Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 29
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ОглавлениеWie konnte er diese Frau für Fiona halten? Vor Scham hätte Max sich in Luft auflösen wollen. Er starrte durch die verschmierte Scheibe in die Nacht. Der Bus fuhr unter den eisernen Brücken hindurch. Max griff nach dem Koffer, stolperte die Treppe hinunter. Da stand er im Dunkeln in der feuchten Luft und sah der beleuchteten 19 auf dem Bus hinterher. Ein Abgrund tat sich unter ihm auf. Fiona war nicht das Einzige, was er vermisste.
Es half nicht, einfach stehen zu bleiben, aber es verzögerte. Er stellte den Koffer ab, um sich eine Zigarette anzustecken. Wann hatte er die Tasche zum letzten Mal in der Hand gehabt? Im Bus? Im Zug? Er war durch den Bahnhof gerannt. Da hatte er den Koffer in der Rechten, mit der Linken die Türen aufgestoßen. Er versuchte, die Erinnerung an den Moment zu zwingen, in dem er die Tasche zum letzten Mal gesehen hatte. In der Wohnung schlug er die Nummern der Fundbüros im Telefonbuch nach, Stadt und Bahn. Beide waren nicht mehr besetzt.
Etwas vom Thronfolger, hatte Großmama gesagt. Was sonst in der Tasche war, würde er nie erfahren. Irgendjemand wusste es jetzt. Vielleicht hätte Max endlich verstanden, wie ein toter Erzherzog einen Weltkrieg auslösen konnte. Das war ihm immer ein Rätsel gewesen. Jetzt, wo die Tasche weg war, fand er es albern, dass er nicht hatte hineinschauen wollen. Plötzlich interessierte ihn brennend, was drin war. Spätestens jetzt hätte er eh wieder angefangen zu rauchen, dachte er wahrscheinlich zum zwanzigsten Mal seit dem Vorabend. Im Fenster leuchtete sein Spiegelbild bei jedem Zug hinter orangener Glut auf. Schwarz stand die Kastanie vor der kahlen Brandwand. Irgendwo da draußen war die Tasche. Die Geschichte, die in ihr steckte, würde ein Geheimnis bleiben, für immer.
Max flüchtete ins Bett. Auf dem Anrufbeantworter konnte keine Nachricht sein, er hatte ihn nicht eingeschaltet. Er hätte auch so zu Enzo gehen können. Dass Paul und die anderen dort saßen, war mehr als wahrscheinlich. Aber was hätte er ihnen erzählen sollen? Familiengeschichten behielt er für sich, fern von den Freunden. Er hielt das so, und zwar eisern, seit sie ihn im Kindergarten ausgelacht hatten, als er einmal sagte, er würde jetzt jausnen gehen. Danach hatte er das Wort nie wieder benutzt, ja, er hatte versucht, es nicht einmal mehr zu denken. Hier die Freunde, da die Familie. Hier der Kaffee, da die Jause. Dazwischen der Rubikon. Der Styx. Die Spree. Er zog sich die Decke über den Kopf. Die Donau.
Mit der Tasche war es wie mit einer Flaschenpost. In Not aufgegeben, nach Jahrzehnten angeschwemmt, aber noch ungeöffnet. Vielleicht war sie einfach noch nicht angekommen, nicht angekommen genug. Der Gedanke ließ unter der Decke die Illusion zu, es sei am Ende alles schon irgendwie in Ordnung. Aber das Gefühl, dass etwas Großes bevorstand, blieb. Etwas Großes, nicht unbedingt etwas Gutes.