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»Es war im Sommer irgendwann. Komisch, dass man Sachen jahrelang übersehen kann. Ein paarmal habe ich mitbekommen, da draußen auf der Terrasse, wie du dich mit deinen Geschwistern gezankt hast. Du hast argumentiert. Gute Argumente, jedes endgültig für dich. Ich kenne das so gut. Diese flirrende Ungeduld. Die Stimme, die ein bisschen brüchig wird. Diese Verletzlichkeit. Ungeduld macht ja wahnsinnig verletzlich. Dann der Punkt, an dem es gerade noch nicht passiert. Ich habe richtig mitgelitten. Und da habe ich gewusst, dass es das ist. Dass du es bist. Die anderen merken das gar nicht. Und dann kippt es. Tränen in den Augen, ein richtiger Anfall, diese objektiv unangemessene Wut. Ich habe dich so gut verstanden. Dabei hatten die anderen so recht. So eine Explosion ohne Ursache, das ist schrecklich. Für den, der sie erleidet, viel mehr noch als für alle anderen. Und keiner versteht es.«

Was war das? Max fühlte sich wie nackt ausgezogen. Genau so war es, oft. Auch hier auf der Terrasse natürlich. Mit den Geschwistern sowieso. Aber er war sich immer ganz sicher gewesen, dass nur er wusste, wie das war.

»Das ist er.«

»Wer?«

»Der Czerninsche Grant. Der ist sprichwörtlich. Ich hab den Papa vor mir gesehen. Und mich. Du hast ihn. Ich hab ihn. Der Papa hat ihn gehabt. Und er hat ihn von seinem Vater gehabt. Es gibt ihn halt. Andere Sachen gibt es auch.« Sie lächelte angestrengt und sah blicklos in den Raum. »Da kann man nichts machen. Ich weiß ja, dass du nichts erben willst. Aber das, was du bist, das hast du. Dich interessiert das nicht, weil du jung bist. Aber irgendwann wirst du es auch sehen.«

Dann war es, als wehte plötzlich ein kalter Luftzug durchs Zimmer.

»Ich habe noch eine Bitte.«

Max stellte das Frühstücken ein und ging zum Rauchen über. Großmama bemühte sich sichtlich, nicht angestrengt zu wirken. OK bedeutete nichts Gutes.

»Wolltest du nicht immer schon mal nach New York?« »Wie bitte?«

»Würdest du hinfahren? Tu es für mich. Der Flug ist bezahlt, das Hotel auch. Und natürlich gebe ich dir Geld.«

Max rauchte.

»Es ist eine große Bitte, ich weiß.«

Großmama holte Luft. Es rasselte.

»Es gibt eine Tagung. Sie machen ein Symposium über den Papa an der Universität. Endlich«, Großmamas blinde Augen leuchteten, »kümmern sich die Historiker um die Geschichte. Darauf habe ich gewartet. Ich habe sogar ein bisschen dafür gebetet. Natürlich kann ich nicht fahren. Aber sie haben geschrieben, ich soll jemanden schicken. Bitte. Es geht doch um die Wahrheit. Darum, wie es eigentlich gewesen ist.«

Department of History, University of New York. Der Dekan

New York, 21. März 1991

Durchlaucht,

im kommenden Monat, am 24. und 25. April 1991, veranstaltet das Department of History der University of New York ein Symposium in Gedenken an Ihren verehrten Herrn Vater, den Grafen Ottokar Czernin von und zu Chudenitz. Im Namen der University of New York erlaube ich mir als Dekan des veranstaltenden Departments, Sie zur Teilnahme an dieser Tagung unter dem Titel »Count Czernin and the Truth« einzuladen.

International renommierte Wissenschaftler haben ihre Teilnahme zugesagt. Es werden folgende Themen behandelt: »Der Privatmann Czernin« (Prof. D. Kaiser, Berlin), »Graf Czernin in Bukarest und am Ballhausplatz« (Prof. J. Johler, Hamburg), »Kaiser Karl, Kaiserin Zita und die Nachwelt« (Prof. A. Poher, Boston), »Ich kenne keinen Unterschied zwischen Straßburg und Triest. Minister im Krieg« (N.N.), »Heiden? Verräter? Graf Czernin und Prinz Sixtus« (Dr. C. Sylva, Paris), »Ein nie gegebenes Ehrenwort?« (Prof. J. Roth, Salzburg), »Bausteine zur Biographie eines Unvollendeten« (Emil Ludwig, Berlin). Zum Abschluss sollen die Ergebnisse unter dem Titel »Count Czernin and the Truth« diskutiert werden.

Wir freuen uns auf diese längst überfällige Veranstaltung, ein Desiderat der Geschichtswissenschaft.

Durchlaucht, es wäre uns eine hohe Ehre, wenn Sie die Möglichkeit sähen, die Veranstaltung durch Ihre Anwesenheit zu adeln. Selbstverständlich sind Sie Gast der Universität. Besonders hilfreich wäre es darüber hinaus, wenn Sie Dokumente, die Ihren Herrn Vater womöglich entlasten und die sich vielleicht noch in Ihrem Besitz befinden, mit nach New York brächten. So könnten die Spezialisten die Originale gleich begutachten und in die Publikation zum Symposium aufnehmen. Sollten Sie sich selbst nicht in der Lage sehen, unserer Einladung Folge zu leisten, würden wir uns freuen, einen von Ihnen benannten Vertreter der Familie begrüßen zu dürfen, mit dem wir die Dokumente gemeinsam prüfen können.

Zum Schluss möchte ich noch höflich um Verzeihung wegen der Kurzfristigkeit dieser Einladung bitten. Diese hat organisatorische Gründe. Wir hoffen, dass dies Ihr Kommen nicht behindert.

Wir freuen uns darauf, gemeinsam mit Ihnen Licht ins historiographische Dunkel zu bringen, das Ihren geschätzten Herrn Vater bisweilen immer noch umgibt. Das gilt für seine Zeit am Ballhausplatz, natürlich für die Affäre Sixtus und die Jahre nach 1918, aber auch für die Zeit in Rumänien, über die wir bislang so gut wie gar nichts wissen.

Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen

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