder ein. Verdammt, ja! Das hatte er völlig vergessen. Eigentlich hatte Wagner heute Bereitschaft. Der hatte ihn gebeten, sie für ihn zu übernehmen. Das war letzte Woche gewesen. Wagners Tante war in einem benachbarten Ort gestorben, dort, wo sie einen großen Teil ihres Lebens verbracht hatte.

„Sie hat mich in ihrem Erbe bedacht, Julian. Es würde sich nicht schicken, wenn ich ihrer Beerdigung fernbliebe. Meine Bereitschaft, würdest du sie übernehmen? Bitte!“, hatte Wagner ihn angefleht.

„Wir brauchen Sie hier, Chef.“ Thalbach spürte die Aufgeregtheit seines Kollegen durch das Telefon. „Die Kollegen der Bereitschaft haben heute Nachmittag die männliche Leiche aus dem Fluss gezogen, unten, an der Südbrücke. Der Tod sei mindestens vor drei Tagen eingetreten, sagt Dr. Kämmerlein.“

„Ist der Mann ertrunken?“

Es war eine dumme Frage, das merkte er selbst sofort, denn diese Tatsache würde nicht die Erregtheit Laufenbergs erklären. Er sah in Richtung Nette und hörte, wie aus der Ferne, die Stimme Laufenbergs.

„Nein. Ist er nicht. Der Tote hat drei Kugeln in der Brust. Nein, besser gesagt, im Rücken. Er ist erschossen worden. Chef, können Sie gleich zur Dienststelle kommen? Der Bereitschaftsdienst des Dauerdienstes ist noch hier und kann Einzelheiten über die Auffinde-Situation geben.“

Thalbach hatte während des gesamten Gesprächs Nette im Blick und so stellte er jetzt auch fest, dass sie sich langsam in Richtung der Ausgangstür bewegte. Sie winkte ihm kurz zu, dann war sie aus seinem Blickwinkel verschwunden.

„So eine Scheiße“, wetterte er in das Telefon, dem unwissenden Laufenberg entgegen. „Sie haben uns den ganzen Abend versaut. Nette ist … ach, was soll’s. Ist in Ordnung“, seufzte Thalbach. „Ich bin in zehn Minuten dort.“

Er schnappte sich die Jacke, die er während des Gesprächs über einen Sessel gelegt hatte und eilte die Treppe hinab zum Ausgang. Wenige Minuten später saß er in seinem Auto und fädelte sich in den spärlichen sonntäglichen Abendverkehr ein.

Der Duft von Milch und Honig

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