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Zwingli und Tobias

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Rebecca Fink, die Frau von Tobias war während diesen Tagen oft in dem von ihr geleiteten Treffpunkt für Armutsbetroffene am Bahnhof zu finden. Gerade in dieser Zeit suchten viele weniger gut situierte Mitmenschen Wärme und ein gutes Gespräch mit den freiwilligen Helferinnen von Rebecca. Sie kannte ihre Kundinnen und Kunden gut und war froh, wenn sie bei grossen menschlichen Sorgen auf die Hilfe von Claire zählen konnte. Das Projekt Armutstreff wurde von den beiden Kirchgemeinden aufgebaut und finanziell unterstützt. Deshalb war auch Claire häufig im Treff anwesend. Ihre Familie, wie sie die allein stehenden älteren Gemeindemitglieder oft spasseshalber nannte, trank gerne einen Kaffee im Treffpunkt und schüttete den Betreuerinnen ihr Herz aus. Auch Tobias, Evi und Maria von den Ökumenen sassen regelmässig am grossen ovalen Tisch und beteiligten sich an den Diskussionen. Tobias betreute die Informatik des Treffs, die Homepage und half seiner Frau wo immer er konnte. So bat sie ihn, ihre Präsentation über das soziale Projekt a'Treff vorzubereiten. Sie sollte anfangs Jahr vor den Leiterinnen und Leitern der sozialen Dienste der umliegenden politischen Gemeinden die Pionierarbeit der reformierten und katholischen Kirchgemeinden des grossen Dorfes vorstellen. Im a'Treff sass Rebecca mit einer Helferin am Stammtisch. Sie sprachen mit Betroffenen, zwei Frauen und drei Männern über die Problematik der Vereinsamung von Alten und Randständigen, gerade über Weihnachten. Claire stiess zu der Gruppe und fragte Rebecca:

»Kommt Tobias heute auch? Ich habe da ein Problem mit meinem neuen iPhone. Vielleicht kann er mir helfen, ist ja auch ein unglaublicher Blödsinn mit diesen Geräten. Da hast du ein einfaches, simples Nokia Handy, alles funktioniert. Du kannst SMSlen, hast einen Player drauf und auch die Uhr ist stets bei dir. Da fällt ein solcher Hype wie der um den ganzen Applekult über das Land und schon beginnen die Sorgen. Ich fahre extra nach Zürich, löse im Apple Store ein Ticket und stehe stundenlang an, bis mich ein zwar hübscher aber sehr gestresster Guide nach meinen Wünschen fragt. Nach drei Stunden habe ich endlich mein iPhone 5 und zu Hause stelle ich fest, dass ich meine Daten nicht mehr so einfach übertragen kann. Total umgehauen hat es mich aber, als ich vorhin beim Aufgeben eines eingeschriebenen Briefes am Postschalter von der umtriebigen Regula gefragt wurde: Möchtest du auf das neue iPhone wechseln? Wir haben es hier am Lager und wenn du heute eines kaufst, gibt es die Autobahnvignette für das nächste Jahr und ein Jasmine Duschshampoo gratis dazu! Wäre doch ein guter Deal!«

Die Besucher des a'Treffs lachten herzhaft. Auf der Strasse blickten sich derweil vorbeigehende Passanten um und motzten:

»Typisch, wir schuften den ganzen Tag und diese Randständigen amüsieren sich auf unsere Kosten.«

In der gemütlichen a'Treff Stube antwortete Rebecca:

»Ja, Tobias sollte kommen und wird dir bestimmt gerne helfen. Du weisst ja, wie er solche kniffeligen Sachen liebt. Deshalb ging er auch heute gerne in den Zwinglisaal, um meine Präsentation vorzubereiten. Er wird wohl auch dort mit den Tücken der zeitgemässen Kommunikations- und Präsentationstechnik zu kämpfen haben.«

Wieder wurde fröhlich gelacht und grosszügig in die Büchse mit frischem Weihnachtsgebäck gegriffen.

Tobias war wirklich im Zwinglisaal. Als er eintrat schlug die Kirchenuhr der düsteren Kirche neben dem Saal zwei Uhr. Er stellte missbilligend fest, dass der Zwingli wieder einmal nicht beleuchtet war. Nach seiner Ansicht sollte das Licht hinter dem Glasbild immer leuchten. So ähnlich wie das ewige Licht in einer katholischen Kirche, hatte er Rebecca vorgeschwärmt. Sein erster Gang führte ihn deshalb zum Schalter der Bildbeleuchtung, erst dann programmierte er das Raumlicht. Zwingli hellte auf, erlosch aber, nur um gleich wieder aufzuleuchten. Tobias schüttelte verärgert den Kopf: Scheint nicht ganz ausgereift, die Installation von Evis Jungem. Doch was war das? Aus dem Bild quoll Rauch. Ein Kurzschluss? Das würde gerade noch fehlen. Ein Brand! Der Zwinglisaal war vorschriftgemäss mit modernster Feuermeldetechnik ausgestattet. Sobald die Rauchmelder ansprachen, ging der Alarm an die Feuerwehr. Doch es kam nicht soweit. Der Rauch war eher ein Nebel, eine lichte rötlich wallende Wolke. Aus dem Nichts erschien Huldrych in Lebensgrösse. Tobias blinzelte. Seine Hornhautverkrümmung machte ihm in letzter Zeit zu schaffen. Oft sah er Dinge verschwommen, musste mehrmals die Augen zusammenkneifen um überhaupt ein klares Bild zu erhalten. Doch das Augenlicht spielte ihm hier keinen Streich. Die gleiche Szene wie bei der Weihnachtsfeier. Evi hatte Recht gehabt. Zwingli lebt!

»Wer bist du?«

Zwinglis sonore Stimme füllte den Raum. Modergeruch begleitete die Erscheinung. Total imposant, völlig schräg und absolut unmöglich:

Nein das gab, gibt und wird es auch nie geben. Gespenstershow im Zwinglisaal.

Tobias schluckte leer. Die Erzählung von Evi über das Erscheinen von Zwingli in der Elektrowerkstätte bei der katholischen Kirche ging durch seinen Kopf.

Verstand ausschalten. Es bleibt nur eine Option!

Die hatte Tobias einmal in einem Seminar zum Verhalten in Hochstresssituationen gelernt.

Ruhig bleiben, wenn immer möglich das Gespräch mit dem Gegner suchen, ihn scharf beobachten und sich nach Fluchtwegen umsehen.

Genau so verhielt sich Tobias Fink. Ein gestandener Mann im besten Alter, das heisst im Ruhestand, Freizeitbürgerratspräsident eben dieses Dorfes. Er machte einen kurzen Schritt gegen die Saaltüre, den Nebelgeist immer im Auge behaltend:

»Mein Name ist Tobias Fink, ich bin der Bürgerpräsident dieses stattlichen Dorfes und sehr erschrocken über dein Erscheinen! Was führt dich zu uns, Zwingli?«

Durch Fragen kann man führen, hatte er ebenfalls in einem Kurs gelernt. Zwingli schwebte zwischen ihn und die Türe, ganz so, als ob er die Absicht von Tobias vorausgesehen hätte.

»Ja, ich bin Ulrich Zwingli geboren am ersten Tage des Jahres 1484 in Wildhaus im Toggenburg, Sohn des dortigen Gemeindepräsidenten. Ich bin auf den Namen Ulrich getauft, nenne mich aber Huldrych, bitte sprich mich mit diesem Namen an. Ich kam als Leutepriester an das Grossmünster in Zürich und bin der Pfarrer der reformierten Kirche dieser Stadt. Noch immer weiss ich nicht wo ich heute bin. Kannst du mir helfen?«

Tobias hatte sich nach dem mysteriösen Auftritt von Zwingli an der Weihnachtsfeier für Einsame über den schweizerischen Reformator informiert und konnte der im Zwinglisaal wallenden Gestalt erzählen, dass er vor bald einmal fünfhundert Jahren in der Schlacht von Kappel, von den zentralschweizerischen Kriegern erschlagen wurde. Dies geschah am 11. Oktober 1531. Nach der Legende sei der Zürcher Reformator nach seinem gewaltsamen Tode gevierteilt und anschliessend verbrannt worden. Die Asche sei wohl auf den Feldern verstreut worden.

Doch die Lehre von Zwingli wurde zusammen mit der Lehre der Genfer Reformation zur Grundlage der schweizerischen reformierten Kirche. Ja, ein ehemaliger Bundesrat ging im Jahre 2013 sogar soweit, Zwingli als den bedeutendsten Schweizer für immer zu bezeichnen. So gesehen, erklärte Tobias der ruhig zuhörenden Gestalt, sei er, Huldrych Zwingli, der Urvater der Reformation in der Schweiz. Huldrych wollte wissen in welcher Kirche er sich denn überhaupt befinde. Auch hier konnte Tobias Auskunft geben. Er erzählte der Erscheinung die Geschichte der klobigen Kirche, die sie durch das Fenster sehen konnten, der Kirchgemeinde des Dorfes, das sich durchaus Stadt nennen könnte. Er schilderte dem Geist aus dem Glasbild die heutige Zeit, erklärte ihm die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte. Dies allerdings im Überschalltempo. Zwingli hörte aufmerksam zu, unterbrach den Ortsbürgerpräsidenten nur selten, doch immer mit gezielten und klaren Fragen. Tobias war beeindruckt von der schnellen Auffassungsgabe seines Zuhörers. Vom hohen Turme schlug es vier Uhr als Tobias erschöpft schloss:

»Wie du hierher gekommen bist, kann ich nicht sagen. Ich habe zwar schon davon gehört, dass sich Tote aus den Gräbern erheben und zurückkommen. Untote nennt man diese Gestalten. Aber nie hätte ich geglaubt, so etwas je selbst zu erleben. Doch nun erfahre ich dieses Wunder selbst. Was du hier bist, das nennen wir Geist. Ich habe keine Ahnung was das bedeutet und wie es mit dir weitergehen soll.«

Plötzlich war Stille im Saal. Zwingli wogte lautlos von einer Wand zur anderen, blickte immer wieder aus dem Fenster zur nebenan liegenden Kirche.

»Was ich bis jetzt herausgefunden habe kann ich dir schildern. Ich bin in diesem Bild hier, in diesem Holzrahmen, gefangen. Aus dem Raume kann ich nicht. Ich leide weder an Durst noch an Hunger. Doch ich höre und sehe alles, was in diesem Raum geschieht. Allerdings nur, wenn das Licht hier brennt!«

Dabei deutete Ulrich auf das strahlende Glasbild.

»Was rätst du mir? Ich habe bemerkt, dass immer wenn ich dieses Bild verlasse, die Menschen mich anstarren als ob sie Angst vor mir hätten. Ich tue niemandem etwas. Das kann ich ja gar nicht!«

Zum Beweis glitt die Gestalt auf Tobias zu. Dieser zuckte nicht einmal zusammen. Er verspürte keine Furcht und war auch keineswegs überrascht als Huldrych einfach durch ihn durch drang. Einen kurzen Augenblick erfüllte ihn eine nicht unangenehme prickelnde Wärme. Dann war wieder alles wie gewohnt.

»Tatsächlich, ich glaube dir!«

Nochmals fragte die Erscheinung des Reformators aus Zürich:

»Rate mir, wie soll ich mich verhalten?«

Tobias brauchte nicht lange zum Überlegen:

»Ich denke es ist das Beste für alle, auch für dich, wenn du im Holzrahmen des Bildes bleibst. Die Menschen erschrecken tatsächlich, wenn du im Raume umherschwebst. Doch wenn sie einmal ihre Furcht verloren haben, findest du und diese Kirche keine Ruhe mehr. Nicht wegen Huldrych Zwingli, sondern wegen der Sensation, einen wahrhaftigen Geist zu sehen. Sie würden aus dir ein Gespenst machen, dich vielleicht wieder verhöhnen wie anno dazumal bei der Schlacht von Kappel. Du würdest immer wieder einen neuen Tod sterben. Davor möchte ich dich bewahren. Bleibe hier als mein Freund und erscheine nur, wenn wir beide alleine in diesem Raume sind. Was meinst du zu meinem Vorschlag?«

Huldrych unterbrach sein ruheloses umherschweben, kam ganz nahe zu Tobias. Der Modergeruch wurde penetrant, wie in einer feuchten Grabesgruft roch es im neuen Zwinglisaal. Zwingli nickte so heftig mit dem Kopfe, dass sich die Konturen seiner Dächlikappe fast aufzulösen schienen:

»Dein Vorschlag behagt mir gut. Ich kehre zurück in mein Bild und werde über alles nachdenken. Du bist mein Freund. Gib mir ein Zeichen, wenn die Luft rein ist und ich aus dem Rahmen kommen kann.«

Mit diesen Worten verschwanden die wallende Gestalt, der Geruch und der rote Nebel. Tobias war wieder allein. Ohne eine Sekunde an der Präsentation für seine Frau gearbeitet zu haben, verliess er den Saal. Jedoch nicht ohne vorher die Beleuchtung des Glasbildes ausgeschaltet zu haben. Sicher ist sicher! murmelte er in seinen Schal, den er gegen die Kälte der letzten Dezembertage um seinen Hals geschlungen hatte.

Im a'Treff freuten sich die Besucher als Tobias den Raum betrat. Die Stimmung war aufgeräumt. Inzwischen drängten sich zehn Menschen um den grossen Tisch. Es war warm und stickig im Raum.

»Endlich kommt meine Rettung!«

Claire blickte Tobias einladend an:

»Du kannst mir sicher helfen?«

Doch bevor sie ihm ihr Handyproblem schildern konnte, verzog Tobias sein Gesicht zu einem schmerzhaften Lächeln:

»Tut mir so Leid Claire, mir geht es nicht besonders. Habe Kopfschmerzen und Bauchweh. Ich helfe dir gerne. Aber ein anderes Mal. Ich bitte dich um Verständnis!«

Rebecca nahm die Abweisung ihres Mannes erstaunt zu Kenntnis. Sie wusste, dass Tobias Claire gut mochte und der sympathischen, attraktiven Frau in den besten Jahren nie einen Wunsch abschlagen würde. Die körperlichen Unpässlichkeiten waren neu für Rebecca. Sie schaute ihren Mann prüfend an. Der suchte ihren Blick und gab ihr mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er sie sprechen wollte. Alleine und draussen.

»Komm Tobias, die Luft hier ist auch wirklich miserabel. Wir gehen kurz nach draussen. Ich muss dir dringend etwas sagen.«

Claire nickte ihrem vermeintlichen Retter zu:

»Natürlich verstehe ich dich, Tobias. Aber bitte melde dich, wenn es dir wieder besser geht. Zum Glück funktioniert mein altes Handy ja noch.«

Draussen schilderte Tobias Rebecca mit hastigen Worten seine Begegnung mit Zwingli. Zuerst glaubte sie, ihr Mann habe seine Zeit in einer Beiz verbracht und nicht im Kirchenzentrum. Doch sein Atem war rein und seine Worte klar. Sie hatte die Erscheinung an Weihnachten ja auch erlebt. Sie glaubte ihm.

»Geh nach Hause, lege dich hin. Ich bin um halb sieben Uhr auch da. Dann sprechen wir über alles. Auch mir wird dieses Glasbild langsam unheimlich. Welcher Schabernack steckt wohl hinter diesen Erscheinungen? Kann es nicht sein, dass uns da jemand so richtig verarschen will?«

Tobias blickte seine Frau belustigt an, solche Töne war er sich von ihr nicht gewohnt. Zudem hatte er eine andere Idee:

»Nein, bitte verstehe mich. Ich fahre mit dem Postauto ins Nachbardorf und gehe über den Altenberg zurück. Auf diesem Weg, der nicht umsonst unser Standardweg ist, kann ich meinen Kopf auslüften. Um sieben bin ich auch wieder da. Dann geht es mir bestimmt besser. Zwingli hat auch gesagt, dass er sich alles zuerst einmal in Ruhe überlegen will. Mir geht es genau gleich!«

Rebecca schaute zweifelnd zu im hoch, freute sich aber über die Entschlossenheit ihres Mannes mit der Erscheinung fertig zu werden:

»Ja, beeil dich. Hast du die Stirnlampe dabei. Du wirst in die Nacht kommen. Der Bus fährt gleich ab!«

Schon war sie wieder die gute Seele, die sich um alles kümmerte. Leicht besorgt winkte sie ihm zu als er in den gelben Wagen stieg. Durch ihren Kopf ging die Frage, die ohne ihr Wissen die katholischen Priester vom Münster in Zürich vor 450 Jahren genau gleichermassen beschäftigt hatte:

»Dieser Zwingli bringt alles durcheinander. Wie wird das wohl enden?«

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