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Das Urteil war endgültig. Als Max den Silberpfeil aufs Trottoir vor dem Philosophischen Institut lenkte, waren es noch vier Minuten, bis sie es verkündeten. Gesprochen war es, er kannte es nur noch nicht.

Die Tasche war er wieder los. Da folgte das Urteil auf dem Fuß. Als sei das eine die Strafe für das andere. Es war Ironie der Geschichte, dass sie das Urteil gerade an diesem Tag verkündet hatten. Als hätten sie es auf ihn abgesehen. Du bist nicht einmal bereit, die kleine Tasche zu nehmen? Na warte, dann geben wir dir ein ganzes großes, verfallenes, stinkendes Schloss zurück. Mit werweißwieviel verseuchtem Boden drumherum. Und tausend Jahren Geschichte drin. Er würde gleich aus dem Radio erfahren, ob er weiterleben durfte wie bisher, oder ob er ein geerbtes, gebrauchtes, ein mit Geschwistern zu teilendes, fremdes Leben zu leben hatte. Kalte Wut stand bereit, sich auszubreiten.

Den Tag hatte Max zu zwei Dritteln im Bett, zu einem auf dem Klo verbracht. Ganz hatte sich der Körper noch nicht daran gewöhnt, dass er sich wieder nach Belieben mit Nikotin und Teer versorgen lassen konnte. Dass das Klo auf dem Treppenabsatz lag, störte Max dabei weniger als der erbärmliche Zustand der hohen, eng beieinanderstehenden Wände, die oberhalb der Spülung in achtzig Jahren keine verschönernde oder auch nur pflegende Zuwendung erhalten hatten. Je länger er da saß, desto unzweideutiger liefen sie zu den Mauern einer Zelle zusammen. Max zermarterte sich das Hirn. Was sollte er Großmama sagen? Vielleicht ein Inserat aufgeben. Finderlohn. Er dachte sich Strafen aus. Nach New York fahren zum Beispiel. New York als Strafe für die verlorene Tasche. Aber sie wollten ja Dokumente sehen in New York. Ob sie von der Tasche wussten?

Fiona hatte er immer noch nicht angerufen. Zu matt war er, zu durcheinander. Bei der Bahn versuchte er es immer wieder, auch beim Fundbüro. Am Ende war es das drängende Bedürfnis nach Normalität, das ihn hatte zur Universität fahren lassen, die Angst, die Außenwelt könnte sich irgendwann aufs Außenklo beschränken.

Da saß er, vier Minuten vor sechs, am Steuer des Silberpfeil und zündete sich eine Zigarette an. Auf dem Beifahrersitz lagen die Gauloises auf einer hellblauen Pappmappe mit der Aufschrift Gedächtnis und Erinnerung. Dass er zu früh war, verstand sich von selbst. Es war eine gleich doppelseitige Erblast. Sowohl die Familie seines Vaters als auch die seiner Mutter waren seit Jahrhunderten immer zu früh. Rechnete man all die Viertel- und halben Stunden zusammen, die Max als Kind mit den Eltern im Auto gewartet hatte, kamen wahrscheinlich Tage heraus. Die Eltern waren beide Flüchtlinge, beide Familien nicht nur geografisch, sondern auch sozial entwurzelt. Nicht nur Besitz und Heimat waren verloren, sondern auch jede sinnvolle Funktion in der Welt. Aber sag deinen Genen und deiner Erziehung, dass sie deplatziert sind. Die pfeifen dir eins.

Nie würde er die Sache mit dem Handkuss in der Stadthalle vergessen. Er wird zehn gewesen sein, vielleicht elf. Lange war ihm die Erinnerung nur peinlich. Inzwischen war ihm klar, dass es das Urerlebnis seiner existenziellen Deplatziertheit war. Die Erfahrung, dass er nicht dazugehörte. Im Rahmen einer großen Feier mit Bischof und Bürgermeister sollte er in der großen Veranstaltungshalle seines Heimatortes den Heiligen Martin spielen. Es gab zwar fünfzig oder sechzig Mitwirkende, aber Sankt Martin, das war schon etwas. Die Halle war voll. Tausend, vielleicht auch zweitausend Menschen saßen da, es war eine katholische Gegend. Seine Mutter führte ihn zu einer Verwandten, einer hochadeligen Tante, die hier zu den Honoratioren gehörte. Sie gingen auf sie zu. Das hieß, er würde sie begrüßen müssen. Ihm war schwindelig und abwechselnd heiß und kalt, während er sich der hochgewachsenen Frau näherte. Er wischte sich die Handflächen an den Hosennähten. Er würde sie mit einem Handkuss begrüßen müssen. Und zweitausend Menschen, die noch nie einen Handkuss gegeben oder bekommen oder auch nur gesehen hatten, würden zuschauen. Er versuchte, die Annäherung hinauszuzögern. Als ließe sich die Katastrophe so verhindern. Er überlegte, ob er ausreißen konnte. Schließlich beugte er sich über die wohlriechende altersfleckige Hand, bis seine Lippen sie fast berührten. Es war nicht diese Hand, komischerweise hatte Max die Hände alternder Damen immer gemocht, die den Ekel aufsteigen ließ, sondern das Wissen, dass er in diesem Moment ausgestoßen wurde, sich selbst ausstieß, indem zweitausend Augenpaare Zeugen dieses stigmatisierenden Rituals aus einer untergegangenen Zeit wurden.

In Wirklichkeit hat es natürlich kein Mensch gesehen. Aber wen schert die Wirklichkeit, wenn sich die Vorstellung deiner bemächtigt? Und in seiner Vorstellung ging ein unwilliges Raunen durch die Halle, ein anschwellendes Geräusch, das etwas Endgültiges zum Ausdruck brachte. Dieses Raunen, das es nie gegeben hat, ist Max nicht wieder losgeworden. Der Vormittag in der Stadthalle, der zum Triumph hätte werden sollen, wurde zu einem zweiten Schatten, der ihm durchs Leben folgte. Große Gefühle brauchen nicht unbedingt große Ursachen. Und die anderen verstehen dich nicht. Es ist wie eine Behinderung. Es ist ein Leiden. Und Großmama hatte es diagnostiziert.

Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen

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