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3. Die Rebellion gegen den Idealismus

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Als Bertrand Russell im Jahre 1903 dieses Paradox formulierte, war er gerade selbst dabei, ein logisches System zu entwickeln, das dem von Frege sehr ähnlich war. Er bemühte sich, den Logizismus durch eine Typentheorie vor diesem Paradox zu bewahren, einer »bestimmten Menge von Regeln zur Entscheidung, ob eine gegebene Reihe von Wörtern sinnvoll ist oder nicht« (1903: xi). Diese Theorie untersagt als »bedeutungslos« (oder verbietet mit dem Hinweis darauf, dass diese bedeutungslos sind) Formeln, die von einer Menge x sagen, was nur von den Elementen von x gesagt werden kann, insbesondere dass x ein Element von x selbst ist (oder nicht ist). Das Ergebnis war letztendlich Russells und Whiteheads Principia Mathematica (1910–13). Darin lieferten sie eine definitive Formulierung des Logizismus, was den Ausgangspunkt für die rasche Weiterentwicklung der formalen Logik bildete. Ironischerweise versetzte eines der daraus resultierenden Ergebnisse dem logizistischen Projekt einen heftigen Schlag. Gödels »Unvollständigkeitstheorem« (1931) zufolge kann kein logisches System, das stark genug zur Ableitung der Arithmetik ist, seine eigene Widerspruchsfreiheit beweisen. Deshalb gibt es kein System mit selbstevidenten und beweisbar widerspruchsfreien Axiomen, das dazu in der Lage wäre, alle mathematischen Wahrheiten zu generieren, was gegen den epistemischen Anspruch spricht, der hinter dem Logizismus stand, nämlich die Grundlagen der Mathematik gegen jede vorstellbare Bedrohung durch Zweifel oder Widerspruch abzusichern. Infolgedessen liegt die Bedeutung des Logizismus für die gegenwärtige Philosophie mehr in dessen Nebeneffekten im Hinblick auf die Methoden logischer Analyse als im Erreichen seines ursprünglichen Ziels.

Ebenso wie Frege fasste Russell sein formales System als eine »Idealsprache« auf, welche die offensichtlichen logischen Mängel natürlicher Sprachen wie Doppeldeutigkeit, Unbestimmtheit, misslungene Bezugnahme und Kategorienverwechslung vermeidet. Indessen waren seine Interessen weiter gespannt. Er wandte die neuen logischen Techniken nicht nur auf die Grundlagen der Mathematik an, sondern auch auf die traditionellen Probleme der Erkenntnistheorie und Metaphysik. Ja, er hoffte sogar, dass sie die Philosophie als Ganzes auf den sicheren Pfad der Wissenschaft versetzen würden. Der Grund für diesen umfassenderen Wirkungsbereich liegt in Russells intellektuellen Wurzeln. Obwohl er zunächst als Mathematiker ausgebildet wurde, hatte er auch ein Philosophiestudium absolviert und war zudem beeinflusst von einem philosophischen System, nämlich dem durch Bradley und McTaggart verkörperten »britischen Idealismus«.

Der britische Idealismus war eine verspätete Assimilierung des deutschen Idealismus, der zwischen den 1870er und 1920er Jahren in Großbritannien vorherrschend war. Nach Auffassung der britischen Idealisten führt die Ansicht, dass es geistesunabhängige Einzeldinge gebe, zu Widersprüchen, die durch die hegelsche Dialektik bloßgelegt werden konnten. Common Sense und Wissenschaft sind bestenfalls »teilweise« oder »in einem relativen Sinne wahr« und ihre Ergebnisse bedürfen einer näheren Bestimmung durch die Philosophie. Nach Bradley sind die einzelnen Dinge bloße Erscheinung und die ihnen zugrunde liegende Realität ist ein einziges unteilbares Ganzes, das alles umfassende hegelsche »Absolute«. Insofern als man irgendwelche Aspekte dieses Ganzen unterscheiden kann, sind die Beziehungen zwischen ihnen notwendig oder »intern«, d.h., sie sind konstitutiv für diese Beziehungen und nicht kontingent oder »extern« (Passmore 1966: Kap. 3–4).

Russell und der zur gleichen Zeit in Cambridge lehrende G. E. Moore hatten anfangs mit dem britischen Idealismus sympathisiert. Ihre »Rebellion« gegen diesen stellte einen entscheidenden Moment in der Entstehung der analytischen Philosophie dar.

Gegen Ende des Jahres 1898 kam es bei George Edward Moore und mir zur Rebellion gegen Kant und Hegel. Moore ergriff die Initiative, und ich schloss mich ihm an … Ich empfand eine große Befreiung, als wäre ich einem Treibhaus entkommen auf eine windgepeitschte Landspitze … Im ersten Überschwang der Befreiung wurde ich zum naiven Realisten und frohlockte bei dem Gedanken, dass Gras wirklich grün ist. (dt. 1988: 55/1959: 42)

In Moores Augen deutet die monistische Weigerung, externe Relationen zwischen unabhängigen Gegenständen anzuerkennen, darauf hin, dass hier Gleichheit und Verschiedenheit verwechselt werden. Zudem laufe sie der Einsicht des gesunden Menschenverstandes zuwider, dass manche Tatsachen kontingenter Natur sind. Er warf dem Idealismus außerdem einen »zu psychologischen Standpunkt« (1898: 199) vor. Zum einen mache Kants kopernikanische Revolution apriorische Wahrheiten fälschlicherweise von der Natur des menschlichen Geistes abhängig, der etwas Kontingentes ist. Zum anderen sei die Frage, ob eine Aussage wahr ist, nicht gradueller Natur und darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob sie für wahr gehalten oder als wahr erkannt wird. Und schließlich seien die Gegenstände der Erkenntnis und des Denkens keine psychologischen Phänomene im Geist eines Individuums. Sie seien Propositionen, Komplexe von Begriffen, die unabhängig davon existieren, ob sie gewusst oder gedacht werden. Obwohl Moore und Russell die von den Idealisten vertretene Kohärenztheorie der Wahrheit verwarfen, der zufolge eine Proposition genau dann wahr ist, wenn sie Teil eines kohärenten Systems von Aussagen ist, sprachen sie sich nicht sofort für eine Korrespondenztheorie aus. Ihnen zufolge stimmt eine wahre Proposition nicht mit einer Tatsache überein, sie ist eine Tatsache und deshalb selbst Teil der Wirklichkeit. Ebenso würden die Begriffe, die in Propositionen vorkommen, unabhängig von unserem Geist und seiner Tätigkeit existieren (Moore 1899: 4–5).

Auf den ersten Blick hatten die britischen Idealisten zwingende Argumente für ihre paradoxen Antworten auf philosophische Fragen. Angesichts dessen beharrte Moore darauf, dass die Fragen selbst in Frage gestellt werden müssten. Die »Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten«, welche die Philosophie plagen, verdankten sich hauptsächlich

dem Versuch, Fragen zu beantworten, ohne vorher genau herauszufinden, was für eine Frage es ist, die man beantworten möchte … [Philosophen] versuchen ständig zu beweisen, dass »Ja« oder ein »Nein« Fragen beantworten, für die keine der beiden Antworten die richtige ist … (dt. 1970: 3/1903: vi).

Nach Moore bedarf die Philosophie nicht überwältigender Dialektik, sondern des gesunden Menschenverstandes und der sorgfältigen Analyse: »Eine Sache wird erst dann verständlich, wenn sie in die sie konstituierenden Begriffe analysiert ist« (1899: 182). Er betrachtete die Analyse als eine Zerlegung komplexer Begriffe – einschließlich Propositionen – in einfachere Begriffe, und zwar mittels Definitionen.

Russell war in seinem Lob der Analyse noch überschwänglicher. Er behauptete apodiktisch, dass »alle vernünftige Philosophie mit logischer Analyse« beginne und dass diese Einsicht »die gleiche Art von Fortschritt« darstelle, »wie er durch Galileo in der Physik eingeleitet wurde« (1900: 8; 1914: 14; vgl. auch 68–69). Rückblickend schrieb er:

Seit meiner Abwendung von Kant und Hegel bin ich stets bemüht geblieben, die Lösung philosophischer Probleme auf dem Wege analytischer Klärung zu suchen; und ich bin (ungeachtet einiger neuerer Tendenzen, die dem widersprechen) nach wie vor fest davon überzeugt, dass wir es nur mit den Mitteln der Analyse zu echten Fortschritten bringen. (dt. 1988: 13/1959: 11)

Während es Moore hauptsächlich darum ging, die idealistische Leugnung geistesunabhängiger Gegenstände zu bekämpfen, bestand Russells Schreckgespenst in der monistischen Leugnung einer Pluralität von Entitäten. In Russells Augen gab es zwei Arten von Philosophen: jene, die wie Bradley die Welt als eine Schüssel mit Wackelpudding, als ein unteilbares Ganzes, ansahen, und jene wie ihn selbst, der sie sich als einen Kübel voller Schrot dachte, bestehend aus einzelnen physischen oder logischen Atomen (Monk 1996a: 114).

Anfänglich charakterisierte Russell die Analyse als eine Art Zerlegung, nämlich als die Identifikation der einfachen Teile geistesunabhängiger, nichtsprachlicher Komplexe (1903: xv, 466). Aus demselben Grund übernahm er eine üppige Ontologie, die derjenigen von Moore und Meinong sehr ähnlich war. Als real erkannte er all die Dinge an, für die unsere bedeutungsvollen Ausdrücke zu stehen scheinen, was nicht nur abstrakte Gegenstände einschließt, sondern auch fiktionale Entitäten wie die homerischen Götter und unmögliche Entitäten wie das runde Quadrat.2

Russells Auffassung von Analyse war indes auch von der bereits erwähnten Entdeckung inspiriert, dass mathematische Begriffe wie Unendlichkeit und Kontinuität auf eine Weise definiert werden könnten, die nicht zu den von den Hegelianern diagnostizierten Widersprüchen führt. Ebenso wie Frege, aber anders als Moore, war Russell ein Pionier der logischen und nicht der begrifflichen Analyse. Mithilfe dieser neuen Logik konnten philosophisch rätselhafte Aussagen in einer formalen Sprache paraphrasiert werden. Oder genauer gesagt, mittels der Analyse kann nachgewiesen werden, dass allgemein akzeptierte Aussagen uns nicht auf die Existenz zweifelhafter Entitäten verpflichten. Dadurch konnte sich Russells »robuster Sinn für Realität« (1919: 170) behaupten.

Nach Frege hat ein Satz der Form »Der F ist G« zwar einen Sinn, aber keine Bedeutung, falls kein F existiert. Aus diesem Grund drückt

(7) Der gegenwärtige König von Frankreich ist glatzköpfig

zwar einen Gedanken aus, dieser hat jedoch keinen Wahrheitswert, d.h., er ist weder wahr noch falsch. Russell lehnte Freges Unterscheidung von Sinn und Bedeutung ab. Seine berühmte Kennzeichnungstheorie analysierte solche Sätze als quantifizierte Konjunktionen, nämlich

(7’) Es gibt nur ein Ding, das ein gegenwärtiger König von Frankreich ist, und jedes Ding, das ein gegenwärtiger König von Frankreich ist, ist glatzköpfig.

In formaler Notation wird (7) so ausgedrückt:

(7*) 9x((x ist ein gegenwärtiger König von Frankreich & 8y(y ist ein gegenwärtiger König von Frankreich → y = x)) & x ist glatzköpfig.

Ausdrücke wie definite Kennzeichnungen (»der Soundso«) sind »unvollständige Symbole«. Sie haben keine selbständige Bedeutung – sie stehen für nichts; aber sie können im Kontext des sinnvollen Satzes, in dem sie vorkommen, paraphrasiert werden.

Die Kennzeichnungstheorie wurde von Frank Ramsey als »Paradigma der Philosophie« (1931: 263) bezeichnet, da sie scheinbar in der Lage war, altehrwürdige Rätsel bezüglich Existenz und Identität zu lösen. Die Analyse galt damit nicht mehr nur als reine Zerlegung von Entitäten, die durch die Terme eines Satzes bezeichnet wurden; man verstand darunter nun die Umwandlung eines ganzen Satzes in einen Satz, aus dem die unvollständigen Symbole eliminiert worden waren. Eine solche Analyse zielt darauf ab, die wahre logische Form von Aussagen und Tatsachen zu ermitteln, eine Form, die sich beträchtlich von der oft missverständlichen grammatischen Form des Satzes in der Umgangssprache, der die Tatsache zum Ausdruck bringt, unterscheiden kann. Russell stellte die logische Analyse in den Dienst eines reduktionistischen Projekts. Im Geiste von Ockhams Rasiermesser und früherer Empiristen wird die unnötige Verdinglichung von Gegenständen der Rede dadurch vermieden, dass man die lästigen Ausdrücke weganalysiert (1956: 233; vgl. Hylton 1990: Kap. 6; Hacker 1996: 9–12). Allgemeiner formuliert verfolgte er ein metaphysisches Ziel mithilfe von logischen Mitteln: Angemessen analysierte wahre Sätze sollen zu den Tatsachen isomorph sein, die sie ausdrücken; und deshalb kann die logische Analyse die Grundbestandteile und Strukturen der Realität enthüllen.

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