Читать книгу Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen - Hans von Trotha - Страница 15

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»Immer wieder werde ich nach den geheimen Plänen und Zielen von Papa gefragt. Ich glaube, sie haben nicht existiert. In einer Zeitung aus dem Ersten Weltkrieg, an die ich zufällig geraten bin, stand: Czernin hat sicherlich manchmal geirrt, aber niemals gelogen. Das ist ein großes, weises Wort. Denn Papa war vollkommen aufrichtig. Für ihn war Lüge die Hauptsünde. Das haben wir Kinder oft genug zu spüren bekommen.

Im Jahr 1950, als es die ersten Bestrebungen zur Seligsprechung Kaiser Karls gab, sollten wir das schriftliche Ehrenwort des Kaisers herausgeben. Wir haben das dann auch getan. Ich habe es oft genug gesehen, könnte zu jeder Stunde bezeugen, dass es existiert hat, ebenso wie meine Mutter, meine Geschwister und wohl auch einige alte Freunde von Papa. Aber die leben nicht mehr. Und der einzige geschichtliche Beweis über den Verlauf der Dinge existiert nicht mehr. Schwere Zeiten fordern eben ihre Opfer. Und Papa war ganz bestimmt eines der ihren.«

Großmama bewegte die Schultern, als wolle sie eine Verspannung lösen. Die Finger ihrer rechten Hand bedeuteten Max, dass sie rauchen wollte. Er gab ihr Feuer, sich auch. Da entfuhr Großmama noch dieser eine Satz:

»Vor einigen Jahren, ja, es ist schon eine ganze Weile her, da hatte ich in Vaduz ein längeres Gespräch mit der Kaiserin.«

Max hustete. Sein Oberkörper schnellte hoch. So spitz ragte die Geschichte in die Gegenwart. Jetzt kamen die Antworten auf all die Fragen, die er nicht gestellt hatte. Und Großmama ließ es nebenbei fallen, als rede sie vom Wetter.

Die Kaiserin, Zita, war damals gerade zwei Jahre tot. Fast siebenundneunzig Jahre ist sie alt geworden. Da ist ein Jahrhundert zu Ende gegangen in diesem Jahr 1989. Erst starb Zita, dann fiel die Mauer. Und dann kam die Geschichte wieder in Gang, gemächlich erst, wie eine rostige Landwirtschaftsmaschine, die nach langer Pause wieder in Betrieb genommen werden soll. Ist die Geschichte aber erst einmal in Fahrt, macht sie keine Gefangenen. Manche hat sie damals regelrecht überrollt. Als Max bei Großmama saß, konnte er noch nicht wissen, dass er einer von ihnen sein würde.

Zitas Tod war ein Ereignis. Sogar bei Großmama hatten damals welche angerufen, um ihr zu kondolieren, ausgerechnet ihr. Aber es war halt lang her. Und da können schon mal die Konturen verwischen.

Lange hatte Zita nicht nach Österreich gedurft. Karl hat nie auf den Thron verzichtet. Und Zita mochte es bis zum Schluss gar nicht, wenn man sie Exkaiserin nannte. Karl hat aus dem Schweizer Exil zweimal versucht, sich wenigstens den ungarischen Thron zurückzuholen. Da haben sie ihn nach Madeira verbannt. Wie bei Napoleon, den mussten sie auch immer weiter weg verbannen, bis er endlich Ruhe gab. Tragödie und Farce. Keiner hatte sie gewollt. Sie hatten kein Geld und acht Kinder. Die Jüngste wurde im Mai 1922 geboren. Da war der Vater gerade gestorben, an Entkräftung, und die Kaiser-Karl-Gebetsliga betete schon.

Das ganz große Schauspiel mochte sich die Republik aber dann doch nicht entgehen lassen, als zum letzten Mal eine Kaiserin starb. Nur der Bundeskanzler blieb weg. Seine Minister und der Präsident saßen in der ersten Reihe im Stephansdom. Das letzte Kaiserbegräbnis war 1916 gewesen, dann noch dieses eine Mal, am l. April 1989. Der kaiserliche Trauerwagen, sieben Jahrzehnte ungenutzt in der Schönbrunner Remise, frisch poliert, fuhr, von sechs Rappen gezogen, vom Stephansdom zur Kapuzinerkirche, zur Gruft wie 1916.

Zita war auch blind. Wahrscheinlich haben die beiden blinden Frauen für einen Moment die Wahrheit gesehen, als sie sich noch einmal begegneten. Und jetzt wollte Großmama sie an Max weitergeben.

»Du hattest ein Gespräch mit der Kaiserin?«

Großmama schien in dem Maß von aller Energie verlassen, in dem Max unter Strom geriet. Sie ließ die Schultern hängen und drückte ihre Zigarette aus.

»Ja«, stöhnte sie mehr, als dass sie es gesagt hätte, sie war kreidebleich, »aber lass mich jetzt schlafen gehen. Bitte. Ich bin todmüde.«

Für den kurzen Weg zur Treppe hakte sie sich bei Max unter.

»Arm in Arm mit dir, so fordr’ ich mein Jahrhundert in die Schranken.«

War das Schiller? Wallenstein. Oder doch Goethe? Für Max war es eh Großmama.

Er räumte den Esstisch ab, nahm die Zigaretten, leerte den Aschenbecher, stellte das Geschirr in die Spülmaschine, löschte die Lichter und zog sich in das kleine Gästezimmer im Erdgeschoss zurück, darin das hochbeinige Bett, unter dem die Kiste gestanden hatte, die er sich gewünscht haben soll. Er stellte sich ans Fenster und rauchte in die Nacht. Max sah in die düstere Idylle, suchte den nahen Waldrand, fand den Schuppen, der sich schwarz vor dem dunkelgrauen Himmel abzeichnete. Er dachte an Fiona, Er wollte sie küssen, mit ihr schlafen, ihr nah sein und dann, frei, glücklich, bei der ersten Zigarette danach, von Großmama erzählen. Und irgendwann vielleicht von Ottokar, dem Urgroßvater, und von seinem Zettel. Aber Fiona war nicht da.

Czernin oder wie ich lernte, den Ersten Weltkrieg zu verstehen

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