Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 9

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Zugfahrten dauern zu lang, ganz egal, wie lang sie dauern. Trotzdem war klar, dass er fahren würde. Großmama hatte so anders geklungen. Da lag etwas in der Luft. Der Körper begreift das vor dem Verstand.

Ist es dringend? Ja.

Wichtig?

Ja.

Und so saß er im Zug von Berlin an den Bodensee, wobei man auf der Transitstrecke durch die DDR besonders mühsam nicht vorankam. Es war ja nicht mehr Transit, weil nicht mehr die DDR, offiziell, seit einem halben Jahr. Aber natürlich war es immer noch Transit. So schnell ging das nicht. Von wegen Jetzt wächst zusammn, was zusammengehört. Was heißt das schon, zusammengehören? Es kommt vor, dass Länder auseinanderfallen oder sich neu zusammensetzen. Man nennt das Geschichte. In Jugoslawien fing es gerade an. Da ging es extrem grausam zu. Finsterste Tragödie war das. Da sperrten Christen Moslems in Moscheen und Moslems Christen in Kirchen und sprengten sie in die Luft. Verglichen damit war der Mauerfall eineinhalb Jahre zuvor, kein Schuss war gefallen, fast schon eine Farce gewesen. Deutschland war inzwischen vereinigt. Fiona und Max waren es nicht.

»Es gibt alles immer zweimal«, pflegte Großmama zu sagen, »einmal als Tragödie und einmal als Farce.« Wahrscheinlich wusste sie nicht, dass das Marx war. Für Max war es eh Großmamas Regel. »Unser Leben war die Tragödie«, fügte sie gern hinzu, »eures ist die Farce.« Dabei lachte sie ihr warmes Lachen.

Sie waren beide die Jüngsten. Wir zwei Jüngsten, das war die stehende Wendung, mit der sie ihre Verbundenheit beschworen. Sie wussten, wie es war, nur erzählt zu bekommen, was andere erlebt hatten. Den Letzten beißen die Hunde. Der Jüngste zu sein, war für Max eine Schlechtwetterwolke, die über ihm mit ihm zog. Nur wenn er Arm in Arm mit seiner Großmutter auf dem Kanapee saß, war es ein Glück.

Großmama war krank und blind. Seit Jahrzehnten wurde sie immer kränker, seit Jahren immer blinder. Ihr Körper beantwortete Abschiede mit schrittweisem Rückzug. In letzter Zeit verstanden die Ärzte ihren Körper immer weniger. Da stellte sie die Arztbesuche ein. Das galt auch für den Kirchgang. Dabei war sie ausgesprochen gläubig. Ihr Glaube war eine große heilige Melange aus Liebe und Zorn, vor der sich Priester ebenso in Acht zu nehmen hatten wie bigotte Tanten.

Das Taxi arbeitete sich die Kiesauffahrt zu dem Forsthaus am Waldrand hoch. Großpapa hatte es Anfang der Fünfziger im Stil der Zwanzigerjahre gebaut, als er nach der Flucht bei einem Cousin, der im Nachbardorf in einem Barockschloss residierte, die Stelle des gefallenen Forstmeisters antrat. Max bezahlte den Fahrer und drehte den schmiedeeisernen Knauf. Die hölzerne Tür war so gut wie nie abgeschlossen. Und wenn, lag der Schlüssel gleich links daneben im Rahmen des kleinen Speisekammerfensters. Das wusste jeder, der es wissen wollte. Im Flur hatte Max eine Erscheinung. Sie ließ ihn erschrocken zusammenzucken. Er nahm an, dass es sich bei der zerbrechlich zierlichen Dame mit graublondem, dauergewelltem Haar, die mit einem vollen Aschenbecher in der Hand durch den fensterlosen Raum huschte, um Fräulein von Grün handelte.

Großmama verbrachte ihre Tage auf einer Gartenliege, die mit aufgerichtetem Rückenteil im Salon vor dem Kamin aufgestellt war. Sie hatte dem Drängen ihrer Töchter nachgegeben, eine Betreuung im Haus zu dulden. Bedingung war, dass die Person Status und Bezeichnung einer Gesellschafterin erhielt. Wurden die Damen nicht von Großmamas energischer Ungeduld und der aus ihr resultierenden Ungerechtigkeit in die Flucht geschlagen, beschied sie jeweils nach kurzer Zeit, dass es besser sei, getrennte Wege zu gehen. Voller Verachtung weniger den Personen als ihrer Rolle gegenüber nannte Großmama die Damen kollektiv den Transit.

Fräulein von Grüns Stern war längst im Sinken begriffen. Ihr Äußeres war genau so, wie Großmama es beschrieb, obwohl sie sie nie gesehen hatte. Ob sie auch Vorzüge habe, hatte Max gefragt. Sie raucht, war die Antwort. Vor allem aber schien sie viel zu reden und das vorzugsweise über Gott und, schlimmer, über Jesus und Maria. Nehmt sie mir weg, drohte Großmama, sonst werd ich noch Atheistin.

»Bist du’s?«, hörte Max die immer leicht tremolierende Stimme durch offene Türen.

»Na, mein Lieber, wie war die Fahrt?«

»Lang.«

Goßmamas Lächeln verriet verständnisvolle Milde der Ungeduld, die die kurze Antwort zum Ausdruck brachte.

»Du siehst gut aus«, sagte Max, während er den seit je so vertrauten Geruch einsog.

»Das freut mich für dich«, gab sie zurück, und nach einer kurzen Pause, die den Effekt beider Pointen erhöhen sollte: »Im Gesicht fehlt mir ja auch nichts.«

Wie blinde Augen nicht nur strahlen, sondern ein Gegenüber sogar anstrahlen konnten, blieb Großmamas Geheimnis. Ihre Stimme war weich, ihr zielloser Blick ein Meer von Herzlichkeit, wenn sie lachte. Sie konnte auch scharf sein. Dann wurde sie spitz und eindimensional. War sie wirklich wütend, entfuhr ihr ein Himmeldonnerwetterparaplui! Dann war Deckung dringend geboten. Fast immer trug sie eine gemusterte Arbeitsschürze ohne Brustteil über dem Rock, wenig elegant, aber an Großmama sah sie aus wie das Accessoire zu einem teuren Dirndl. Die Schürze hatte zwei Taschen. In ihnen trug sie mit sich, was sie den Tag über brauchte. Pillen, Taschentücher, Kamm, Feuerzeug, eine Schachtel HB, manchmal einen Brief, aus dem sie sich vorlesen ließ.

Der Raum lag in beigem Halbdunkel. Max ging mit seiner Großmutter zum Kanapee hinüber, vor dem missproportioniert ein lederbezogener Tisch mit gekreuzten Holzbeinen stand, ein Erbstück aus einem großen Landhaus im Salzkammergut. Kaum saßen sie, griff Großmama in eine der Schürzentaschen. Max nahm ihr das Feuerzeug aus der Hand und führte es an die HB. Die fast volle Schachtel und das Feuerzeug legte er auf dem Ledertisch ab. Dann hakte er sich bei ihr unter und stieß mit dem linken Fuß den Tisch von sich, um mehr Platz für die Beine zu haben. Arm in Arm saßen sie da und schwiegen.

»Warum wolltest du, dass ich komme?«, fragte Max irgendwann.

Statt zu antworten, beugte sich Großmama vor, um die Zigarette in dem runden Zinkaschenbecher wieder auszudrücken, nach dem sie zuvor mit der linken Hand getastet hatte.

»Lass uns rübergehen. Du hast bestimmt Hunger.« Verschwörerisch die Stimme senkend fügte sie hinzu: »Ich habe den Transit gebeten, uns etwas hinzustellen. Kochen kann sie nicht. Aber etwas hinstellen, das wird sie vielleicht schaffen.«

Leichtfüßig glitt Großmama übers Parkett, die rechte Hand hüfthoch zum Schutz vor möglichen Hindernissen. Neben der Tür stand ein hölzerner Tisch mit geschwungenen Beinen, auf dem in unterschiedlichen Rahmen Fotos ihrer Enkelinnen und Enkel aufgereiht waren. Als Eingeweihter konnte man der Ordnung der Bilder entnehmen, welche von Großmamas Töchtern zuletzt zu Besuch war. Seit eine damit angefangen hatte, war es ihnen allen zur Gewohnheit geworden, jeweils die eigenen Kinder in die erste Reihe zu bugsieren. Max sah zahlreiche durchweg blonde Cousinen und Cousins, dazwischen zweimal sich selbst. Unter dem Tisch stand eine edle, offensichtlich ältere Aktentasche. Max hatte sie noch nie gesehen.

»Na, wer steht in der ersten Reihe?«

Sie glaubten alle, Großmama wisse nichts von der regelmäßigen Umgruppierung ihrer Enkel. Max war erleichtert. Es passte besser zu seinem Bild von ihr. Die Tasche war ein Fremdkörper. Wie war sie hierhergekommen? Ihm war gerade zum ersten Mal bewusst geworden, dass Großmama nicht sah und die Haustür nie abgeschlossen war. Jederzeit hätte ein Fremder hereinspazieren, die Enkel durcheinanderbringen, etwas mitnehmen oder auch etwas abstellen können.

Auf dem Esstisch standen zwei Gedecke, Brot, Wurst, Käse, ein paar Tomaten, eine halbe aufgeschnittene Gurke, ein Krug Milch. Max griff nach der langen Zugfahrt mit Appetit zu, während Großmama lustlos an einer Scheibe Graubrot kaute, auf der sich blass ein wenig Butter verlor. Essen langweilte sie.

»Ich möchte, dass du einige Dinge an dich nimmst.«

Der abrupte Einsatz war Max unangenehm.

»Sachen vom Papa.«

»Was für Sachen?«

»Weißt du noch, du hast einmal gesagt, wenn ich sterbe, möchtest du die metallene Kiste haben, die im Gastzimmer unterm Bett steht.«

»Nein. Das weiß ich nicht mehr.«

»Aber ich.«

»Was ist in der Kiste?«

»War.«

»War?«

»Ich habe sie nicht mehr.«

»Was war in der Kiste?«

»Papiere. Vom Papa. Sie sind verteilt worden. Aber das Wichtigste existiert ja eh nicht mehr.«

»Das Wichtigste?«

»Der Zettel.«

»Was für ein Zettel?«

»Das Ehrenwort. Wir haben es immer den Zettel genannt. Das sagt dir nichts, hm? Du kennst die Geschichte wirklich nicht?«

»Nicht wirklich, fürchte ich.«

Unscharf dämmerte ihm etwas. Von dem Zettel war immer mal wieder die Rede gewesen, mit gedämpften Stimmen, wie man von einem unehelichen Kind spricht oder von einer heimlichen Geliebten. Max hatte nie nach der Geschichte gefragt. Das Geraune unter Erwachsenen war ihm unangenehm gewesen. Großmama atmete so tief durch, wie ihre geschundenen Lungen es zuließen.

»Du weißt, dass dein Urgroßvater eine der umstrittensten Persönlichkeiten seiner Zeit war?«

»Nein.«

»Er war Außenminister beim letzten Kaiser von Österreich.«

»Das weiß ich. Der letzte Außenminister der Monarchie, oder?«

»Na ja, nicht ganz, aber fast. Bald nachdem er gestürzt war, war es auch mit der Monarchie vorbei. Er ist über eine Affäre gestürzt.«

»Mit einer Frau?«

»Nein.«

»Mit einem Mann?«

»Ich bitte dich. Eine politische Affäre. Sie nennen sie die Sixtus-Affäre, Es war eine Tragödie. Furchtbare Missverständnisse. Am Ende stand der Papa gegen den Kaiser. Und gegen die Kaiserin. Das vor allem. Der Papa gegen die Kaiserin, die Kaiserin gegen den Papa. Dabei ging es immer nur um das Eine.«

»Um das Eine?«

»Frieden.«

»Ach so.«

»Der Zettel war der Beweis, dass Papa im Recht war. Ein falsches Ehrenwort.«

»Wer hat ein falsches Ehrenwort gegeben?«

»Der Kaiser.«

»Wem?«

»Dem Papa.«

»Oh.« Und was habe ich damit zu tun? Das hatte Max fragen wollen. Heraus kam: »Wo ist der Zettel jetzt?«

»Sie haben ihn bekommen. Sie werden ihn verbrannt haben.«

Großmama war ernst und fremd.

»Moment mal«, versuchte es Max, »ganz langsam. Wer sind sie?«

»Es gibt Papiere. Ich habe sie nie gesehen. Aber ich glaube, sie sind hinter ihnen her.«

»Großmama, es ist nicht ganz einfach, dir zu folgen.«

Max wollte verstehen, damit es vorbei wäre.

»Sie nennen ihn den Totengräber der Monarchie.«

»Wer?«

»Sie hassen ihn.« Großmama streckte den Rücken durch. »Dabei steht ganz außer Frage, dass Papa bis zu seinem letzten Atemzug Monarchist war. Unsere Familie hat seit dem Rudolf von Habsburg dem Kaiserhaus gedient. Die Initialen der böhmischen Kaiser zieren unser Wappen. Und niemand, am allerwenigsten der Papa, wäre auf die Idee gekommen, dem Kaiserhaus untreu zu werden. Dass das Ende seiner Karriere von furchtbaren Irrtümern und Missverständnissen bestimmt war, war ihm die größte Qual.«

Sie machte eine lange Pause, bevor sie weitersprach.

»Papa starb ganz plötzlich. Er bestand darauf, dass ich, obwohl ich noch zu jung war, in der Faschingssaison in die Gesellschaft eingeführt werde. Im April war er tot. Davor hat er mir Kuverts gegeben. Ich solle sie aufheben. Warum ich?, habe ich gefragt. Frag nicht, hat er gesagt. Ich habe die Sachen nicht angeschaut. Ich dachte, ich hätte viel Zeit. Es war ja eh alles verloren.«

Max war, als hörte er im Nebenraum ein Geräusch.

»Ich habe die Sachen in Papas Aktentasche gesteckt. Dabei habe ich gesehen, dass irgendwelche Papiere vom Thronfolger Franz Ferdinand dabei waren. Papa hatte diese schöne Aktentasche. Er hat sie fast immer bei sich gehabt. Einmal ist er mit ihr sogar in die Berge gestiegen. Ich habe gefragt, Papa, warum nimmst du die Tasche mit auf den Berg? Er hat getan, als habe er es nicht gehört. Als wir dann fliehen mussten, fünfundvierzig, da habe ich die Tasche völlig vergessen. Wir hatten solche Angst. Ganz idiotisch waren wir aus Angst vor den Russen. Da gehen einem die blödesten Sachen im Kopf herum.«

»Sie steht drüben.«

»Ja.«

»Woher hast du sie?«

Großmama spielte mit dem angekauten Stück Brot, als erwäge sie, ihm noch eine Chance zu geben. Dann ließ sie es auf den Teller fallen, den sie beiseiteschob. Sie stützte die Ellenbogen auf die Tischkante, verschränkte die Hände und legte das Kinn darauf. Sie atmete geräuschvoll ein, stockend aus.

»Kaiser Karl soll demnächst wieder einmal seliggesprochen werden«, stieß sie hervor.

Max wurde immer ratloser. Je mehr sie sagte, desto weniger verstand er. Da war eine Kiste, die nicht mehr da war, ein Zettel, den jemand verbrannt hatte, eine verlorene Tasche, die wieder aufgetaucht war, eine Affäre, in die sein Urgroßvater verwickelt gewesen sein sollte. Und jetzt sollte ein Kaiser seliggesprochen werden, wieder mal.

»Es gibt Leute«, fuhr Großmama fort, »einflussreiche Leute, die wollen das. Lange schon. Erst muss er seliggesprochen werden, dann kann er ein Heiliger werden. Und das wollen sie. Es wird bald so weit sein. Deswegen sind sie wieder aktiv.«

»Wer? Wer will das?«

»Verehrer. Anhänger der Dynastie. Die Familie. Die Kaiser-Karl-Gebetsliga.«

»Die was?« Max wollte lachen, mit vollem Mund wurde eine Art Prusten daraus.

»Lach nicht. Das sind ehrenwerte Leute. Diese Menschen glauben an das, was sie tun. Und die Nazis haben sie ins KZ gesteckt.«

»War dieser Kaiser Karl so fromm? Ist das nicht absurd?«

»Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Und dir schon gar nicht. Es geht nicht darum, wie die Heiligen gelebt haben. Die Frage ist einzig und allein, ob Gott durch einen Menschen auf der Erde wirkt. Das erkennt man daran, dass das Beten zu ihm erhört wird. Das ist ein Heiliger. Nur das. Bei Kaiser Karl war es schon einmal so weit. Kurz davor war es. Das war 1950. Dem Vatikan ist der Lebenswandel der Heiligen egal. Den Gläubigen aber nicht. Die wollen die reine Weste. Da glaubt sich’s besser. Wir beten halt lieber zu Heiligen, die so gelebt haben, wie wir es selbst nicht schaffen. So ist sie, die arme kleine Menschenseele. Der Zettel war ein Makel, ein Fleck auf der Weste. Deswegen haben sie ihn gewollt. Und sie haben ihn bekommen.«

»Wie?«

»Sie sind stark. Sie bekommen, was sie wollen.«

»Wer sind sie?«

»Ich weiß es nicht. Es sind andere als damals. Ich kenne sie nicht. Aber ich spüre sie. Als seien sie hier gewesen.«

Quälend langsam breitete sich Gänsehaut über Max’ Körper aus.

»Vor zwei Wochen hat mich der Bürgermeister der Gemeinde besucht, in der unser Schloss steht. Es ist ja nicht klar, ob uns der große, am Ende doch auch ein bisschen elende Kasten nicht vielleicht wieder gehören wird. Übermorgen entscheidet das Gericht, ob die Enteignungen rückgängig gemacht werden. Ich weiß nicht, ob du das mitbekommen hast. Vielleicht bleibt ja auch alles, wie es ist. Es ist nicht gut, wie es ist. Aber vielleicht ist es gut, wenn es bleibt, wie es ist. Der Bürgermeister hat mich gefragt, ob die Dachrinnen am Schloss hergerichtet werden sollen. Der Rührende. Ich habe gelacht und gesagt, guter Mann, ich fürchte, das werden nicht wir entscheiden. Und sicher werden wir es nicht bezahlen, weil wir das gar nicht können. Er hat die Tasche mitgebracht. Er hat sie gefunden. Im Schloss ist seit vierzig Jahren das Bürgermeisteramt. Da hat hinter einem Schrank die Tasche gelegen. Jemand muss sie dort versteckt haben. Ich war es nicht. Glaube ich zumindest. Soweit er hat sehen können, habe das, was drin ist, mit dem Ort nichts zu tun. Da hat er sie mitgebracht. Ich habe sie befühlt und gleich wiedererkannt. Aber ich werde nie sehen, was für Papiere Papa mir gegeben hat.«

»Warte einen Moment.«

Es war einfach größer als er. Wie ferngesteuert stand Max auf, ging in den Salon hinüber, griff nach dem Aschenbecher, der Zigarettenschachtel und dem Feuerzeug. Auf dem Rückweg zögerte er kurz vor der Tür. Etwas Starkes hinderte ihn daran, nach der Tasche zu greifen. Zurück am Tisch, stellte er den Aschenbecher zwischen Großmama und sich und schob seinen Teller beiseite.

»Hier, der Aschenbecher. Ich darf doch, oder?«

»Du rauchst wieder?«

»Schon lang. «

Aufwühlend das Gefühl, nach zwei Jahren wieder den von dünnem Papier fest umwickelten Tabak vorsichtig zwischen die Rauchfingerspitzen der rechten Hand zu klemmen, die gierig erkannten, dass es nach all den Grissini, Stiften und Streichhölzern wieder ernst war, und ein neurales Trommelfeuer Richtung Gehirn abschossen. Bei geschlossenen Augen rauschte der erste Zug durchs System. Max spürte Adern, die zwei Jahre brachgelegen zu haben schienen. Als würden all die Tunnel, die die schlechte Laune in den Körper und die Seele gräbt, mit etwas Großem, Warmem, Schönem ausgefüllt. Den ersten Zug kriegst du nie wieder, dachte er, während der Körper von der giftigen Wärme durchschwemmt wurde.

»Nimmst du die Tasche mit?«

»Warum ich?« Ihm war schwindelig.

»Das hast du schon gefragt.« Großmamas blinder Blick war missmutig, dann mit einiger Mühe wieder liebenswürdig, blieb aber voller Ungeduld. Die Zweite zog Max schon wieder ganz routiniert aus der Packung. Der Schwindel ließ nicht nach, begann aber, sich angenehm anzufühlen.

»Wir zwei Jüngsten …« Der zärtlich verschwörerische Ton misslang.

»Ja schon …«, entfuhr es Max. Er hustete.

»Das ist es nicht. Es gibt eine echte Verbindung. Ich habe sie auch lange nicht gesehen. Aber wenn man nichts mehr sieht, dann sieht man solche Dinge. Vielleicht muss man auch einfach nur alt werden. Aber bitte.«

Max zuckte zusammen. Von allen rhetorischen Waffen in Großmamas gut ausgestattetem Arsenal war dieses giftgeschwängerte Aber bitte die schärfste, die aufs Äußerste verknappte Drohung mit dem Bruch.

»Es ist halt praktischer, wenn du sie jetzt nimmst. Und es wäre mir auch lieber. Aber natürlich musst du nicht.«

Der Ärger, dem es nicht recht gelang, sich zu formieren, führte eine verzweifelte Abwehrschlacht, ohne zu wissen, wer der Feind war und wo er stand.

Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen

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