Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 16

10

Оглавление

Eine Gesellschaft hat sich zu einem als Soiree annoncierten Ereignis versammelt. Viele regierende Fürsten, die zu Soireen laden, gibt es nicht mehr. Die Flucht von Salons im Eingangsgeschoss des wuchtigen Schlosses ist hell erleuchtet und voller Menschen, die sich zur Begrüßung Wangen oder Hände küssen. In beiden Fällen wird nicht wirklich geküsst. Es wird schnell gesprochen, an Champagnerkelchen genippt, zu laut gelacht. Die Menschen, die hier versammelt sind, haben fast alle die gleiche Form des Überbisses. Das muss nicht hässlich sein. Sie haben alle mehr oder weniger dieselbe Erziehung erlitten. Sie kennen dieselben Geschichten und erzählen sie sich gegenseitig immer wieder. Die Anekdote ist hier die rituelle Form der Selbstvergewisserung. Sie stiftet Gemeinsamkeit, bezeugt Vergangenheit und bildet einen Grundstock für die Zukunft. Sie duzen sich. Sie heiraten sich gegenseitig. Sie sind verwandt. Der Begriff hat dabei eher zoologische als soziologische Bedeutung. Er ist weit gefasst, bestärkt nach innen und grenzt nach außen ab. Seit Jahrhunderten hören diese Menschen, sie seien etwas Besonderes. Seit Jahrzehnten sind sie es nicht mehr. Aber sie hören es immer noch. Das Schaf wirft seinen Pelz auch nicht ab, bloß weil es aufgehört hat zu regnen. Die Menschen hier sind nicht für diese Zeit gemacht. Deshalb bleiben sie gern unter sich. Das Gebäude, in dem sie tapfer zu wohnen vorgeben, obwohl es längst um sie herum abgerissen wurde, bekommt an diesem Abend noch einmal ein Dach. Das Spiel wird noch einmal Ernst. Alle sind gekommen. Selbst Großmama, blind, schwerhörig, schweratmig, obwohl sie geschworen hat, nie wieder irgendwohin zu fahren. Da liegt dieser unsichtbare Schleier der Erwartung über der Menge. Kinder kennen das vom Weihnachtsabend. Und dann. Lachen und Gemurmel verstummen. Als würde ein fröhlich loderndes Feuer langsam erstickt. Die Party gefriert zum Bild, ein gigantisches Tableau in satten Farben. Diener in Livree, weiße Handschuhe, schieben Türflügel aus dem Weg. Zwischen dem Fürsten und der Fürstin nähert sich langsam etwas winziges Schwarzes neben einem hochgewachsenen Herrn. Die Menge teilt sich. Fließende Seide raschelt. Abgesehen davon traut sich keiner, die atemberaubende Stille zu verletzen. Fürst und Fürstin schreiten hinter der sehr kleinen, von Kopf bis Fuß in Schwarz, schwarze Seide, schwarze Spitze, gehüllten Gestalt. Den linken Arm hat sie bei dem Herrn mit der großen Brille untergehakt. Mit der rechten Hand stützt sie sich auf einen schwarzen Stock mit silbernem Knauf. In einem historischen Zeremonien vorbehaltenen Schneckentempo bewegt sich das leise raschelnde, überaus würdige Quartett durch das Gemälde der Statisten. Was man hört, meint man nur zu hören. Als die Mitte des ersten Raums erreicht ist, wendet sich die Gruppe nach rechts. Sie hat jetzt die Flucht der Salons vor sich, verbunden durch geöffnete Flügelportale, ein langer, von Menschen gesäumter Gang. Sie schreiten ihn ab, die Menge teilend wie Mose das Meer. Der schwarze Gast ist das Ereignis. Die letzte Verbindung der Gegenwart in die Vergangenheit. Die Wirklichkeit zu dem, was die anderen zu spielen verdammt sind. Es dauert, bis der kleine verhüllte Gast am Arm des großen Herrn, gefolgt vom Fürstenpaar, die Stirnseite des letzten Salons und die Flügeltür erreicht. Die öffnet sich wie von Geisterhand. Viel kann man nicht erkennen. Das ist gut, wegen der Fantasie. Wie Wachhabende bringen sich Livrierte in Position. Sekunden bleibt es still. Der Schreck, der in der Ehrfurcht steckt. Dann fängt einer an zu klatschen. Applaus lodert auf. Keiner weiß so recht, warum. Aber sie klatschen, und indem sie klatschen, holen sie sich in die Gegenwart zurück. Der eigenhändig verursachte Lärm bläst wie Sturm ins Tableau. Klatschend wecken sie sich selbst und gegenseitig und erkennen, indem sie sehen, dass die anderen auch klatschen, dass der Traum kein Traum ist. Jetzt applaudieren sie sich selbst. Es wird wieder gelacht, getrunken, geküsst. Die Jungen suchen nach möglichst entfernten ebenso jungen Verwandten des jeweils anderen, bisweilen auch des eigenen Geschlechts. Schließlich ist jede größere Zusammenkunft einer Minderheit auch Heiratsmarkt. Und es muss ja nicht gleich Heirat sein. Die Älteren haben auch nur ein Thema. Es ist eines dieser Ereignisse, die schon in dem Moment, in dem sie stattfinden, den Rang einer kanonischen Anekdote erlangen. Der Rest ist Feinschliff. Einige Auserwählte hat Ihre Majestät, die Exkaiserin, sag das bloß nicht, zu sich befohlen. Sie wird freundlich gefragt haben. Aber der Ruf einer Kaiserin ist keine Einladung. Selbst Großmama ist gekommen, eine Tortur in ihrem Zustand. In dem kleinen Salon erwartet die Kaiserin die Lieblingstochter ihres ärgsten Feindes. Die hat eine Ausnahme gemacht. Sie hat das schwarze Kleid, den kleinen schwarzen Hut und den schwarzen Schleier irgendwo hervorgeholt, reinigen und herrichten lassen. Und nun geht sie, großgewachsen und kerzengrade, schwarz und verschleiert wie die Kaiserin, nur nicht klein, sondern groß, über den Läufer auf dem historischen Parkett. Wer führt sie? Sie sieht ja nichts. Wer immer es ist, er führt sie in den kleinen Salon am Ende der Suite. Die Türflügel öffnen sich lautlos, schließen sich lautlos. Und da sitzen sie, die kleine schwarzverhüllte Blinde und die große schwarzverhüllte Blinde. Sitzen sie da zehn Minuten? Eine Stunde? Ach, was ist Zeit?

Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen

Подняться наверх