Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 7

ERSTER TEIL 1

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Die Sucht, die ihm noch in den Adern wohnte, wollte ruhiggestellt werden. Er versuchte, es sich als Belohnung zu verkaufen, dass er es endlich tun würde. Dass er seinen Mut zusammennehmen, zu Fiona gehen, ihr sagen würde, wie sehr er sie liebte. Nein. Nochmal. Wie er sie begehrte. Auch nicht. Brauchte. Er würde sie umarmen, ihren Duft einatmen und sie mitnehmen. Das war der Plan. Wenn, geiferte die Sucht in ihm, du das hinkriegst. Schaffst es eh wieder nicht. Und falls doch – wäre das nicht ein schöner Grund, die rote Schachtel Gauloises, die da in der Küchenschublade …

Nur der Sprung aus dem Bett konnte die Vollendung des Gedankens verhindern. Max stieg in die Filzpantoffel, griff den rot-weiß gestreiften Schlafrock und stürmte, die Bewegung, mit der er den Schlüssel im Vorbeifliegen von der Wand pflückte, war ihm längst zur zweiten Natur geworden, aus der Wohnung. Kalte Feuchtigkeit stieg das Treppenhaus hinauf. Sie staute sich in der kleinen Kammer auf dem Absatz. Max verbot sich, etwas anderes zu denken als die Tageslosung. Heute. Fiona. Ausrede keine.

Erleichtert sprang er die halbe Treppe in drei Sätzen hinauf, hängte den Schlüssel an den Nagel und machte sich daran, den Ofen einzuheizen. Dass er sich dabei in seiner zweiten Berliner Saison immer noch so ungeschickt anstellte, ärgerte ihn maßlos. Im Chor mit den anderen Ofenheizern verbreitete er die idiotische Mär, Kachelöfen würden diese besonders schöne Wärme abgeben, die alle Mühe wettmache. Dabei hätte er das Ding jeden Morgen zusammenschlagen können. Erst recht, seit er nicht mehr rauchte. Er zischte rhythmisch mehrmals Scheiße. Das half immer ein bisschen. Außerdem war er überzeugt, dass der neongrüne Anzünder zwischen seinen Fingern ihn auf die Dauer ernsthaft vergiftete.

Er hätte anrufen sollen. Aber vormittags rief Max damals niemanden an. Er floh vor der Kälte in die Küche. Dort war unter dem Fenster ein einfacher Gasofen installiert. Bevor Max in die Duschkabine steigen konnte, die zwischen Herd und Waschbecken stand wie eine ausgemusterte Telefonzelle, musste er warten, bis sich das Wasser aufgeheizt hatte. Das dauerte genau eine Zigarette lang. Er setzte die Kaffeemaschine in Gang und meinte, den süßen Schwindel des ersten morgendlichen Zugs zu spüren. Beim Zähneputzen war ihm, als kratze er Nikotin von der pelzigen Zunge. Er stellte sich unter den schwachen Wasserstrahl, der sich nur mit viel Feingefühl im Umgang mit dem Plastikregler auf eine akzeptable Temperatur festlegen ließ. Fast wach, einen Becher Kaffee in der Hand, ging er ins Zimmer, zog sich an und kontrollierte den Ofen. Der war aus.

Eine stechende Mixtur giftiger Flüssigkeiten kroch die Blutbahnen langsam aufwärts, nistete sich als schwindelnder Druck unter der Schädeldecke ein. Max warf die eiserne Ofentür zu. Als Echo kam ein dumpfes Geräusch zurück. Aus Verachtung unterließ er jeden weiteren Versuch und zog einen zweiten Pullover über.

Max wärmte die Hände am Kaffeebecher. Die heiße Flüssigkeit schmeichelte der nikotinentwöhnten Kehle. Er trat ans rechte der beiden Fenster. Er sah durch die kahle Krone der Hofkastanie hindurch die Brandmauer, auf die er schon so oft eine glückliche Zukunft projiziert hatte. Auf dem Dielenboden stand das blaue Plastiktelefon mit den schwarzen Tastenwürfeln. Die Nummer hätte er auswendig gewusst. Er nahm nicht wahr, wie der Vormittag verging, der Mittag, dann der Nachmittag. Am Ende war es nach Mitternacht, als er den grauen Mantel aus dem Secondhandladen anzog, in dem man die Kleider nach Kilogramm bezahlte. Er stieg die mit lindgrünem Linoleum belegten Treppenstufen hinunter und durchquerte den stillen, dunklen Hof. Draußen hielt er sich links. Die lange, gerade Straße dort unten führte unter einer Reihe von gusseisernen Brücken hindurch zu Fiona. Es war nicht weit. Aber er kam nie an.

Es fühlte sich an wie ein Traum, nicht einmal ein angenehmer. Es war die mangelnde Übereinstimmung mit dem Gewohnten, vielleicht auch das gedrosselte Tempo. Da waren Menschen, überall. Ein fremder, beißender Geruch lag auf der Szene.

Über dem träg fließenden Menschenstrom prangten in weißen Lettern weithin sichtbar die Schriftzüge Felix Teichgräber Combo und Sei immer auf dem Hut. Jemand musste beides kopfüber auf die erste der Brücken gemalt haben. Und niemand machte sich die Mühe, die Schriftzüge wieder zu entfernen. Die Brücken spannten sich über den Weg zu Fiona. Für gewöhnlich fuhren hier abends lediglich vereinzelt Autos mit überhöhter Geschwindigkeit. In dieser Nacht aber zog sich sämig ein nicht endender Fahrzeugkonvoi unter der Felix Teichgräber Combo Richtung Fiona. Auf den Trottoirs, auch auf der Fahrbahn, ungefährdet, weil es kaum Bewegung gab, quoll es. Fremde Menschen umarmten einander. Manchmal erwischte es auch ihn. Die Masse schien in die Richtung zu fließen, in die er hatte gehen wollen. Wie Meereswellen können aber auch sehr viele Menschen eine Art Unterstrom entwickeln, der Einzelne zurückwirft. Zumindest kam Max nicht voran. Selbst angesichts der Ausgelassenheit um ihn herum gab er seine Zurückhaltung Fremden gegenüber nicht auf. Er fragte nicht, was los sei. Die Fäuste in den Taschen, den Oberkörper nach vorn gebeugt, stemmte er sich wie gegen einen Sturm. Noch bevor er die erste Brücke erreicht hatte, gab er auf und, so zumindest war später die Erinnerung, ließ sich zurückspulen. Mit gesenktem Kopf stieg er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Der Stolz, in diesem Moment nicht geraucht zu haben, sollte ihm für immer bleiben.

Als die Stille nicht mehr auszuhalten war, schaltete er den Fernseher ein, ein winziger Apparat mit Zimmerantenne und entsprechend unzuverlässigem Empfang. Er sah in Schwarz-Weiß, was er gerade auf der Straße erlebt hatte. Es dauerte Minuten, bis ihn erreichte, was da in sein Zimmer übertragen wurde. Die Mauer war gefallen. An diesem Tag, er schämte sich des Gedankens erst später, rissen sie sogar die Mauer ein, um ihn aufzuhalten.

Als er wieder draußen stand, waren auch die Nebenstraßen geflutet. Auf dem Fahrdamm bewegte sich im Schneckentempo eine endlose Reihe von Wartburgs und Trabants, gehüllt in Schwaden süßlichen Gestanks. Max fühlte sich falsch. Da war kein Unterschied zu den Bildern im Fernseher. Nur lauter war es. Und der Gestank. Die Freunde hatten einer nach dem anderen angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen. Ob er mit auf den Ku’damm käme. Da sei sonst was los. Oder zur Bornholmer oder zur Warschauer oder zur Invalidenstraße. Pauls Stimme hatte sich überschlagen. Max lehnte an der dunkelgrün gestrichenen Haustür, klemmte im Eingang, als hätte er sich zu verstecken. Er dachte an Boris, den einzigen seiner Freunde, der regelmäßig nach Ost-Berlin fuhr, und an das kleine geheime Depot unter seiner Matratze. Boris hatte nicht angerufen.

Zweimal waren sie in seine Wohnung eingebrochen. Beim ersten Mal dachte er noch, es sei ein Junkie auf der Suche nach etwas Verwertbarem gewesen. Beim zweiten Mal war klar, was sie suchten, weil sie es fanden. Sie waren hinter den Zeitschriften von Boris her. Der hatte Freunde im Osten. Die Zeitschriften stammten aus dem literarischen Untergrund am Prenzlauer Berg, 1900 und so. Boris schmuggelte sie in den Westen. Da er die Stasi fürchtete, was Max für Hysterie hielt, teilte er die Trophäen in kleine Stapel auf, die er bei Freunden deponierte. Obwohl sie sie da gefunden hatten, steckte Max sie weiter unter die Matratze. Er hätte nicht gewusst, wohin sonst. Seine Wohnung, sein Leben überhaupt, war so schrecklich übersichtlich.

Irgendwann löste sich dieser Mann aus der Menge. Er hatte einen Hut tief ins Gesicht gezogen. Die Hände steckten in den Taschen eines hellen Mantels.

»Ottokar von Andersleben?«

Das ungeschützte »Ja« war der Überraschung geschuldet Schließlich kannte kaum jemand seinen richtigen Vornamen. Seit er denken konnte, hatte er sich dagegen gewehrt. Er hatte es kurz mit Otto versucht, aber das war kaum besser. Die Familie bestand darauf, ihn Kary nennen zu wollen, wogegen er sich heftig und irgendwann mit Erfolg verwahrte. Er wusste nicht mehr, wie er auf Max gekommen war. Für ihn war Max das Gegenteil von Ottokar. Die drei Silben klangen in seinen Ohren wie ein schweres Echo aus einer düsteren Zeit. Und Max wollte leben, jetzt.

Auf das »Ja« hin zog der Fremde eine Hand aus der Manteltasche, darin ein Briefumschlag.

»Passen Sie gut darauf auf. Sie werden ihn suchen.«

Der Dialekt passte nicht nach Berlin. Max betrachtete das Kuvert in seiner Hand, raues DDR-Papier. Als er wieder aufsah, hatte die Menge den hellen Mantel schon wieder verschluckt. Kein Hut weit und breit. Trugen sie im Osten keine Hüte?

Der Umschlag war nur zugesteckt, nicht geklebt. Max spürte etwas Hartes. Ein Schlüssel, klein und flach, blauschwarz beschlagen. Die Räute war grob gearbeitet, ohne Loch. Sie bildete eine Art Trapez. Der Schlüssel hatte zwei Bärte. Max stand da und sah der schwellenden Menge zu. Er überprüfte, ob außer dem Schlüssel nichts in dem Umschlag war, keinerlei Nachricht, und ließ ihn fallen. Den Schlüssel steckte er in sein Portemonnaie. Da rief jemand in der Menge, an einem der Grenzübergänge werde geschossen.

Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen

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