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3.3 Treuepflicht
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Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht wurde ursprünglich für das Recht der Personengesellschaften entwickelt und für die AG lange Zeit abgelehnt. In seinem „ITT“-Urteil aus dem Jahre 1975[78] erkannte der BGH das Bestehen einer Treuepflicht unter den Gesellschaftern für die GmbH an. Im Jahre 1988 bestätigte er dann in der „Linotype“-Entscheidung[79] ihre Existenz auch für den Mehrheitsaktionär, den sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch gegenüber seinen Mitaktionären eine Rücksichtnahmepflicht treffe. Das „IBH/Scheich Kamel“-Urteil[80] des BGH stellte anschließend klar, dass sich die aktienrechtliche Treuepflicht auf den im Gesellschaftsvertrag durch Gesellschaftszweck und Unternehmensgegenstand definierten mitgliedschaftlichen Bereich beschränkt. Seit der „Girmes“-Entscheidung[81] des BGH aus dem Jahre 1995 ist schließlich anerkannt, dass die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht im Aktienrecht uneingeschränkt gilt und auch den Minderheitsaktionär binden kann.[82] Dies entspricht heute allgemeiner Meinung.[83]
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Hinsichtlich der dogmatischen Herleitung der Treuepflicht ist freilich keine Einigkeit auszumachen. Während zum Teil auf § 242 BGB oder aktienrechtliche Einzelnormen zurückgegriffen wird, geht die h.M. von einer richterrechtlichen Generalklausel aus, die ihre Basis in verschiedenen gesellschaftsrechtlichen Grundsätzen und Regelungen hat[84] und der zum Teil sogar schon gewohnheitsrechtliche Qualität zugemessen wird.[85]
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Die aktienrechtliche Treuepflicht hat ihre Grundlage im Organisationsstatut der AG. Sie bindet daher nur die AG und die Aktionäre selbst, nicht dagegen Dritte – auch nicht, soweit diese als Stimmrechtsvertreter für einen Aktionär handeln.[86]
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Der Umfang der Treuepflicht wird vielfach davon abhängig gemacht, ob der Aktionär eigennützige oder uneigennützige Mitgliedschaftsrechte wahrnimmt.[87] Diese Unterscheidung hilft mangels Abgrenzungsschärfe indes nicht recht weiter.[88] Richtig ist allerdings, dass die Treuepflicht den Aktionär umso stärker bindet, je mehr bei der Ausübung eines Mitgliedschaftsrechts die Belange der Gesellschaft gegenüber den eigenen Individualinteressen des Aktionärs im Vordergrund stehen. Deshalb beschränkt die Treuepflicht regelmäßig auch nicht die Ausübung von Vermögensrechten.[89] Es sind vielmehr vornehmlich die Verwaltungsrechte, die durch die Treuepflicht tangiert werden. Entgegen einer in der Literatur vertretenen Mindermeinung besteht die Treuepflicht unabhängig von der Beteiligungsquote des jeweiligen Aktionärs und bindet nicht nur den Aktionär, der mit seiner Stimmkraft – allein oder durch Stimmbindung oder -bündelung – eine besondere Machtstellung hat. Sie ist also inhaltsbezogen und nicht wirkungsbezogen.[90]
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Der Inhalt der Treuepflicht kann – abhängig von dem jeweiligen Mitgliedschaftsrecht und der Stimmkraft des Aktionärs – vielfältig sein. Soweit bei der Ausübung eines Mitgliedschaftsrechts Gesellschaftsbelange im Vordergrund stehen, treffen den Aktionär Handlungs- und Unterlassungspflichten, die dem Gesellschaftszweck dienen; bei der Stimmrechtsausübung kann dies zu positiven Stimmpflichten führen, wenn eine Maßnahme die Stimme des betreffenden Aktionärs erfordert, sowie zu negativen Stimmpflichten (Stimmenthaltung), wenn eine Maßnahme durch die Stimme dieses Aktionärs verhindert würde.[91] Daneben muss der Aktionär – und zwar sowohl der Mehrheits- als auch der Minderheitsaktionär – seine Mitgliedschaftsrechte unter Loyalität gegenüber der Gesellschaft und Rücksichtnahme auf die gesellschaftsbezogenen Interessen der Mitaktionäre ausüben (Schrankenfunktion der Treuebindung). Je mehr die Gesellschaftsbelange im Vordergrund stehen, desto stärker muss der Aktionär seine eigenen Individualinteressen zurückstellen. Selbst wenn er sich – wie regelmäßig bei der Ausübung seiner Vermögensrechte – nur von seinen eigenen Interessen leiten lassen darf, begründet die Treuebindung eine Willkürschranke.[92] Bei der Ausübung seiner Mitgliedschaftsrechte steht dem Aktionär jedoch ein unternehmerisches Ermessen zu.[93] Ausfluss der Treuepflicht ist auch das Institut der materiellen Beschlusskontrolle.[94]
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Als Rechtsfolgen einer Treuepflichtverletzung kommen die Unbeachtlichkeit der Rechtsausübung (also bspw. einer Stimmabgabe oder eines Auskunftsverlangens), die Anfechtbarkeit von HV- oder Sonderbeschlüssen (wenn nichtige Stimmen mitgezählt wurden), die Pflicht zur positiven Stimmabgabe (möglicherweise sogar ein Antrag auf positive Beschlussfeststellung) sowie Schadensersatzansprüche in Betracht.[95]
2. Kapitel Grundlagen › V. Die Rechtsstellung der Aktionäre › 4. Gleichbehandlungsgebot