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1. Vorgeschichte

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Das Wort »Analyse« stammt vom griechischen analysis, das so viel bedeutet wie »auflösen«. Fast von Beginn an waren zwei Vorstellungen von Analyse von zentraler Bedeutung für die Philosophie (vgl. Beaney 2003). Die erste leitet sich von der sokratischen Suche nach Definitionen für Begriffe wie »Tugend« und »Wissen« ab. Doch auch bei Platon, der von »Zerlegung« spricht, spielt sie eine wichtige Rolle. Eine solche dekompositionelle oder »progressive« Analyse findet vor allem auf das Anwendung, was wir heutzutage Begriffe nennen. Sie besteht in der Zergliederung oder Auflösung eines bestimmten Begriffs in die Begriffe, die seine Bestandteile bilden und die ihrerseits zur Definition des komplexen Begriffs verwendet werden können. So wird etwa der Begriff des Menschen – das Analysandum – in den Begriff des Lebewesens und den der Vernünftigkeit zerlegt, was die Definition des Menschen als eines vernünftigen Lebewesens ergibt, das Analysans. Während die Klasse der Menschen in der Klasse der Lebewesen als eine echte Teilmenge enthalten ist, enthält der Begriff des Menschen den Begriff des Lebewesens, insofern als Letzterer Teil der Erklärung des Ersteren ist.

Die zweite Vorstellung stammt aus der griechischen Geometrie und ist bei Aristoteles vorherrschend. Diese regressive Analyse, wie man sie nennen könnte, wird hauptsächlich auf Aussagen angewandt. Vor diesem Hintergrund wird die analytische Philosophie manchmal fälschlicherweise als ein deduktives Unterfangen verstanden, das mittels formaler Beweise aus Axiomen und Definitionen Theoreme ableitet. Bis hin zu Kant war dieses typischerweise mathematische Verfahren der Ableitung von Folgerungen aus ersten Prinzipien und Axiomen als die synthetische Methode bekannt. Im Gegensatz dazu beginnt die analytische Methode mit einer noch zu beweisenden Aussage und schließt auf erste Prinzipien, von denen diese als Theorem abgeleitet werden kann. Was die dekompositionelle und die regressive Analyse verbindet, ist die Vorstellung, dass man mit etwas Gegebenem beginnt (einem zu analysierenden Begriff bzw. einer zu beweisenden Aussage) und anschließend etwas Grundlegenderes ausfindig macht (die Bestandteile des Analysandums oder die Axiome, aus denen das Theorem abzuleiten ist), wovon es abgeleitet werden kann.

Während Spinoza danach trachtete, Begründungen »more geometrico« zu liefern, sah Descartes die Synthese lediglich als Methode zur Darstellung eines Beweises an. Die Entdeckung neuer Einsichten ist dagegen analytisch und besteht im Auffinden der »einfachen Naturen«, aus denen die Wirklichkeit besteht, sowie der Axiome (der »primären Begriffe«), welche die zwischen diesen bestehenden Verbindungen vorgeben (Meditationen, Zweite Erwiderung). Leibniz ging sogar noch weiter. Ihm zufolge ist bei allen wahren Aussagen das Prädikat im Subjektbegriff enthalten, daher können sie bewiesen werden, indem man Letzteren analysiert. Jede Wahrheit kann auf eine »identische Wahrheit« zurückgeführt werden, indem man Definitionen verwendet, die sich aus solchen Analysen ergeben. So können beispielsweise arithmetische Gleichungen auf »identische Wahrheiten« zurückgeführt werden, indem man die Tatsache ausnutzt, dass jede natürliche Zahl als ihr Vorgänger plus eins definiert werden kann. Zum Beispiel:

7 = Def. 6 + 1; 5 = Def. 4 + 1 und 12 = Def. 11 + 1.

Auf dieser Grundlage kann

(1) 7 + 5 = 12

zu

(1’) (6 +1) + (4 +1) = 11 + 1

umgeformt werden, und so weiter, bis wir

(1*) (1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1) + (1 + 1 + 1 + 1 + 1)

= 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1 + 1

erreichen. Leibniz suchte nach einer characteristica universalis, einer wissenschaftlichen Notation, die sowohl für die analytische Methode der Entdeckung (das Definieren maßgeblicher Begriffe durch dekompositionelle Analyse) als auch für die synthetische Methode des Beweises (der Ableitung eines Theorems mittels solcher Definitionen) einen Algorithmus liefern würde.

Während Leibniz die logische und Descartes die ontologische Analyse propagierte, war das bevorzugte Werkzeug der britischen Empiristen die psychologisch-epistemologische Analyse, insbesondere bei Lockes Vorhaben, »komplexe Vorstellungen« in »einfache Vorstellungen« zu zerlegen (Versuch über den menschlichen Verstand, II, 2, 22) oder James Mills Analysis of the Phenomena of the Human Mind (1829). Ihr Ziel bestand nicht in erster Linie darin, die Grundbestandteile der Wirklichkeit im Allgemeinen zu entdecken, sondern vielmehr die des Geistes, und darin zu zeigen, dass diese aus der Sinneserfahrung stammen.

Bei Kant weicht die Zerlegung geistiger Vorkommnisse der Analyse geistiger Vermögen wie dem der Sinnlichkeit, des Verstandes und der Vernunft. Die Transzendentale Analytik ist eine »Logik der Wahrheit«. Sie liefert insofern einen »negativen Prüfstein«, als sie die Prinzipien der Erkenntnis untersucht, denen kein empirische Urteil widersprechen kann, ohne dass es seinen Bezug auf Gegenstände verliert, und dadurch auch seinen Status als Träger eines Wahrheitswerts – was heutzutage seine Wahrheitseignung genannt wird. Demgegenüber ist die Transzendentale Dialektik eine »Logik des Scheins«; sie legt die Fehlschlüsse bloß, zu denen die Vernunft neigt, wenn sie über Gegenstände urteilt, die jenseits aller möglichen Erfahrung liegen (KrV B 85–7).

Kant gebraucht »analytisch« außerdem im Zusammenhang mit der dekompositionellen Analyse (B 1–3, 10–15). In einem analytischen Urteil ist das Prädikat im Subjektbegriff zumindest implizit schon enthalten, wie etwa in

(2) Alle Körper sind ausgedehnt.

Im Gegensatz hierzu fügt das Prädikat eines synthetischen Urteils wie

(3) Alle Körper sind schwer

dem Subjektbegriff etwas hinzu statt bloß explizit zu machen, was er implizit enthält. Die Analytisch-Synthetisch-Unterscheidung ist verbunden mit der Unterscheidung zwischen einer Erkenntnis a posteriori, die sich auf Erfahrung gründet – sei es auf eine Beobachtung oder ein Experiment –, und einer Erkenntnis a priori. Anders als die von Rationalisten postulierten und von Empiristen geleugneten angeborenen Ideen sind apriorische Urteile nicht hinsichtlich ihres Ursprunges, sondern in Bezug auf ihre Gültigkeit erfahrungsunabhängig. Obgleich wir selbst ein apriorisches Urteil wie (1) erlernen müssen, können wir seine Wahrheit allein durch Berechnung demonstrieren, ohne dazu auf Erfahrung zurückgreifen zu müssen.

Die Metaphysik erhebt den Anspruch – anders als die empirischen Wissenschaften (einschließlich Lockes »Physiologie des menschlichen Verstandes«) –, a priori und gleichzeitig – im Gegensatz zur formalen Logik – synthetisch zu sein, insofern als sie substantielle Behauptungen über die Wirklichkeit aufstellt (A ix, B 18). Leibniz ungeachtet ist Kant zuversichtlich, dass die Urteile der Arithmetik und Geometrie klare Beispiele synthetisch-apriorischer Erkenntnis sind. Selbst (1) ist synthetisch: Indem wir die Summe 7 + 5 denken, denken wir noch nicht das Ergebnis = 12, da wir ansonsten ja nicht rechnen müssten. Gleichzeitig erkennt Kant, dass die Vorstellung einer synthetischen Erkenntnis a priori auf den ersten Blick paradox ist. Wenn Erfahrung unsere einzige Möglichkeit ist, mit der Wirklichkeit in Berührung zu kommen, wie kann dann ein Urteil sowohl synthetisch sein, d.h. uns etwas über die Wirklichkeit sagen, als auch a priori, d.h. unabhängig von Erfahrung erkennbar sein?

Kant löst dieses Rätsel durch seine »kopernikanische Wende«: »dass wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« (B XVIII). Es gibt einen Unterschied zwischen unseren Erfahrungen und ihren Gegenständen, und während der Inhalt der Erfahrung a posteriori ist, ist die Form oder Struktur der Erfahrung hingegen a priori, da sie nicht durch den zufälligen Input der Gegenstände bestimmt wird, sondern durch den Erkenntnisapparat des Subjekts. Wir nehmen die Gegenstände als im Raum und in der Zeit befindlich wahr und als Zentren qualitativer Veränderungen, die kausalen Gesetzen gehorchen. Nach Kant handelt es sich hierbei nicht um kontingente Tatsachen bezüglich der Welt oder der menschlichen Natur, sondern um »transzendentale« Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, mit denen jeglicher Gegenstand der Erfahrung übereinstimmen muss. Metaphysische Urteile wie »Jedes Ereignis hat eine Ursache« sind wahr im Bezug auf die Gegenstände der Erfahrung (d.h. synthetisch) unabhängig von Erfahrung (d.h. a priori), da sie Bedingungen des Erfahrens von Gegenständen überhaupt zum Ausdruck bringen, Bedingungen, die gleichzeitig bestimmen, was es heißt, ein Gegenstand der Erfahrung zu sein.

Kants Dichotomien und seine Behauptung, dass es synthetische Erkenntnis a priori gebe, brachten eine Debatte über die Natur der Logik, der Mathematik und Metaphysik auf den Weg, die weiterhin von zentraler Bedeutung für die analytische Philosophie ist. Legt man einen noch größeren Maßstab an, so hat er das Selbstbild und die institutionelle Organisation der Philosophie selbst verändert. Vor Kant hat man die Philosophie als die »Königin der Wissenschaften« betrachtet. Sie lieferte den Bezugsrahmen für die Einzelwissenschaften, was auch der Grund dafür ist, dass die Physik »Naturphilosophie« genannt zu werden pflegte. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts trat jedoch ein unbestreitbarer Gegensatz zutage: Während die Metaphysik ein »Schlachtfeld« vergeblicher Kontroversen blieb (B XV), machten die Naturwissenschaften Fortschritte, indem sie empirische Forschung mit mathematischen Werkzeugen kombinierten. Damit war die Philosophie grundlegend in Frage gestellt: Kann sie sich eine unabhängige Rolle als eigenständige akademische Disziplin bewahren? Oder steht sie vor der schlichten Wahl, entweder Teil der Naturwissenschaften zu werden oder sich in einen Zweig der schöngeistigen Literatur zu verwandeln, der den Maßstäben von Wahrheit und Rationalität enthoben ist?

Nach Kant ist die Philosophie eine kognitive Disziplin, die sich jedoch von den empirischen Wissenschaften unterscheidet, da sie wie die Logik und die Mathematik Anspruch auf Erkenntnis a priori erhebt. Die landläufige Erklärung dieser besonderen Stellung wies er allerdings zurück. Den Platonisten zufolge untersucht die Metaphysik abstrakte Entitäten jenseits von Raum und Zeit, nach Ansicht der Aristoteliker erforscht sie das »Sein als solches«, die allgemeinsten Eigenschaften der Wirklichkeit, zu denen wir uns erheben, indem wir von den spezifischen Eigenschaften einzelner Gegenstände abstrahieren. Kant führte eine grundlegende Neuorientierung herbei, indem er darauf beharrte, dass die transzendentale Metaphysik »sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen« (B 25) beschäftigt. Wissenschaft und Common Sense beschreiben und erklären die materielle Wirklichkeit auf der Grundlage von Erfahrung. Die Philosophie hingegen ist apriorischer Natur, nicht weil sie Gegenstände von eigentümlicher Art beschreibt, ob es sich dabei nun um platonische Formen oder um aristotelische Wesenheiten handelt, sondern weil sie über die nichtempirischen Bedingungen unserer empirischen Erkenntnis gewöhnlicher materieller Gegenstände reflektiert.

Kant rehabilitiert lediglich eine »transzendentale« Metaphysik der Erfahrung, nicht die »transzendente« Metaphysik der Rationalisten, die nach einer Erkenntnis von Gegenständen jenseits aller möglichen Erfahrung strebt, wie Gott und der Seele. Er räumt mit den Anmaßungen der traditionellen Metaphysik auf, ohne das Projekt der Philosophie als einer Disziplin sui generis, die sich von den Einzelwissenschaften unterscheidet, aufzugeben. Leider hat diese ansonsten reizvolle Kombination ihren Preis, sie ist nämlich verbunden mit einer Form des Idealismus. Kant bestreitet weder die Existenz geistesunabhängiger Gegenstände noch behauptet er, dass der Geist die Natur erschaffe, ungeachtet der Karikatur, die sich bei manchen analytischen Exegeten findet. Er behauptet jedoch, dass der Geist der Wirklichkeit seine strukturellen Gesetze auferlege. Aus einer philosophischen Perspektive sind Raum, Zeit und Kausalität »ideal« und nicht »real«. Sie gelten nur für die »Erscheinungen«, für die Dinge, wie sie von uns erfahren werden können; sie gelten nicht für die »Dinge, wie sie an sich selbst sind«, von denen wir überhaupt nichts wissen können.

Dieser »transzendentale Idealismus« erzeugt zahlreiche Spannungen. Obwohl zum Beispiel Kausalität nur für Erscheinungen gelten soll, sind Letztere das Ergebnis davon, dass die Dinge an sich den Erkenntnisapparat des Subjekts kausal affizieren. Die deutschen Idealisten versuchten diese Spannungen zu überwinden, indem sie den Idealismus auf die Spitze trieben. Das Subjekt liefert nicht nur die Form der Erkenntnis, sondern auch ihren Inhalt. Die Wirklichkeit ist die Manifestation eines geistigen Prinzips, das den Geist der einzelnen Individuen transzendiert, wie etwa der »Geist« bei Hegel. Da die Wirklichkeit selbst durch und durch geistiger Natur ist, ist sie durch den Geist vollständig erfassbar. Erneut wird dadurch die Philosophie zur Überwissenschaft, die alle anderen Disziplinen umfasst. Jede wirkliche Erkenntnis ist a priori, da die Vernunft selbst scheinbar kontingente Tatsachen durch die »dialektische« Methode herleiten kann, die Kants scharfer Kritik zum Trotz rehabilitiert wurde.

Diese grandiosen Anmaßungen erwiesen sich als unvereinbar mit den raschen Fortschritten zunächst der Natur- und dann der Kulturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Das Ergebnis war der »Zusammenbruch des Idealismus« bald nach Hegels Tod im Jahr 1831. Zwei Hauptreaktionen traten hervor. Die eine war der Naturalismus. Die Naturalisten waren ihrer Ausbildung nach Physiologen, die den Niedergang des deutschen Idealismus als Bankrotterklärung jeglicher metaphysischer Spekulationen und apriorischer Folgerungen werteten. Sie behaupteten, dass alle Erkenntnis a posteriori sei, da die angeblich apriorischen Wissenszweige entweder auf empirische Disziplinen wie die Psychologie oder Physiologie zurückgeführt– ihr bevorzugter Standpunkt im Hinblick auf die Logik und Mathematik, teilweise angeregt durch John Stuart Mills radikalen Empirismus – oder als Illusion verworfen werden könnten – ihre bevorzugte Behandlung der Philosophie.

Die andere Reaktion war der Neukantianismus, eine Bewegung, die die deutsche akademische Philosophie zwischen 1865 und dem Ersten Weltkrieg dominierte. Wenn die Philosophie ihre Stellung als eine respektable Disziplin sui generis aufrechterhalten wollte, musste sie den hoffnungslosen Wettbewerb mit den Einzelwissenschaften aufgeben. Mit dem Schlachtruf »Zurück zu Kant!« kehrten die Neukantianer zu der Vorstellung zurück, dass die Philosophie eine Disziplin zweiter Ordnung sei. Sie untersucht weder eine angebliche Realität jenseits der den Wissenschaften zugänglichen Wirklichkeit, noch steht sie mit ihnen im Wettbewerb um die Erklärung empirischer Realität. Stattdessen klärt sie die logischen, begrifflichen und methodologischen Bedingungen empirischer Erkenntnis sowie die Bedingungen nichtphilosophischer Denkweisen ganz allgemein.

Was ist analytische Philosophie?

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