Читать книгу GLASTRAUM - Hans Rudolf Specht - Страница 5

Rückblende

Оглавление

In den guten Wirtschaftsjahren entschied sich der geschäftsführende Spross der Textilunternehmerfamilie in deren Besitz sich das Gut zu den zwei Linden befand, dieses als Stiftung dem Dorfe zu überlassen. Die Familie hatte längst eine neue, grossartigere Villa gebaut und das Gut stand leer. Nur eine Bedingung war zu erfüllen: Im Hause solle ein Museum über die Dorfentwicklung eingerichtet werden. Schnell waren geschichtlich interessierte Einwohner und Einwohnerinnen gefunden, die sich im Verein Ortsmuseum organisierten und genau zwanzig Jahre vor dem Wechsel vom zweiten ins dritte Jahrtausend der christlichen Zeitrechnung die Liegenschaft übernehmen konnten. Das Inventar und die im Hause verbliebenen Gegenstände der Fabrikantenfamilie wurden sorgsam registriert und beschrieben, teilweise verkauft und mit neuen Museumsstücken ergänzt. Das Haus wurde durchsucht und auf dem Estrich fanden die engagierten Freiwilligen nebst vielen Antiquitäten einen ganzen Stapel originaler Biberschwanzziegel, die vom Bau her stammten und einen bedeutenden Wert darstellten.

»Die lassen wir schön da! Erstens sind wir vielleicht einmal froh, wenn wir Ziegel ersetzen müssen und zweitens sind diese Dachziegel heute sehr gesucht.«

Der erste Museumspräsident, ein im Dorfe angesehener Advokat, war ein weiser Mann. Das zwanzigste Jahrhundert nach Christus verabschiedete sich nämlich in weiten Teilen Westeuropas mit einem gewaltigen Sturm. Das Unwetter ging als Lothar in die Geschichte ein. Tausende Bäume wurden geknickt oder entwurzelt, Autos wie Spielzeuge durch die Luft gewirbelt. Alles was nicht niet- und nagelfest gesichert war, wurde umgeworfen, weggeblasen und zerstört. Der Sturm deckte die Dächer von ganzen Häuserzeilen ab. Ziegel flogen auf die Strassen, auf Autos und unglückliche Passanten. In der Schweiz starben vierzehn und in den umliegenden Ländern einhundertsechs Menschen. Auch das Haus zu den zwei Linden kam nicht ungeschoren davon. Bäume wurden geknickt, entwurzelt, Äste abgerissen und das Dach des Hauptgebäudes stark beschädigt. Die Feuerwehr zersägte die kaputten Bäume und errichtete ein Notdach. Im ersten Frühjahr des neuen Jahrtausends rückte ein Dachdecker aus dem Ort an und begann mit seiner Mannschaft das Dach zu reparieren. Die im Estrich eingelagerten Ziegel erfüllten ihren Zweck voll und ganz.

Es blieb ein ansehnlicher Stapel wundervoller Biberschwanzziegel übrig und der Dachdeckermeister wollte die Gunst der Stunde nutzen. Er gab seinem stämmigen Gehilfen den Auftrag möglichst viele der neuen Ziegel in einer Brente nach unten zu tragen und im gedeckten Anhänger zu verstauen. Er bläute ihm ein, sich von niemandem dabei erwischen zu lassen und verschwand zum Gewerbeapéro in ein beim Bahnhof gelegenes Café. Der junge Mann mühte sich mit dem schweren Tragkorb redlich ab. Doch beim dritten Transport brach der Boden des Weidengeflechtes. Der Inhalt fiel auf den Vorplatz. Einige Ziegel barsten und die Brente war zerstört. Er räumte auf, so gut er eben konnte, wischte die Spuren von den Pflastersteinen und lud die Reste des Korbes in den Anhänger. Diesen verschloss er gewissenhaft und ging nach Hause. Schliesslich war Freitagabend und er wollte mit seiner Freundin an einen Bum Bum Raverevent.

Am Samstagmorgen fand eine Besichtigung im Ortsmuseum statt. Der Jahrgängerverein der Nachbargemeinde hatte seinen Besuch angekündigt. Der Präsident wollte die Führung persönlich übernehmen. Er war eine halbe Stunde vor den Gästen da und fand Bruchstücke der zerbrochenen Ziegel vor dem Eingang. Auf dem Parkplatz stand noch immer der Anhänger des Dachdeckers. Der Gewerbeapéro hatte etwas länger gedauert. Der Meister lag deshalb mit brummendem Schädel im Bett und dachte ganz gewiss nicht an den Anhänger, der gerade vom Museumsleiter geöffnet wurde. Der gewiefte Mann erkannte sofort, was da geschehen war und eilte auf den Estrich. Alphons, der Mann der im Hause unermüdlich für Ordnung und Übersicht sorgte und jede Ecke wie seine Hosentasche kannte, hatte ihm eindringlich erklärt, dass diese Ziegel einen kleinen Schatz darstellten. Der Schädel des Dachdeckermeisters brummte nach dem Telefon mit dem Museumspräsidenten um einige Touren höher. Von Diebstahl, Sachbeschädigung und grobem Unfug war die Rede. Rechtsanwalt gegen Dachdecker endet selten zu Gunsten des Handwerkers. Der langen Rede kurzer Erfolg: der Präsident rief Alphons. Alphons inspizierte den Rest der Ziegel, schaute genauer hin, nahm seine Taschenlampe und entdeckte unter dem Stapel etwas Unbekanntes. Er räumte den Rest der Ziegel weg und fand nach dem entfernen des Staubes, dem Fledermauskot und den Spinnweben einen wunderschön geschnitzten kleinen Holzkoffer. Ungefähr einen halben Meter in der Länge, vierzig Zenitmeter in der Breite und zwanzig Zentimeter in der Tiefe. Kunstvoll gearbeitete Messingbeschläge hielten den Deckel auf dem Unterteil. Die Oberfläche zierten, von einem geschickten Bildhauer geformt, griechische Symbole. Die Zeichen Alpha und Omega verflochten mit Rosen und in jeder Ecke eine fein modellierte, halbnackte, Frauengestalt. Im Zentrum aber stand unübersehbar ein stolzer Hahn. Alphons löste das Kistchen aus seinem Schmutzverlies und trug es sorgsam auf ein kleines Tischchen. Erst im dritten Anlauf gelang es ihm, den Deckel zu öffnen. Er wagte kaum zu atmen. Was hatte er gefunden? Vielleicht einen alten Goldschatz? Nein, eine Scheibe aus buntem Glas! Das Portrait eines Mannes. Sorgfältig hob er das Bildnis vor das Fenster. Im eindringenden Sonnenlicht erkannte er den Mann. Huldrych Zwingli, der berühmte, schweizerische Reformator. Trotz seiner grossen Erfahrung für Altertümer konnte er auf den ersten Blick unmöglich das Alter des Fundes abschätzen. Er erkannte aber, dass es aufwändig und schön gefertigt war. Er trug seinen neuen Schatz in die kleine Werkstatt im Keller des Hauses, reinigte das Bild und das Kästchen mit Pressluft und Pinsel und verschloss sein Reich sorgfältig. Den Schlüssel steckte er ein. Er wollte seinen Boss, der mit der Besuchergruppe schon längst weiter gezogen war, mit seinem Fund persönlich überraschen. Der Präsident, katholischen Glaubens, konnte jedoch dem Bildnis von Huldrych Zwingli keinerlei Sympathie entgegenbringen. Er empfahl Alphons, das Kästchen wieder dorthin zu legen, wo er es gefunden hatte, auf den Estrich zum Fundus des Museums. Alphons nahm den Zwingli auf die Inventarliste und versuchte etwas über die Herkunft zu erfahren. Man kann es sich fast nicht vorstellen aber vor etwas mehr als zwanzig Jahren war der Begriff Im Internet googeln völlig unbekannt. Trotzdem fand Alphons einiges über das Kunstwerk heraus. Das Glasbild soll einem Gemälde von Hans Asper gleichen und wurde von einem Fachmann aus Andwil auf ein Alter von ungefähr dreihundert oder mehr Jahren geschätzt. Es sei wohl in einer Manufaktur im fernen Zürich hergestellt worden. Damals habe es an der Limmat verschiedene Glaskünstler gegeben. Alphons schrieb diese Erkenntnisse ebenso sorgfältig in sein blaues Buch wie er die Kiste wieder auf den Estrich trug, mit einem rotweissen Karotuch bedeckte und vergass.

GLASTRAUM

Подняться наверх