Читать книгу Was ist analytische Philosophie? - Hans-Johann Glock - Страница 15
2. Ein erstes Aufschimmern: Mathematik und Logik
ОглавлениеObwohl die Vorstellung, dass es sich bei der Philosophie um einen autonomen Wissenszweig handelt, durch den Erfolg der Einzelwissenschaften im 19. Jahrhundert unter Druck geriet, entstand dadurch gleichzeitig ein Bedürfnis nach Philosophie. Sowohl die Entstehung neuer Disziplinen als auch die rasche Umwandlung etablierter Fachbereiche warfen begriffliche und methodologische Probleme auf und lockten Wissenschaftler selbst auf philosophisches Terrain.
Nirgends ist dies offensichtlicher als bei den Grundlagen der Mathematik, die vor allem in Deutschland (Gillies 1999) zu einem sich eindrucksvoll entwickelnden Sachgebiet avancierten. Auf der einen Seite wurde die Mathematik zunehmend abstrakt und unabhängig von empirischen Anwendungen. Die Arithmetik war nicht mehr quantitativ und Weierstraß reinigte die Analysis von geometrischen Anschauungen und dem paradoxen Begriff der Infinitesimalen. Beide wurden »arithmetisiert«, indem ihre Grundbegriffe mithilfe natürlicher Zahlen und der mit ihnen ausführbaren Operationen definiert wurden. Auf der anderen Seite stellte die Einführung nichteuklidischer Geometrien und Nichtstandardalgebren die Gewissheit der Mathematik in Frage und bedrohte ihre traditionelle Stellung als Paradigma menschlichen Wissens. Es folgte eine »Grundlagenkrise«. Die Mathematiker kamen zu der Überzeugung, dass nicht so sehr die intuitive Wahrheit von Theoremen wichtig sei als vielmehr ihre wasserdichte Ableitung von Axiomen und Definitionen. Sie entwickelten zudem ein Interesse am Wesen der natürlichen Zahlen, das zu einem Durchbruch in der Zahlentheorie führte, etwa Dedekinds Definitionen der Unendlichkeit und Kontinuität und Cantors Erfindung der transfiniten Mengenlehre. Die gegenseitige Beeinflussung von Logik und Mathematik schließlich versprach Mittel, um sowohl die formale Strenge mathematischer Beweise zu erhöhen als auch die Grundlagen desjenigen Bereichs der Mathematik zu sichern, auf den alle anderen scheinbar zurückgeführt werden konnten.
Bei diesen Entwicklungen spielten mehrere Ahnen der analytischen Philosophie eine führende Rolle. Bernard Bolzano nahm um Jahrzehnte sowohl die Arithmetisierung der Infinitesimalrechnung als auch Resultate der Zahlen- und Mengentheorie vorweg, z.B. dass eine unendliche Menge eine ebenfalls unendliche Menge als eine echte Teilmenge enthalten kann (1851). Die wichtigste Innovation in Bolzanos formaler Logik war seine »Variationsmethode« (1837: 11 §§147–162), mittels derer untersucht werden kann, was mit dem Wahrheitswert einer komplexen Aussage geschieht, wenn wir einen ihrer Bestandteile – entweder einen Begriff oder eine weitere Aussage – verändern. Die Variation erlaubte es ihm, präzise Definitionen einer ganzen Reihe von logischen Begriffen zu liefern. Sein Begriff der Ableitbarkeit nahm Tarskis (1936) Begriff der logischen Folgerung vorweg und sein Konzept der »logisch-analytischen« Aussagen Quines Begriff der logischen Wahrheit (dt. 1980: 124, Fn./1960: 65, Fn.). In einer logischen Wahrheit »kommen« nur die logischen Partikel »wesentlich vor«. Das heißt: Wir können alle anderen Bestandteile willkürlich variieren, ohne eine Veränderung des Wahrheitswertes herbeizuführen. So können wir etwa in
(4) Brutus tötete Caesar oder Brutus tötete Caesar nicht
jede (gleichmäßige) Ersetzung aller Bestandteile außer »oder« und »nicht« vornehmen, und das Ergebnis wird immer noch wahr sein.
Bolzanos Philosophie der Mathematik (1810) geht auf Leibniz zurück. Die Arithmetik sei, bei allem Respekt gegenüber Kant, analytisch und gründe sich genauso wenig auf eine apriorische Anschauung der Zeit wie die Geometrie auf jene des Raums. Logische Strenge werde durch »rein analytische« Methoden erreicht, die keines Rückgriffs auf subjektive Intuitionen und bildliche Vorstellungen bedürfen. Derselbe Antisubjektivismus und Antipsychologismus leiten auch Bolzanos semantischen Platonismus, der jenen Freges und Moores vorwegnimmt. Er unterschied zwischen geistigen Urteilen, sprachlichen Sätzen und Aussagen (»Sätzen an sich«). Eine Aussage wie der pythagoräische Lehrsatz kann durch Sätze in unterschiedlichen Sprachen ausgedrückt werden. Er ist nicht in einer Sprache oder einem Kontext wahr oder falsch, sondern simpliciter, unabhängig davon, ob ihn jemals jemand wahr oder falsch nennt oder als wahr oder falsch beurteilt. Anders als Äußerungen oder Urteile haben Aussagen »kein wirkliches Dasein«, d.h., sie stehen außerhalb der kausalen Ordnung der raumzeitlichen Welt. Eine Aussage ist der Inhalt eines Urteils sowie der Sinn der Äußerung, die sie zum Ausdruck bringt. Ebenso müssen wir die Bestandteile von Aussagen – Begriffe oder »Vorstellungen als solche« – von den sprachlichen Bestandteilen von Sätzen und den geistigen Bestandteilen von Urteilen unterscheiden.
Trotz ihrer weitsichtigen Innovationen war Bolzanos formale Logik in entscheidender Hinsicht altmodisch. Er hielt an der syllogistischen Logik des Aristoteles fest, die alle Aussagen in Subjekt und Prädikat zerlegt. Die Anwendung mathematischer Ideen auf die Logik, die bisher der Philosophie vorbehalten war, führte aber auch zu ganz neuartigen formalen Systemen. Indem er sich die Analogie zwischen der Disjunktion und Konjunktion von Begriffen und der Addition und Multiplikation von Zahlen zunutze machte, mathematisierte George Boole die syllogistische Logik mithilfe von algebraischen Operationen mit Mengen und stellte somit die Logik als einen Zweig der Mathematik dar, die Algebra des menschlichen Denkens (1854: Kap. 1, 22).
Der Wendepunkt in der Entwicklung der formalen Logik kam jedoch mit Gottlob Freges Begriffsschrift von 1879. Freges System basierte nicht auf Algebra, sondern auf der Funktionentheorie. Ebenso wie Boole mathematisierte er die Logik. Weit davon entfernt jedoch, die Logik als Zweig der Mathematik darzustellen, bereitete er vielmehr dem Logizismus den Weg, einem Projekt, das darin bestand, der Mathematik sichere Grundlagen zu verschaffen, indem man sie von der Logik ableitete. Der Logizismus strebt danach, die Begriffe der Mathematik durch rein logische Ausdrücke wie dem der Menge zu definieren und ihre Aussagen aus selbstevidenten logischen Prinzipien abzuleiten.
Um dies zu erreichen, musste Frege die Einschränkungen der syllogistischen Logik überwinden. Seine Begriffsschrift liefert die erste vollständige Axiomatisierung der Logik erster Stufe (der Aussagen- und Prädikatenlogik) und präsentiert die mathematische Induktion als Anwendung eines rein logischen Prinzips. Die Grundidee besteht darin, Aussagen nicht in ein Subjekt und ein Prädikat zu zerlegen, wie es die Schulgrammatik und die aristotelische Logik tun, sondern in eine Funktion und ein Argument. Der Ausdruck »x2 + 1« stellt eine Funktion der Variablen x dar, da der Wert von x2 + 1 allein von den Argumenten abhängt, durch die wir x ersetzen. Es hat den Wert 2 für das Argument 1, 5 für das Argument 2, usw. Frege erweiterte diesen mathematischen Begriff, sodass Funktionen nicht nur Zahlen, sondern jegliche Art von Gegenständen als Argumente haben. So bezeichnet etwa der Ausdruck »die Hauptstadt von x« eine Funktion, die für das Argument Deutschland den Wert Berlin hat.
Aus ähnlichem Grund kann ein Satz wie
(5) Caesar eroberte Gallien
für die Argumente Caesar und Gallien als der Wert einer zweistelligen Funktion (oder eines »Begriffs«) x eroberte y angesehen werden. Frege zerlegte (5) nicht in das Subjekt »Caesar« und das Prädikat »eroberte Gallien«, sondern in den zweistelligen Funktionsausdruck »x eroberte y« und die beiden Argumentausdrücke »Caesar« und »Gallien«. In Freges ausgereiftem System sind Begriffe Funktionen, die Gegenstände auf einen »Wahrheitswert« abbilden. Der Wert des zweistelligen Begriffs x eroberte y ist also entweder »das Wahre« (z.B. für die Argumente Caesar und Gallien) oder »das Falsche« (z.B. für Napoleon und Russland), je nachdem, ob die resultierende Aussage wahr oder falsch ist.
Frege dehnte die Idee einer Wahrheitsfunktion auch auf Konjunktionen von Aussagen und Ausdrücke für Verallgemeinerungen aus. Die Negation zum Beispiel ist eine Wahrheitsfunktion, die einen Wahrheitswert auf den umgekehrten Wahrheitswert abbildet: »p« hat den Wert Wahr dann und nur genau dann, wenn (von nun an »gdw«) »~p« den Wert Falsch hat. In ähnlicher Weise wird
(6) Alle Elektronen sind negativ
nicht in das Subjekt »alle Elektronen« und das Prädikat »sind negativ« analysiert, sondern in den einstelligen Funktionsausdruck »wenn x ein Elektron ist, dann ist x negativ« und einen Allquantor (»Für alle x gilt, …«), der die Variable x bindet. »Alle Elektronen sind negativ« behauptet von jedem Ding im Universum, dass es, wenn es ein Elektron ist, auch negativ ist. Existenzaussagen (»Manche Elektronen sind negativ«) werden durch den Allquantor plus Negation ausgedrückt (»Nicht für alle x gilt, wenn x ein Elektron ist, dann ist x negativ«). Diese Quantoren-Variablen-Notation ermöglicht die Formalisierung von Aussagen, die mehrere Verallgemeinerungen zum Ausdruck bringen und von wesentlicher Bedeutung für die Mathematik sind. Sie erfasst zum Beispiel den Unterschied zwischen der wahren Aussage »Für jede natürliche Zahl gibt es eine Zahl, die größer ist« – »∀x∃y(y>x)« – und der falschen Aussage »Es gibt eine natürliche Zahl, die größer ist als alle anderen« – »∃y∀x(y>x)«. Sie ermöglicht es auch, die Fehlschlüsse im ontologischen Gottesbeweis aufzudecken. Anders als die Allmacht ist die Existenz nicht ein »Bestandteil« des Begriffes Gott, d.h. ein Merkmal, das Teil seiner Definition sein könnte. Es ist vielmehr eine »Eigenschaft« dieses Begriffs, die Eigenschaft nämlich, mindestens einen Gegenstand zu haben, der darunter fällt. »Gott existiert« schreibt nicht einem Gegenstand eine Eigenschaft zu, sondern einem Begriff. (Seine Form ist »∃xGx« und nicht »Eg«.)
Frege ging es dabei ausschließlich um den logischen »Inhalt« von Zeichen, nicht um ihre »Färbung«, d.h. die Assoziationen, die sie in unserer Vorstellung hervorrufen. In »Über Sinn und Bedeutung« (1892) unterschied er zwei Aspekte dieses Inhalts: ihre Bedeutung, d.h. den Gegenstand, auf den sie sich beziehen, und ihren Sinn, die »Art des Gegebenseins« dieses Bezugsgegenstands. Während die Vorstellungen, die ein Einzelner mit dem Zeichen verbindet, subjektiv (seelischer Natur) sind, ist sein Sinn objektiv. Er wird durch jeden erfasst, der das Zeichen versteht, aber er existiert unabhängig davon, ob er erfasst wird. Die Bedeutung eines Satzes ist sein Wahrheitswert, sein Sinn ist der »Gedanke«, den er ausdrückt. Ebenso wie Wahrheitswerte und Begriffe sind auch Gedanken geistesunabhängige, abstrakte Entitäten. Sie sind wahr oder falsch, unabhängig davon, ob sie von jemandem erfasst oder geglaubt werden, und sie können von verschiedenen Individuen geteilt und mitgeteilt werden. Frege macht sich diese Binsenweisheiten zunutze, nicht nur um den Psychologismus zu bekämpfen, sondern auch um eine Drei-Welten-Ontologie zu errichten (die später von Popper neu belebt wurde). Gedanken sind »unwirklich«, d.h. nicht-räumlicher Natur, unzeitlich, nicht wahrnehmbar und dennoch »objektiv«. Sie bewohnen ein »drittes Reich«, einen »Bereich« jenseits von Raum und Zeit, der sich vom »ersten Reich« der privaten Vorstellungen (des individuellen Geistes) und vom »zweiten Reich« der materiellen Gegenstände, die sowohl objektiv und wirklich sind, unterscheidet.
Obwohl arithmetische Aussagen nach Frege a priori sind, sind sie analytisch in dem Sinne, dass sie allein mittels logischer Axiome und Definitionen beweisbar sind. In den Grundlagen der Arithmetik (1884) kritisierte er auf glänzende Weise sowohl Kants Vorstellung, dass die Arithmetik auf apriorischer Anschauung beruht, als auch Mills empiristische Ansicht, dass sie auf induktiven Verallgemeinerungen basiert. Er stellte sich auch dem Hauptkritikpunkt, dem sich der Logizismus gegenübersah, indem er den Begriff der Kardinalzahl mithilfe des logischen Begriffs der Menge definierte. Freges Logizismus erreichte seinen Höhepunkt in seinen Grundgesetzen der Arithmetik (1893 und 1903). Leider scheiterte er, weil er unbeschränkten Gebrauch von Mengen machte, die andere Mengen als ihre Elemente enthalten, und deshalb das berüchtigte Paradox der Menge aller Mengen hervorbrachte, die sich nicht selbst als Element enthalten.