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Annemarie und Zwingli
ОглавлениеClaire war etwas Sturm im Kopf. Ihr Geistesblitz vom vergangenen Abend wurde im Rössli ausgiebig gefeiert. Ungeübt im Umgang mit Alkohol musste sie dauernd mit Gratulanten anstossen. Ihre aufgedonnerte äussere Erscheinung stand im klaren Widerspruch zur wahren Person. Nicht selten wurde sie wegen ihren langen blonden Haaren, der figurbetonten, modischen Garderobe und den weiten Ausschnitten eher für die Gastgeberin einer Bar als für die sehr engagierte Pflegefachfrau gehalten, die sie in Wirklichkeit war. Claire war froh ihren Flyer vor dem alten Patrizierhaus im Dorfzentrum parkieren zu können. In diesem Haus betrieb ihre Freundin Annemarie eine Immobilienagentur für gehobene Ansprüche. Diskret und lukrativ. Die dorfgeschichtlich interessierte Frau war vor einigen Jahren in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Hinter ihr lag eine hässliche Scheidung von einem Immobilienmogul aus Berlin. Die nicht unerhebliche Abfindung steckte sie in ihr eigenes Geschäft. Da sie im Unternehmen ihres Mannes mitgearbeitet hatte, wusste sie genau, wie der Handel mit Objekten in der oberen Preisklasse lief und wie die anspruchsvolle Klientel behandelt sein wollte. Als eine der ersten Kundinnen konnte sie Claire eine kleine aber feine Eigentumswohnung vermitteln. So lernten sich die beiden Frauen kennen. Die Immobilienspezialistin machte keinen Hehl daraus, dass ihr Bedarf an Männerlaunen wohl lebenslänglich gestillt war. Claire ihrerseits schwärmte von ihrem freien Leben und erzählte der fast zwanzig Jahre älteren unbeschwert über ihre Erfahrungen. So begann die Freundschaft zwischen den beiden unterschiedlichen Frauen. Sie trafen sich regelmässig für einen Kaffeeschwatz, besuchten gemeinsam die verschiedensten Anlässe im Dorf und gingen zusammen aus. Als der katholische Rechtsanwalt die Leitung des Ortsmuseums abzugeben wünschte, wurde Annemarie angefragt ob sie seine Nachfolge übernehmen wolle. Ihre Eltern wohnten auch im Dorf und der Vater, ein ehemaliger Oberstufenlehrer freute sich sehr, als seine Tochter das Präsidium übernahm, hatte er doch massgeblich beim Aufbau des Museums mitgearbeitet.
Nach den Begrüssungsküsschen und einer innigen Umarmung sprudelte Claire los:
»Heute kann ich dir einmal eine tolle Nachricht überbringen. Gestern lud die Kirchenvorsteherschaft zu einem grossen Meeting. Wir bereiteten die Einweihungsfeierlichkeiten des neuen Kirchenzentrums vor. Ich habe dir ja erzählt, dass mir die Betreuung der VIPs zugetraut wird. Auch du gehörst als Vertreterin des Museums natürlich dazu. Ihr seid ja schliesslich unsere direkten Nachbarn. Es wird ein feiner Anlass. Du wirst zwischen dem Gemeindepräsidenten und unserem Finanzchef sitzen. Der hat seinen Platz natürlich neben mir!«
»Das passt mir ausgezeichnet und natürlich dir auch, denke ich?«
Die erfolgreiche Unternehmerin sagte dies mit einem leicht anzüglichen Lächeln. Der Finanzchef war ein gut aussehender Mann in den besten Jahren. Es hiess er sei verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern, aber man munkelte so dies und das über seine Ehe. Claire nickte kommentarlos und sprach weiter:
»Das Beste kommt jetzt. Auch ich habe hie und da eine Superidee, ist zwar noch streng geheim, aber der Name Zwinglisaal für unseren Mehrzwecksaal stammt von mir. Oh, haben wir das gestern gefeiert. Ich konnte ganz unmöglich alleine nach Hause gehen.«
»Was? Wer begleitete dich denn? Wohl der Säckelmeister! Du gibst ja wie immer Vollgas!«
»Ach woher, beim hinausgehen im Rössli schaute ich nur kurz in den Spiegel. Ich habe alles doppelt gesehen auch mich. Also war ich zu zweit!«
Die Frauen lachten herzhaft und wandten sich ihren Espressi zu. Zwanzig Minuten später war die Ortsmuseumspräsidentin wieder allein. Sie trat vor die weisse Lista Office Cube - Ablage suchte den Hinweis Museum und entnahm dem Fach den Ordner Fundus. Schnell fand sie das blaue Buch mit den Aufzeichnungen von Alphons. Sie murmelte:
»Habe ich mich doch richtig erinnert. Da hätten wir ja das ideale Geschenk für die Einweihung!«
Ihr in giftigem Grün lackierter, gerade gefeilter Fingernagel des linken Zeigefingers blieb beim Eintrag stehen:
Glasbild von Huldrych Zwingli, 18. oder 19. Jahrhundert, vielleicht auch älter, vermutlich aus einer Manufaktur in Zürich. Einziges bekanntes Exemplar.