Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 21
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ОглавлениеDas Zugfahren hat der Teufel in einem Anfall von Czernin’schem Grant erfunden. Immerhin konnte Max auf der Rückfahrt rauchen. Also rauchte er und dachte an Fiona.
Warum hatte sie so gestrahlt damals? Es war in einem Proseminar bei den Historikern in München. Dafür, fand Max, hatte es sich gelohnt, ein paar Semester Geschichte zu studieren. Das Seminar war hoffnungslos überfüllt. Aus Langeweile fing Max an, die Gesichter einzeln durchzugehen. Weit kam er nicht.
Sie schien, sich selbst genug, durch eine fein ziselierte Linie abgehoben von der Welt, die sie umgab. Die braunen Haare glänzten seidig. Es traf ihn völlig unvorbereitet. Dunkle Augen, leicht mandelförmig, ihm war, als seien sie nicht gleich groß, was stimmte, was er aber unmöglich auf die Entfernung sehen konnte. Hohe Wangenknochen, Sommersprossen und dieser Mund, an den er unter aufsteigenden Glücksgefühlen selig seine Souveränität verlor.
Es dauerte drei Wochen, bis es Max gelang, sie anzusprechen, vier, bis sie sich zum Kaffee verabredeten, sechs, bis sie zum ersten Mal miteinander schliefen, jeweils vom Erstschlag an gerechnet. Das wochenlange Vorspiel löste sich in einer Vollmondnacht, von der sie beide keine Minute verschliefen. Wahrscheinlich war es diese Nacht, die es ihnen unmöglich machte, die Geschichte zu beenden. Oder es war schlicht der Umstand, dass sie füreinander geschaffen waren. Aber dann blieb sie doch bei ihrem Freund. Und Max war zu feige. Es war, als hätten sie sich in Schützengräben zurückgezogen. Zeit verging. Es gab Offensiven. Zum Beispiel fuhren sie für eine Woche nach Österreich in Großmamas altes Haus. Vom Balkon aus hatte man diesen unglaublichen Blick auf einen schmalen, langen See und eine Kette von Bergen. Von denen hieß einer Elefant. Fiona wollte das nicht glauben. Max liebte es, wenn sie so lachte.
Es war ursprünglich ein großes Anwesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die ersten Nebengebäude verkauft, Anfang der Achtzigerjahre das Haupthaus, die sogenannte Villa. Geblieben war das kleine Haus. Großmama hielt es um jeden Preis. Es war ihre Verbindung in eine andere Welt, nach ganz Zuhause, wie sie es nannte. Früher waren hier wahrscheinlich Zimmer für Dienstboten oder auch für Gäste eingerichtet. Auf einem alten Foto sah man, dass an das Haus die Küche angebaut war, obwohl die Villa fast hundert Meter entfernt lag. Irgendwie mussten die das Essen hinübergetragen haben, rennend wahrscheinlich. So stellte Max es sich zumindest vor. Diener in grünen Wämsern über weißen Hemden sah er im Geiste die Straße hinaufrennen, auf den Tellern kuppelförmige Deckel, die die Wärme hielten. Ausgerechnet hier, in diesem Haus, das ganz aus Vergangenheit gemauert war und wo jeder Stein, jedes Möbel, jedes Bild Geschichte atmete, wurde der Traum von der Gegenwart mit Fiona wahr. Für eine Woche.
Bei einem Abendessen in München verkündete sie wenig später: »Übrigens, ich gehe zum nächsten Semester nach Berlin.« Ihre Wangen glühten vor Begeisterung und vom billigen Rotwein. Sie glühten immer schnell. Da rief es aus Max: »Ach, das ist ja witzig, ich auch!«
Als Fiona an diesem Abend gegen halb elf schon aufstand und sagte, sie müsse jetzt gehen, ging Max auch, obwohl er eigentlich gern geblieben wäre. Es war Winter, und es lag Schnee. Sie gingen schweigend nebeneinander Richtung U-Bahn. Auf dem Bahnsteig würden sie sich trennen, die Bahn in unterschiedliche Richtungen nehmen. Sie schauten geradeaus oder auf den glitzernd weißen Boden. Max blieb stehen. Eine Haarsträhne fiel ihr über die Stirn. Sie war schön wie nie. Sie glühte immer noch und sah Max aus unterschiedlich großen braungrünen Mandelaugen an. Der machte einen Schritt auf sie zu. Sie wich zurück, um ihr Becken an einem metallenen Stromkasten abzustützen. Langsam bewegten sich ihre Gesichter aufeinander zu. Max machte den ersten Vorstoß, schob seine Zunge zärtlich zwischen ihre weichen Lippen, fand dahinter ihre, fleischig, ein wenig rau, die ihm eilig entgegenkam.
Sie küssten sich, wie sie sich nie geküsst hatten. Dieser Kuss würde entscheiden. Sie musste sich von ihrem Freund trennen. Max musste seine Unabhängigkeit aufgeben, die ja nichts anderes war als die Angst vor der Nähe, die er suchte. Sie würden gemeinsam nach Berlin gehen, als Paar. Alles war gut. Fiona küsste viel einfallsreicher als sonst. Max wurde eifersüchtig auf jemanden, den es da gegeben haben musste. Die Kraft, mit der sich ihre Finger immer fester in seinen Mantel krallten, verriet sie. Da nahm sie überraschend den Kopf ein wenig zurück. Die Lippen waren sich noch nah. Leise sagte sie: »Ich glaube, das ist nicht sehr vernünftig.«
Sie hatte es getan. Der Ball lag bei ihm, er musste ihn nur sacht berühren. Da standen sie, Lende an Lende. Es war still, wie es nur in Nächten bei Neuschnee still ist. »Ja«, hörte Max sich leise sagen, während sie sich voneinander lösten, »du hast recht.« Alles, selbst der flüchtige weiße Hauch, der die Worte begleitete, schien ihn in diesem Moment für seine grenzenlose Feigheit zu verachten. »Das ist es wirklich nicht.«
Schweigend sortierten sie sich und gingen zur Bahn. Glücklicherweise kam der erste Zug rasch. Es war ihrer. Sie küssten sich flüchtig auf den Mund. Weg war sie, vom U-Bahn-Tunnel aufgesogen. Auf dem grell beleuchteten Bahnsteig herrschte die gnadenlose Stille nach der verpassten Chance. Es war auch die Stille der Verachtung. Max steckte die Hände in die Manteltaschen, sah sein Spiegelbild undeutlich in der Scheibe des Fahrplankastens und schlug den Kopf gegen das Glas, nicht fest, aber oft.