Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 23
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ОглавлениеZwei endlose Zugfahrten in zwei Tagen. Da hat jemand sein Konto ordentlich überzogen, dachte Max. Irgendwo da draußen im Dunkeln stand das Schloss. Es musste Thüringen sein. Oder Sachsen. Oder Sachsen-Anhalt. Osten jedenfalls. Transit. Hätte er nein sagen können? Natürlich. Er konnte immer noch nein sagen. Aber so sehr er auch nein sagte, er saß in diesem Zugabteil mit seinem fein grün-blau gestreiften Stoffkoffer aus den Fünfzigerjahren, den er bei seinen Eltern auf dem Dachboden gefunden hatte, und mit der alten Tasche. Er wollte beim Frühstück noch nein sagen, ich nehme sie nicht, da stach es ins Gedärm. Das war nicht Verdauung, das war Krieg, Stellungskampf Magen gegen Darm. Er hatte nicht gewusst, dass der Verdauungstrakt die Zeche zahlt, wenn man wieder mit dem Rauchen anfängt. Als er dachte, es sei vorbei, er konnte nicht wissen, dass nur Waffenstillstand war, sagte er sich in Großmamas Gästeklo, okay, ich nehme sie mit, schaue aber nicht hinein. Großmama hatte fünfzig Jahre nicht hineingeschaut. So lang konnte er sich Zeit lassen. Dann wäre er fünfundsiebzig. Ein gutes Alter, um sich mit Geschichte zu beschäftigen. Davor fünfzig Jahre frei.
Zwei Lederriemen, jeweils fünf fein gearbeitete Ösen, Schließen wie kleine Gürtelschnallen. Die Riemen waren offenbar einmal durchtrennt worden. Aber sie würden schon halten. Ihr werdet euch wundern, wie gut die halten, dachte Max. Er ließ die Tasche nicht los. Nickte er ein, schreckte er aus ungutem Halbschlaf hoch. So eine Tasche hat man ja viel mehr im Kopf als in den Händen.
Zweimal hatte Max schon viel Zeit auf dem zugigen Intercityklo verbracht, die Tasche auf dem Schoß. Im Abteil wollte er sie nicht lassen. Von unten, von den Gleisen zog es. In Fladen löste sich widerwillig Verdautes. Auf den Knien die Tasche, wie eine züchtige alte Jungfer. Aus Langeweile war die rechte Hand zu einem der Riemen geglitten, hatte schon begonnen, die Spitze unter der Schnalle anzuheben, da stauchte ihn der Zuglautsprecher regelrecht zusammen. Eine barsche Stimme kündigte den nächsten Bahnhof an.
Ob ihm aufgefallen sei, hatte Großmama gefragt, dass man das Schloss von der Bahn aus sehen könne. Es war ihm nie aufgefallen. Das Schloss war Großmamas Zuhause gewesen, kurz. 1932 hatte sie, noch keine achtzehn, ihr Vater war gerade gestorben, geheiratet, kam aus Österreich dorthin. Bis fünfundvierzig hat sie dann dort gelebt. Sie war zu österreichisch, das alles zu deutsch, und dreizehn Jahre waren zu kurz, als dass sie sich nach dem Tod von Großpapa wirklich als Erbin einer jahrhundertealten Tradition hätte fühlen können, die nicht die ihre war. Abgesehen davon waren das dreizehn Jahre, die es einem nicht gerade leicht gemacht haben, sich deutsch fühlen zu wollen. Aber das wäre in Österreich auch nicht viel besser gewesen. Während Großpapa bis zu seinem Tod die Rückkehr plante, war Großmama das Schloss eigentlich egal. Gesagt hätte sie das natürlich nicht.
Als die Mauer fiel, hatten sie Ausflüge ins Umland gemacht. Und Max hatte aufgehört zu rauchen. Ohne Zigaretten durch die DDR, das vergisst man nicht. Für Max blieb das, was sie die neuen Bundesländer nannten, immer mit der ungestillten Sucht nach Nikotin verbunden. Fiona war ein paarmal dabei. Sechzehn aufeinanderfolgende Sonntage waren sie ab November neunundachtzig, mal zu viert, mal zu fünft, mehr passten beim besten Willen nicht in den Silberpfeil, durch die Mauer gestoßen und gefahren, bis ein Ortsname versprach, etwas Wirklichkeit werden zu lassen, was bis dahin nur in ihrer Fantasie existiert hatte. Wie Wörlitz. Oder Fehrbellin. Oder Ribbeck. Oder der Stechlin. In alle Himmelsrichtungen sind sie gefahren. Jeden Sonntag eine fremde Welt, in der die Leute zu ihrer Überraschung fast dieselbe Sprache sprachen wie sie.
Sie sahen, wie westdeutsche Brauereien mit glänzenden Schildern und großen Sonnenschirmen die Gasthäuser ganzer Regionen kaperten. Einmal war Währungsunion. Da standen sie an den provisorischen Sparkassen Schlange, um DDR-Mark gegen D-Mark einzutauschen, zwei zu eins. Durch die Alleen rollten dunkle Autos, aus denen heraus ganze Dörfer aufgekauft wurden. Dem Verdacht waren sie im Silberpfeil nicht ausgesetzt. Im Gegenteil, der ramponierte französische Kleinwagen löste sichtlich Skepsis aus. Feindselige Blicke schienen zu fragen, wie man im Westen leben und freiwillig in etwas herumfahren konnte, was denen, die da grimmig herübersahen, das Gefühl vermittelte, mit ihrem Trabant ganz gut bedient zu sein.
Einmal fuhren sie ans Meer. Berlin liegt fast am Meer. Das hatten sie nicht gewusst in West-Berlin. Berlin liegt auch fast in Polen. Das würden die meisten in West-Berlin nie erfahren. Und es war ja auch nicht immer so. An der polnischen Grenze waren sie auch und haben über die Oder nach Küstrin geschaut, dort, wo sie die Reichsstraße 1 gekappt haben, die alte Krönungsstraße von Königsberg nach Aachen. Sie fuhren im morgendlichen Februarnebel über feuchte Pflastersteine unter kahlen Alleebäumen wie durch eine Schwarz-Weiß-Fotografie Richtung Oder, Polen, Königsberg und waren ganz feierlich. Auf dem Rückweg, der Nebel hatte sich aufgelöst und sie hatten Letschoschnitzel gegessen, war das dann auch wieder vorbei.
Eine der Fahrten ging zum Schloss. Seitdem gab es keinen Zweifel mehr, dass es tatsächlich existierte. Max hatte insgeheim immer gehofft, es sei bloß eine besonders lebhafte Erfindung oder wenigstens eine irgendwie überformte historische Stätte. Aber da stand es, feucht und gewaltig, auf einem Hügel über dem Fluss, mit dem kleinen schmalen und dem großen dicken Turm. Es sah erstaunlicherweise genau so aus wie auf den Bildern. Die Tore waren verrammelt. Lediglich eine Seitentür gab ein wenig nach, bevor eine Kette auch sie daran hinderte aufzugehen. Max sah durch den Spalt in einen großen Hof und dachte nichts. Sie hielten sich Schals vor die Münder, weil es so stank. Max befürchtete, sie würden alle krank.
Als er vom Klo ins Abteil zurückkam, war der Typ weg. Ein Nichtraucher im Raucherabteil, in einem fast leeren Zug. Max fand das merkwürdig. Kurz nach Ulm hatte er sich, blass und schwammig, so ein beiger Typ, grüßte nicht, ins Abteil gesetzt. Max saß am Fenster, er schräg gegenüber am Gang. Kein Gepäck, nichts. Er las auch nicht. Nicht einmal eine Zeitung hatte er. Saß da, schaute aus dem Fenster. Max schaute und rauchte, der Typ schaute und rauchte nicht. Jetzt war Max wieder allein. Er ließ die Tasche auf den Boden fallen, absichtlich. Eine Unbotmäßigkeit, ein Akt der Befreiung. Er feierte ihn mit einer Gauloise. Asche fiel auf die Tasche. Max wischte sie nicht beiseite, lehnte sich zurück, wehrte sich nicht mehr gegen die Müdigkeit, spann den Gedanken fort. Hinter geschlossenen Lidern loderte Feuer auf. Vielleicht war es auch eine Laterne.