Читать книгу GLASTRAUM - Hans Rudolf Specht - Страница 4
Die Saalfrage
ОглавлениеIn einem grossen Dorf das sich seit Jahren erfolgreich sträubte zur Stadt zu werden, ereignete sich eine bemerkenswerte Geschichte.
Vor sicherlich zweihundert oder mehr Jahren wurde beim östlichen Dorfeingang eine stattliche Villa mit Gesindehaus, einer Remise mit stilgerechten Stallungen und einem grosszügigen Park samt Springbrunnen erbaut. Die reichen Bürger des damals noch kleinen Dorfes waren Textilfabrikanten, Kaufleute, Fuhrhalter oder Söldner in fremden Kriegsdiensten. Das Gebäude von dem hier die Rede ist, liess sich der Besitzer einer grossen Weberei errichten. Es war in der Tat ein herrschaftliches Ensemble. Das Kellergeschoss der Villa war grosszügig und eine veritable Stickmaschine hätte durchaus Platz darin gefunden. Doch der Bauherr dachte beim Keller in erster Linie an einen geeigneten Aufbewahrungsort für seine exquisiten Weine aus den eigenen Rebbergen im Waadtland. Im Hochparterre bauten die Zimmerleute eine in dunklem Holz getäferte Stube, die nach dem Textilfabrikanten benannt wurde. Dazu kam ein kleiner Saal samt grosser Küche. Das erste Stockwerk umfasste die Stube, Wirtschafts- und Nebenräume. Die dritte Etage nahm die Schlafräume und das Badezimmer auf. Zuoberst im grossen Estrich unter dem ausladenden Dach hausten in zwei engen Zimmerchen die Bediensteten. Im Rest des Dachbodens lagerten die Dinge, für die niemand Verwendung hatte. Bei der Grundsteinlegung wurden feierlich zwei Linden gepflanzt. Den handverlesenen Gästen erklärte der Fabrikant mit einem Glas seines erlesenen Weissweins in der Hand:
»Ich taufe unser neues Heim auf den Namen Gut zu den zwei Linden Prost!«
Die Textilindustrie in dem grossen Dorfe das sich heute durchaus Stadt nennen könnte, blühte und schwelgte in ihrem Reichtum. Das war in der Mitte des vorletzten Jahrhunderts. Eine Krise in der Textilindustrie oder gar deren Niedergang war unvorstellbar. Allein der Gedanke daran war so absurd, dass niemand auch nur schon auf die Idee kam darüber zu sinnieren. Die Besitzerfamilie war reich, wirklich reich und wohltätig. So überliess sie der reformierten Kirchgemeinde des kleinen Dorfes kostenlos ein riesiges, flaches Grundstück, direkt in südlicher Richtung vor der besagten Liegenschaft zu den zwei Linden. Eine Kirche samt Park sollte darauf gebaut werden. Das war die einzige Bedingung. Eine grosse Kirche und ein grosser Park. Rund achtzig Prozent der Bewohner des Dorfes waren zu jenem Zeitpunkt evangelisch. Alle Familienoberhäupter der reformierten Kirchgemeinde, etwas mehr als tausend Männer, müssen darin Platz finden und ein hoher, massiger Glockenturm das Dorf überragen. Eine präsentable Allee rund um die Kirche soll zur besinnlichen Einkehr einladen und die Kirche umschliessen. So lauteten die Bedingungen der Wohltäterfamilie.
Der Wille geschah, so wie es sich der weit gereiste und weltgewandte Fabrikant vorgestellt hatte. Die Einweihungsfeier war ein unvergessliches Fest. Die grosse Kirche platze fast aus den Nähten, alle wollten dabei sein. Sogar die Stehplätze wurden nummeriert und tatsächlich erlebten mehr als eintausendzweihundert Männer und Frauen die über zweistündige Einweihungsfeier. Ewige Meckerer behaupteten zwar, es seien genau zwölfhundertdreizehn gewesen, doch wegen der Unglückszahl spreche man lieber von über zwölfhundert. Zu erwähnen ist zudem auch der mysteriöse Seilriss beim Aufziehen der grossen Glocke. Sie fiel zwar nur einen knappen halben Meter tief auf den weichen Grasboden und niemand, auch nicht die Glocke, kam zu Schaden. Doch ein Seilriss beim Glockenaufzug? Wenn das nur kein Unglück bringt. Vielleicht sollten die Stänkerer ja Recht behalten. Jedenfalls ist es historisch erwiesen, dass die Kirche nie mehr so viele Menschen in ihrem düstern Innern sah, wie zur Einweihungsfeier. Nach hundert Jahren lässt sich sogar sagen, dass seit jenem Tage, kurz nach dem Übergang vom neunzehnten ins zwanzigste Jahrhundert, die reformierte Gemeinde in diesem Dorf stagnierte. Die Einwohnerzahl im Dorf wuchs zwar stetig, aber es waren vor allem katholische Glaubensbrüder und Schwestern die sich hier niederliessen. Aber im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts stoppte auch das Wachstum der katholischen Kirchgemeinde. Einerseits zogen die freien Kirchen und Sekten immer mehr Menschen an und anderseits nahmen viele muslimische Gläubige in der Gemeinde Wohnsitz. Die katholische und die reformierte Landeskirche mussten hingegen jedes Jahr Austritte registrieren. Die Anzahl der religionslosen Menschen wuchs somit stetig. Durch den Rückgang der Steuereinnahmen gerieten dafür die Finanzen der beiden Kirchgemeinden mehr und mehr in Schieflage.
So erschien es dem reformierten Kirchenrat einige Jahre nach dem Wechsel ins 21. Jahrhundert wie eine wundersame Fügung, dass die politische Gemeinde Land für einen Gemeindesaal suchte. Sie fand die Liegenschaft direkt hinter der riesigen Kirche nämlich als perfekt passend für ihren Zweck. Die Vorsteherschaft nutzte die Gunst der Stunde und gab den Boden im Baurecht an die Gemeinde ab. Der Baurechtszins spült nun für neunundneunzig Jahre stetig Geld in die Kasse der Kirchgemeinde. So konnte sich auch diese an Investitionen wagen und baute zusammen mit dem Saal der politischen Gemeinde ein Kirchenzentrum mit Büroräumen, Schul- und Sitzungszimmern samt einem Mehrzwecksaal. Bis dato war die Verwaltung in einem gewaltigen historischen Gebäude aus dem siebzehnten Jahrhundert mit dem Namen Zur Buche untergebracht. Dieses Haus wurde zu einer modernen Kindertagestätte umgebaut. Die KITA wird seither von der reformierten Kirchgemeinde betrieben, steht aber für alle Kinder, egal welcher Konfession sie angehören, offen. Dank Beiträgen der katholischen Kirchgemeinde, der politischen Gemeinde und des Kantons wirft der Hort einen bescheidenen Gewinn ab und entlastet so die arg gebeutelte Kasse der Reformierten.
Mit der Einweihung des Kirchgemeindezentrums könnte die Geschichte hier nun glücklich enden. Für alle Beteiligten war somit jene grosszügige Landschenkung vor über hundert Jahren der Ausgangspunkt zur allgemeinen Zufriedenheit.
Doch genau mit der Einweihung des reformierten Gemeindezentrums, die zusammen mit dem Saal der politischen Gemeinde gefeiert werden sollte, nimmt die Geschichte ihren Anfang. War der Name für den grossen Gemeindesaal nämlich schnell gefunden, er sollte als Glattsaal (nach dem Fluss der durch die Gemeinde fliesst) in die Geschichte eingehen, taten sich die Verantwortlichen der reformierten Kirchgemeinde schwer, den richtigen Namen für ihren kleineren Mehrzweckraum, der angrenzend an den Glattsaal gebaut wurde, zu finden.
Schleichen wir uns doch in die Zusammenkunft des erweiterten reformierten Kirchenrates im grossen Sitzungszimmer des Hauses Zur Buche.
Dreissig Frauen und Männer zwängten sich im ehrwürdigen Raume zusammen. Der jüngste Teilnehmer keine zwanzig und die Älteste mit ihren achtundsiebzig Jahren noch immer die aktive Leiterin der Altersgemeinschaft 60 - na und? Trotz der drei schräg gestellten Fenster war die Luft zum schneiden dick.
Franz, Kirchenratpräsident und Sitzungsleiter, versuchte dennoch frischen Sauerstoff zu schnappen und holte aus:
»Liebe Anwesende, eines meiner Grundprinzipien ist ja, dass keine Sitzung länger als zwei Stunden dauern soll. Dank euerem grossen Einsatz und dem Mitmachen von allen, konnten wir in den letzten hundert Minuten bis auf eine, alle Traktanden abarbeiten. Ich bin glücklich, dass ich schon jetzt sagen kann: Die Organisation zu unserem grossen Tag, der Einweihung des neuen Zentrums, steht. Das Fest kann beginnen, lediglich der letzte Punkt der heutigen Traktandenliste bleibt uns noch.«
Der Kirchenpräsident hatte sich wie gewohnt perfekt auf den Abend vorbereitet. Auf dem Beamer wurde eine Innenansicht des neuen Mehrzweckraumes auf die Leinwand projektiert.
»Dieses Bild habe ich heute vor der Sitzung aufgenommen. Meine lieben Leute, dieser wunderschöne Raum ist fertig, hat aber leider keinen griffigen Namen. In den letzten Wochen sind zwar einige gute Vorschläge bei mir eingetroffen und ich stelle diese zur Diskussion.«
Nun erschienen Namen und Erklärungen in der Mitte der Leinwand:
Wyssbachsaal
(ein Nebenfluss zur Glatt)
Reformierter Kirchensaal
Evangelisches Zentrum
Kirchenzentrum
Neuer Buchensaal
(in Erinnerung an den Saal im Haus zur Buche)
und ????
»Ich danke allen, die sich die Mühe gemacht haben mir ihren Vorschlag zu melden. Was meint ihr zu den Ideen?«
Die Diskussion ging los und zeigte schnell, dass keiner der Vorschläge so richtig zu gefallen wusste. Grüningersaal fanden einige nicht schlecht, doch hatte der Name seit der Schliessung der Grüninger Textil Werke und den unumgänglichen Entlassungen gewaltig an Glanz verloren und einen eher negativen Beigeschmack. Der Präsident sah ein, dass es an dieser Sitzung nicht mehr zum grossen Wurf kommen würde. Er wollte die Sitzung schliessen:
»Ja, es geht mir genau wie euch. Der Name für unseren neuen Treffpunkt, in dem die Sitzungen des Kirchenvorstandes und der verschiedenen Organisationen, Anlässe und kirchlichen Feiern statt finden werden, soll klar und deutlich sein, ein Zeichen für unseren Glauben setzen, aber auch für den Willen, unsere Kirchgemeinde vorwärts zu bringen und unverwechselbar sein. Wenn der zündende Name heute nicht kommt so wird er halt ein anderes Mal kommen. Ich möchte nichts erzwingen und schliesse die......«
Laut und deutlich war die Stimme der Gemeindeschwester zu hören:
»Zwinglisaal!«
Während eines Augenblickes herrschte absolute Ruhe im Raum des Hauses zur Buche. Der Finanzchef zeigte sich als Eisbrecher. Er stand auf, blickte geradezu entzückt zur Gemeindeschwester und klatschte in seine weichen Bürolistenhände. Nur wenige Sekunden später applaudierten alle Versammlungsteilnehmer begeistert mit. Franz bat mit Handzeichen um Ruhe und stellte erfreut fest:
»Die Abstimmung kann ich mir wohl ersparen. Nur für das Protokoll: Die heutige, grosse Versammlung beschliesst einstimmig, den Gemeinschaftsraum im neuen Kirchenzentrum Zwinglisaal zu nennen. Die Sitzung wird nach hundertachtzehn Minuten geschlossen. Claire, ich gratuliere dir zu deinem hervorragenden Vorschlag und ich spendiere gerne eine Runde für alle. Ich habe im Rössli reserviert.«
Claire, die Gemeindeschwester, die sich um die allein- stehenden, betagten Kirchgemeindemitglieder kümmerte, sie regelmässig besuchte und wenn nötig auch pflegte, war sichtlich stolz über ihren Gedankenblitz. Viele klopften ihr auf die bald vierzig Jahre alten Schultern und äusserten ihre helle Begeisterung für ihren tollen Vorschlag.