Читать книгу GLASTRAUM - Hans Rudolf Specht - Страница 11
Zwingli strahlt
ОглавлениеDie Weihnachtsfeier Gemeinsam statt einsam am heiligen Abend wurde dieses Jahr von mehr Menschen beachtet als auch schon. Da waren einmal die Gastgeber Rebecca, Tobias, Claire, Evi, Maria und ihr Mann, eben die Ökumenen. Dazu kamen die rund dreissig Gäste, einsame Frauen und Männer beider Kirchgemeinden. Ebenfalls gesellten sich der katholische und der holländische Pfarrer, letzterer mit Gattin, dazu. Der Kirchenpräsident nahm nicht teil. Er feierte den Weihnachtsabend zusammen mit seiner Familie im schmucken Einfamilienhäuschen mit der von ihm persönlich perfekt vom Schnee geräumten Einfahrt.
Die Feier wurde mit Apéro, kleinen Häppchen, Drehorgelspiel und nettem Smalltalk eröffnet. Der holländische Pfarrer begrüsste nach einer halben Stunde die Gäste. Der erste Höhepunkt des Abends stand bevor. Er trat neben den unbeleuchteten Zwingli, den Evi mitgebracht hatte. Die Anweisung von Franz war unmissverständlich, niemand sollte die LED's hinter dem Glas vorher einschalten. Das sei eindeutig die Aufgabe eines Pfarrkollegen von Zwingli. Evi hatte ihm glaubhaft versichert, dass die Beleuchtung wunderbar funktioniere. So kam es auch. Die Raumbeleuchtung wurde ausgeschaltet. Das war im mit modernster Haustechnik ausgestatteten Saal keine einfache Sache. Über einen kleinen Monitor konnten das Licht, die Lüftung, die Leinwand und die Fensterverdunklungen bedient werden. Weil nur wenige diese komplizierte Bedienung beherrschten, hatte der Pfarrer vorsorglich den Hauswart aufgeboten. Der Raum wurde abgedunkelt, der Musiker spielte auf dem elektrischen Klavier die Melodie: Wenn ein Licht im Advent... Dazu sang ein kräftiger Bariton den Text:
Wenn ein Licht im Advent für jeden Menschen brennt, dann beginnt ein Traum zu leben. Menschen reichen sich die Hand, lernen endlich zu vergeben und das Licht des Friedens zieht durchs Land.
Der Pfarrer stand neben dem Glasbild, den Schalter in der Hand. Nach der ersten Strophe drückte er auf den Knopf. Zwingli erstrahlte von hinten beleuchtet. Der Sänger hatte die Anweisung, die zweite Strophe erst nach einer Pause anzustimmen. Ein einzelner Spot war auf den Pianisten in der Ecke gerichtet. Auf den Tischen brannten Kerzen und in der anderen Ecke leuchtete nun der Huldrych in dezenten Farben, ein wirklich eindrucksvoll gestyltes Bild. Doch nun ging ein erstauntes Raunen durch den Saal. Der Musiker hielt in seiner Bewegung inne. Er hatte schon die Hand zum Anstimmen der zweiten Strophe erhoben. Eine dunkelrote Wolke schwebte plötzlich aus dem Nichts zwischen dem Bild und dem Klavier. Der Pfarrer drehte am Schalter und die Wolke änderte ihre Farbe. Von rot zu grün, von grün zu gelb, von blau wieder zu rot. Worte aus dem Publikum waren zu hören:
Grossartig - wunderbar - gigantische Supershow!.
Doch der Höhepunkt stand noch bevor. Aus der Ecke des Bildes löste sich, wieder aus dem Nichts, eine Gestalt in einen wallenden, braunen Mantel gehüllt, auf dem Kopf die berühmte zwinglische Dächlikappe. Die Gestalt war im Nebel für die Gäste nur schemenhaft zu sehen, jedoch konnte das Gesicht deutlich als Zwingli erkannt werden. Lautlos glitt die Figur zum Musiker. Der Pianist verschwand für einen Moment. Zwingli schwebte einfach über ihn hinweg, oder besser durch ihn hindurch, drehte sich gegen das Publikum und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Die Menschen im Saal waren ruhig geworden. Man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Lediglich das Gebläse des laufenden Beamers an der Decke rauschte leise vor sich hin. So etwas hatte noch niemand gesehen. Die unwirkliche, nebulöse Figur verbeugte sich, richtete sich wieder auf und deutlich waren die Worte zu hören:
»Danke, dass ich hier willkommen bin.«
sprach es und verschwand hinter dem verdutzten holländischen Pfarrer der reformierten Kirchgemeinde eines grossen Dorfes, das sich eigentlich Stadt nennen dürfte, im grünlich beleuchteten Glasbild mit dem Konterfei des schweizerischen Reformators Huldrych Zwingli. Der ganze Auftritt hatte keine halbe Minute gedauert. Die Hand des Pianisten fiel, wie von einem Krampf befreit, auf die Tasten und der Bariton stimmte zwar verwirrt, aber melodiös und in der richtigen Tonlage die zweite Strophe an:
Wenn ein Licht im Advent, für jeden Menschen brennt, werden singen dann die Schwachen, denn zu Ende geht ihr Leid; fröhlich hörst du Kinder lachen, denn das Licht der Freude strahlt jetzt weit.
Der Hauswart hatte das richtige Feeling und fuhr die Raumbeleuchtung nach der unglaublichen Begrüssungsfeier für den Namengeber des Saales ganz behutsam hoch. Tosender Applaus belohnte den Pfarrer für seinen Einsatz. Dieser war sichtlich gerührt, ging zu Evi, die mit offenem Mund an einem der wundervoll gedeckten Tische sass und gratulierte ihr:
»Das hat dein Sohn aber fantastisch gemacht. Ja die Jungen, die kennen doch alle die neuen elektronischen Tricks!«
Zu Tobias, der an diesem Abend für die Bühnentechnik verantwortlich zeichnete gewandt, fuhr er weiter:
»Die ganze Inszenierung ist sicher von dir. Dem sagt man wohl Hologrammprojektion, nicht wahr. Einfach sagenhaft, wie hast du das nur hingekriegt. Gell, wir haben schon eine tolle Einrichtung hier, nicht wahr? Hat zwar etwas gekostet und ich musste mich total für die Investition ins Zeug legen aber diese Effekte. Ich habe gar nicht gewusst, was man damit anstellen kann. Sensationell! Vielen Dank.«
Damit war der Erfolg der Weihnachtsfeier programmiert. Evi blickte zwar unsicher und verstört zu Zwingli, der wie von ihrem Sohn versprochen, in regelmässigen Abständen in anderen Farben erstrahle. Sie revidierte ihre Meinung. Ihr Sohn hatte sicher nicht im Alpenbitterrausch fantasiert. Der neben ihr sitzende katholische Pfarrer murmelte zu seinem evangelischen Kollegen lachend:
»Etwas viel Show für einen abtrünnigen der katholischen Kirche zwar, aber du kannst dir vielleicht vorstellen, dass mir der Zwingli gar nicht so unsympathisch ist!«
Der Holländische, ebenfalls verwirrt, verstand nicht. Er blickte zum Katholen:
»Ich begreife dich nicht ganz. Weshalb denn? Der Mann hat ja damals vor fünfhundert Jahren oder so, die katholische Kirchenlandschaft in der Schweiz ziemlich in Bedrängnis gebracht.«
Laurenz, der katholische Pfarrer, ein schlanker Mann mit kräftigem blonden Haar, keine fünfzig Jahre alt, lachte verschmitzt:
»Er war doch einer der ersten, der gegen das Zölibat wetterte und sich auch nicht daran hielt!«
Damit hatte er das Amüsement auf seiner Seite, die Gattin des reformierten Pfarrers, Claire, Rebecca, Tobias und Evi lachten herzhaft.
Evi stupste Claire in die Rippen und flüsterte ihr ins Ohr:
»Hat er jetzt gerade auch nicht gesagt? Was meint er wohl mit dieser Wortwahl?«
Die beiden Frauen schmunzelten sich ahnungsvoll zu.
Die Feier wurde ein wunderbares Fest. Zwingli blieb in seinem Rahmen. Das traditionelle Rindsgulasch mit Kartoffelstock vom besten Catering des Dorfes mundete ausgezeichnet. Die Feier, von den Pfarrern der beiden Landeskirchen gemeinsam gestaltet, war würdevoll und berührend. Das Team hatte alle Hände voll zu tun. Tobias, wie gewohnt Abwaschchef, war in seinem Element. Im Saal wurden Weihnachtslieder gesungen und Evi trat zu ihm an die Geschirrspülstation:
»Tobias, du hast mir mit deiner Show einen gehörigen Schrecken eingejagt. War das mit Laser oder was? Mein Sohn wird es nicht glauben!«
Der Tellerwäscher blickte sie ratlos an:
»Von was sprichst du? Ich habe doch gar nichts eingeschaltet. Die Show begann als der Pfarrer auf den Schalter drückte und endete von selbst. Ich dachte du...«
Sie unterbrach ihn energisch:
»Nein, Tobias, ich habe wirklich nichts gemacht! Auch mein Sohn hat die Finger nicht im Spiel. Ganz im Gegenteil. Ich muss dir etwas erzählen.«
Sie schilderte Tobias die Erfahrungen, welche ihr Sprössling bei der Inbetriebnahme der Zwinglibeleuchtung gemacht hatte. Sie schloss mit der Feststellung:
»Wenn du wirklich nichts mit dem Erscheinen des Alten zu tun hattest, ja dann.... ja dann geht es hier nicht mit rechten Dingen zu und her.«
Tobias hatte ihrer Schilderung mit zunehmendem Interesse zugehört. Nachdenklich sprach er:
»Ich werde der Sache nachgehen, doch nicht mehr heute. Was hast du erklärt? Dein Sohn hat mit Zwingli gesprochen? Ist ja eine unglaubliche Geschichte!«
Sie standen schweigend bei der Geschirrspülmaschine und überlegten. Nach einigen Minuten kamen sie überein, niemandem etwas von ihrem Verdacht zu sagen. Ein Gespenst, der Geist eines vor fünfhundert Jahren von katholischen Hitzköpfen bei Kappel erschlagenen Reformators in einem kirchlichen Saal? Ein Geist der inzwischen von über vierzig lebenden Menschen gesehen und gehört worden war, war einfach weit jenseits von allem Vorstellbaren. Das wäre eine Jahrhundertstory, niemand würde ihnen glauben. Nein, sie brauchten einen klaren Beweis, dass sie nicht träumten oder auf einen Schabernack reingefallen waren. Im Saale sangen sie noch immer, da räumte Evi plötzlich ein:
»Mein Sohn kennt sich aus mit solch Laserspielen. Ein Freund von ihm studiert an der ETH Informatik. Bei dem bekannten Professor Goss, der wiederum dick im Geschäft mit den Disney Studios in Hollywood ist. Vielleicht hat ja er alles inszeniert? Trotz seines Alters ist er echt aufmüpfig und lässt keine Gelegenheit aus, um uns so richtig in die Pfanne zu hauen.«
Im Saale wurde wieder gesprochen. Claire und Rebecca kamen in die Küche:
»So, nun ist es Zeit für die Zuger Kirschtorte. Bin ja gespannt ob die auch so fein ist wie die vom Speck in Zug.«
Tobias begriff nicht sofort. Seine Gedanken kreisten um den Zwingligeist.
»Äh, wie darf ich deine Worte verstehen, Claire?«
»Im Schiff auf dem Ägerisee, während den Seniorenferien, hatten wir doch die Kirschtorte von der Konditorei Speck in Zug. War doch fabelhaft, die Torte!«
»Ach so, jetzt verstehe ich.«
Zu Evi gewandt fuhr Tobias mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über seine Lippen. So, wie wenn ein Reissverschluss gezogen wird. Sie begriff und nickte. Tobias kannte Evi und wusste, sie würde nichts über ihren Verdacht sagen.
Auch Rebecca hatte die Geste von Tobias gesehen. Sie schaute ihn zweifelnd an:
»Das....«
sie ahmte die Geste ihres Mannes nach,
»...musst du mir erklären! Plausibel erklären!«
lachte sie.
Der Abend nahm seinen weiteren Verlauf. Von dem Gespensterverdacht, war für die Uneingeweihten nichts zu spüren. Gegen Mitternacht verabschiedeten sich die Gäste. Der Pfarrer dankte dem ganzen Team für die Arbeit und die tolle Show. Bei der Verabschiedung sagte er zu Tobias:
»Das war toll. Doch im nächsten Jahr scheinen grosse Probleme auf diese Kirchgemeinde zuzukommen. Das Geld geht aus, wird gemunkelt. Schöne Weihnachten Tobias!«
Nachdem alles aufgeräumt, das Geschirr abgewaschen und versorgt war, versammelte sich das Team zu einem letzten Schluck an den ausladenden Tisch in der Küche. Claire gratulierte Evi und Tobias:
»Das mit dem Zwingli war Spitzenklasse. Tobias, vielleicht bringst du dein elektronisches Equipment das nächste Jahr mit in die Ferien. Da kannst du dann die schwarze Madonna von Einsiedeln durch den Raum schweben lassen!«
Rebecca lachte aus vollem Halse:
»Natürlich in violetten Kleidern, oder?«
Das Team lachte mit. Tobias verstand zwar nicht, was da beim Einschalten der Zwinglibeleuchtung abgegangen war. Doch er konnte sein Erstaunen gut verbergen. Er war einfach froh, dass auch dieser Anlass ein Erfolg war und sie den Gästen fröhliche Stunden schenken konnten. Beim Hinausgehen wünschten sie sich gegenseitig schöne und fröhliche Weihnachten. Rebecca erinnerte sich plötzlich, dass ja Claire allein stehend war und lud sie spontan ein, doch an einem Abend über die Festtage bei Tobias und ihr zu essen. Doch Claire lehnte dankend ab:
»Zwei Tage fahre ich zu meiner Mutter in die Stadt und über Sylvester und Neujahr feiere ich zusammen mit meiner Freundin in einem Wellnesshotel. Zudem bin ich auch für die betagten Mitmenschen in unserem Dorfe da. Ist ja schliesslich auch mein Beruf. Vielleicht komme ich einmal auf einen Kaffee bei dir im a'Treff vorbei. Du bist ja bestimmt dort, Rebecca, ihr habt doch über die Feiertage geöffnet, oder?«
»Natürlich!,«
antwortete Rebecca,
»über die Festtage müssen wir einfach für unsere Gäste da sein!«
Ruhe kehrte ein im Zwinglisaal. Die Lichter erloschen. Nur die LED des Reformators wurden nicht ausgeschaltet.
So, da bin ich wohl am richtigen Ort gelandet. Tut gut wenn man wieder sehen und hören kann. Auch wenn ich nicht alles verstanden habe, doch die Menschen hier scheinen mir gut gesinnt zu sein.