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Kapitel 1
Einleitung
ОглавлениеDie analytische Philosophie ist etwa 100 Jahre alt, und sie hat in der Philosophie der westlichen Welt inzwischen eine Vormachtstellung erlangt (Searle 1996: 1–2). Schon seit Jahrzehnten dominiert sie die Englisch sprechende Welt; in den deutschsprachigen Ländern ist sie auf dem Vormarsch und selbst an Orten, die ihr einst feindlich gesinnt waren, wie etwa Frankreich, hat sie beträchtlich an Einfluss gewonnen. Gleichzeitig hört man ständig Gerüchte über den »Niedergang« der analytischen Philosophie, Gerüchte, denen zufolge sie »tot« ist oder sich zumindest in einer »Krise« befindet, sowie Beschwerden über ihre »weithin beobachteten Missstände« (Leiter 2004a: 1, 12; Biletzki und Matar 1998: xi; Preston 2004: 445–447, 463–464). Doch nicht nur unter ihren Kritikern, sondern auch unter ihren Hauptvertretern ist die Ahnung einer Krise spürbar. Von Wright stellte fest, die analytische Philosophie sei in ihrem Aufstieg von einer revolutionären Bewegung zum philosophischen Establishment so vielgestaltig geworden, dass sie dabei ihr unverwechselbares Profil verloren habe (1993: 25). Diese Ansicht wird von vielen Beobachtern, die glauben, dass die traditionelle Unterscheidung zwischen analytischer und kontinentaler Philosophie obsolet geworden sei, geteilt (z.B. Glendinning 2002; May 2002; Bieri 2005).
Dass sie ihre Identität einbüßt, ist eine allgemeine Befürchtung; dass sie an Kraft verliert, eine andere. So hat Putnam wiederholt eine »Wiederbelebung und Erneuerung« der analytischen Philosophie gefordert (z.B. 1992: ix), und Hintikka hat behauptet, »das Überleben der analytischen Philosophie« erfordere einen Neuanfang, der sich auf konstruktive Weise die Möglichkeiten von Wittgensteins später Philosophie zunutze mache (1998). Searle ist einer der standhaftesten und kompromisslosesten Verteidiger der analytischen Philosophie. Doch auch er räumt ein, dass die analytische Philosophie in ihrer Entwicklung von einem »revolutionären Minderheitsstandpunkt« zur »konventionell vorherrschenden Anschauung« etwas »von ihrer Vitalität« verloren habe (1996: 23). Es ist also kaum verwunderlich, dass jene, die der analytischen Philosophie skeptischer gegenüberstehen, nun schon seit einiger Zeit ihre Verdrängung durch eine »postanalytische Philosophie« voraussehen (Rajchman und West 1985; Baggini und Stangroom 2002: 6; Mulhall 2002).
Eine solche Kombination aus Triumph und Krise ist keineswegs beispiellos. Aber sie liefert eine passende Gelegenheit, sich der Natur der analytischen Philosophie aus einer neuen Perspektive zu nähern. In den 1970er Jahren eröffnete Michael Dummett eine Debatte über die historischen Ursprünge der analytischen Philosophie mit der Behauptung, sie sei die »postfregesche Philosophie« und beruhe auf der Überzeugung, dass die Sprachphilosophie die Grundlage für die Philosophie im Allgemeinen bilde. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich die Gangart der Debatte beschleunigt. Neben Dummetts Ursprünge der analytischen Philosophie sind mehrere historische Studien zur analytischen Philosophie erschienen (Skorupski 1993; Hacker 1996; Stroll 2000; Baldwin 2001; Soames 2003), ausführliche Abhandlungen zu spezifischeren Aspekten (z.B. Hylton 1990; Stadler 1997; Hanna 2001) und mindestens sechs Aufsatzsammlungen zur Geschichte der analytischen Philosophie (Bell und Cooper 1990; Monk und Palmer 1996; Glock 1997c; Tait 1997; Biletzki und Matar 1998; Reck 2002). Falls Hegel Recht hat und die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug beginnt, dann muss die analytische Philosophie im Sterben liegen. Nun mag es kein schlechter Tod sein, an historischem Selbstbewusstsein zugrunde zu gehen. Aber selbst wenn das analytische Unternehmen vor der Abwicklung steht, sollte dieser Vorgang weniger einseitig vonstatten gehen.
Bis jetzt hat sich die Debatte über die Natur der analytischen Philosophie auf zwei Fragen konzentriert: Wer soll als der wahre Ahnherr der analytischen Philosophie gelten? Und an welchem Punkt entstand der Analytisch-Kontinental-Gegensatz?1 Zumindest in englischer Sprache sind bislang keine größeren Anstrengungen unternommen worden, derartige historische Fragen mit der Erklärung zu verknüpfen, was analytische Philosophie gegenwärtig ausmacht und worin sie sich von der sogenannten »kontinentalen« Philosophie unterscheidet. Der erste Teil von Jonathan Cohens Buch The Dialogue of Reason: An Analysis of Analytical Philosophy hält, was sein Untertitel verspricht. Aber mit seinem Hauptaugenmerk auf die Gegenwart steht es allein da, und die historische Dimension wird darin ausdrücklich außer Acht gelassen (1986: 6–7). Zudem hat es kaum etwas über die kontinentale Philosophie zu sagen. Die zeitgenössische Philosophie spaltet sich indes bekanntermaßen in zwei Traditionen auf, auf der einen Seite die analytische Philosophie, auf der anderen die kontinentale. Ungeachtet der schon mehr als vierzig Jahre dauernden Bemühungen um Dialog und Synthese existiert dieser Graben immer noch, sowohl in philosophischer als auch in soziologischer Hinsicht. Deshalb sollte eine Darstellung der analytischen Philosophie diese ihren Hauptalternativen gegenüberstellen, und zwar nicht allein am Punkt ihres Entstehens.
Dass die gegenwärtige Stellung der analytischen Philosophie vergleichsweise vernachlässigt wird, ist überraschend, und zwar nicht allein deshalb, weil die analytische Philosophie allgemein den Ruf genießt, ahistorisch zu sein. Bereits bei Dummett sind die historischen Fragen eng mit der Frage, was die analytische Philosophie ist, verknüpft und mit leidenschaftlichen Kämpfen um die Seele und Zukunft der analytischen Philosophie verbunden. Die meisten an dieser Debatte Beteiligten haben dazu tendiert, die analytische Philosophie als diejenige Philosophie zu identifizieren, die sie für richtig halten, und ich hoffe zu zeigen, dass diese Tendenz zu verschiedenen Verzerrungen geführt hat.
Ich habe mir vorgenommen, mich dem Thema auf eine Weise zu nähern, die eher analytisch und zugleich eher kontinental erscheinen mag. Eher analytisch, indem ich den Status und Zweck von Grenzziehungen zwischen philosophischen Traditionen hinterfrage, das Pro und Contra verschiedener Definitionen der analytischen Philosophie unvoreingenommen bewerte und einige der begrifflichen und methodologischen Probleme am Rande der Debatte diskutiere. Obschon ich die Tatsache, dass ich ein analytischer Philosoph bin, nicht verhehle, möchte ich mich mit dem Thema auseinandersetzen, ohne von vornherein anzunehmen, dass die analytische Philosophie auf jeden Fall guter Philosophie gleichzusetzen ist. Mit anderen Worten, mein Hauptanliegen in diesem Buch ist, einen Beitrag zur deskriptiven im Gegensatz zur präskriptiven Metaphilosophie zu leisten. In dieser Hinsicht unterscheidet sich mein Projekt von den ausdrücklich apologetischen Projekten von Cohen (1986: 1–2), Føllesdal (1997) und Charlton (1991). Das heißt nicht, dass ich Abstand davon nehme, die analytische Philosophie gegen etwaige Einwände zu verteidigen. Aber ich verleihe auch kritischen Einwänden, die mir wohlbegründet erscheinen, Nachdruck, indem ich Vorschläge vorlege, auf welche Weise die zeitgenössische analytische Philosophie verbessert werden könnte.
In jedem Fall wird sich meine Ansicht darüber, wie die analytische Philosophie praktiziert werden sollte, darauf stützen, dass ich zunächst einmal versuche zu verstehen, was diese Philosophie ausmacht. Meine Herangehensweise an das Thema mag insofern eher »kontinental« erscheinen, als ich auch dem historischen Hintergrund und den weiterreichenden kulturellen und politischen Implikationen der analytischen Philosophie sowie den sich entwickelnden Konflikten mit anderen Arten des Philosophierens Aufmerksamkeit schenke. Ich bin jedoch nicht ausschließlich oder primär an den Wurzeln der analytischen Philosophie interessiert, sondern daran, was sie gegenwärtig ausmacht, wozu auch der gegenwärtige Zustand des Analytisch-Kontinental-Gegensatzes gehört.
Meine Perspektive ist auch in einem wörtlich zu nehmenden Sinne eine kontinentale. Als Deutscher, der den größten Teil seines Berufslebens in Großbritannien verbracht hat, kann ich mir sprachliche Probleme kaum leisten; zugleich bin ich mir bewusst, dass es auch außerhalb der anglophonen Welt zeitgenössische analytische Philosophen gibt. Wie in einer Diaspora üblich, zeigen diese Philosophen eine stark ausgeprägte Selbstwahrnehmung, und über die letzten zwanzig Jahre hinweg haben sie verschiedene Gesellschaften und Zeitschriften gegründet, die sich der Förderung der analytischen Philosophie widmen. Die Absichtserklärungen dieser Unternehmungen stellen eine wichtige Informationsquelle dar, wenn es um das gegenwärtige Selbstbild der analytischen Philosophie geht; dasselbe gilt für einige Schriften für, wider und über die analytische Philosophie, die lediglich in so exotischen Sprachen wie Französisch, Deutsch und Italienisch verfügbar sind. Aufgrund der etwas groß angelegten Untersuchung werde ich gelegentlich dazu gezwungen sein, mich zu historischen, exegetischen und substanziellen Themen zu äußern, ohne meine Thesen im Detail zu begründen. Einige kontroverse Behauptungen werden in Fußnoten verteidigt, andere dagegen werden allein durch den Bezug auf die hierfür maßgebliche Literatur gestützt. Ich hoffe jedoch, dass es klar werden wird, wie meine Ansichten zu den allgemeinen Fragen, denen sich das Buch widmet, von den Ansichten zu diesen spezifischeren Problemen abhängen.